[878] Kiautschou (hierzu Karte »Kiautschoubucht mit Tsingtau«), deutsches Pachtgebiet in der chines. Provinz Schantung, benannt nach der Kiautschoubucht und der früher an dieser belegenen, jetzt ganz verlandeten und unansehnlich gewordenen Stadt K. (»Leimstadt« nach dem Kiauhŏ, »Leimfluß«), umfaßt 515 qkm und hat 84,000 Einw. Das Pachtgebiet erstreckt sich hauptsächlich auf die beiden nach SW., bez. NO. gerichteten Halbinseln, die den Eingang in die 33 km lange, 26 km breite und etwa 550 qkm große Kiautschoubucht flankieren, und auf die der Bucht vor- und eingelagerten Inseln sowie endlich auf einen schmalen, um die Bucht laufenden Landstreifen, der die beiden auf den Halbinseln gelegenen Bezirke miteinander verbindet. Die Grenzlinien wurden durch eine deutsch-chinesische Kommission festgelegt, die ihre Arbeiten 10. Okt. 1898 beendete. Nach dem Lande zu wird das Pachtgebiet von einer neutralen Zone zu 50 km Breite umschlossen, einschließlich derer das Gebiet eine Fläche von 7100 qkm besitzt; in der neutralen Zone bedarf China für jede Maßnahme der deutschen Zustimmung. Die Kiautschoubucht liegt auf der südöstlichen Seite der Halbinsel Schantung, wo diese an den Rumpf des Festlandes ansetzt. Von den zahlreichen der fast genau nach O. gerichteten Einfahrt vorgelagerten sämtlich zum Pachtgebiet gehörigen Rissen und Inseln sind die wichtigsten Tai-kungtau und Tschu-tscha-tau (Round Island); weiter ab liegen die Inseln Fu-tau vor dem Eingang des Lauschan-Hafens auf der Südseite der östlichen Halbinsel und die erheblich größere Insel Tolo-schan (Schuiling-schan) südlich der westlichen Halbinsel. Innerhalb der Einfahrt liegt die niedrige Insel Tschi-posan oder Hwang-tau, im nördlichen Teil der Bucht die große Insel Yin-tau (Kartoffelinsel) Der randliche Teil der Bucht ist stark versandet, so daß weite Strecken bei Ebbe trocken gelegt werden und die beiden letztgenannten Inseln fast schon verlandet sind. Die Bucht friert selbst in strengen Wintern nur in den flachen, für Seeschiffahrt unwichtigen Teilen zu. Die Einfahrt ist 3,4 km breit, 2440 m tief und bietet gute Ankerplätze mit 1220 m Tiefe. Von den auf die beiden Halbinseln beiderseits entfallenden Bezirken des Pachtgebiets ist der auf der östlichen Seite, an dessen Spitze sich der Hauptort Tsingtau befindet, der größere. Die am weitesten gegen die Einfahrt vorspringenden Punkte der Halbinseln sind[878] die Landzunge an der Iltisbucht auf der östlichen und das Kap Jäschke (Kap Evelyn) auf der westlichen Seite. Die größere östliche Halbinsel ist verhältnismäßig wenig gegliedert, während in die westliche von N. die Hai-hsi-Bucht und von S. die Arkona-See tief einschneiden.
Während im Hintergrund der Kiautschoubucht eine niedere Wattenlandschaft vorherrscht, ist das Gebiet der Halbinseln durchaus gebirgig. In geologischer Hinsicht nimmt K. am Aufbau des östlichen Schantung teil, besteht also hauptsächlich aus stark gefaltetem Urgebirge (Gneis, Glimmer, Schiefer und Granit), ungleichförmig überlagert von seltenern, gleichfalls gefalteten Quarzsandsteinen, tonigen und kalkigen Schichten der Sinischen (Kambrischen) Formation. (Vgl. Blatt Schantung in v. Richthofens »Atlas von China« und das Weitere im Art. »Schantung«). Die höchste Erhebung im Pachtgebiet ist der Lauschan (1130 m) an der Ostgrenze des östlichen Teils, weiter westlich der Tung-liu-shan (bis 600 m); der Süden der östlichen Halbinsel wird begleitet von O. nach W. vom Kaiserstuhl (399 m), Prinz Heinrich-Berg (330 m), Iltis-Berg (151 m) und Bismarck-Berg (132 m). Die westliche Halbinsel hat Höhen bis zu 166 m. Die Insel Tolo-schan erhebt sich bis 507, Tschi-po-san bis 55, Yintau bis 54 m. Die Bewässerung ist ausreichend, wenn auch auf den Halbinseln zur Entwickelung größerer Flüsse kein Raum ist. Der von N. in die Kiautschoubucht mündende Kiauhŏ erhält zahlreiche Zuflüsse von N.
Das Klima ist im ganzen gesund, obgleich die Temperaturgegensätze im Sommer und Winter noch recht erheblich sind. Im Winter fällt das Thermometer bis -7,5°, Schneefall ist selten und schwach; starke Nordwinde führen häufig große Staubmassen mit sich. Im Sommer steigt die Temperatur auf 30° und darüber. Die Hauptregenzeit fällt in den Juli und scheint oft recht heftig einzusetzen. In den heißen Monaten sind Epidemien von Darmkatarrh, Malaria, Typhus eingetreten, die jedoch im Pachtgebiet in den letzten Jahren bereits eine erfreuliche Abnahme gezeigt haben. Die Tierwelt ist durch Säugetiere spärlich vertreten; neben dem einzigen Jagdtier, einem kleinen Hafen, kommen Dachse, Füchse und Marder vor. Im Lauschan leben Steinhühner, außerdem wird die Umgebung der Kiautschoubucht im Frühjahr und Herbst von großen Zugvögelscharen (Schnepfen, Wachteln, wilde Tauben, Enten, Gänse, Reiher, Kraniche) aufgesucht. Die Pflanzenwelt ist die des nördlichen China. Wie dort überall, fehlen die Wälder bis auf spärliche Bestände von Zwergkiefern und außer der Bepflanzung an den Straßen (Pappeln, Sophora japonica, Dryandra cordipholia u. a.) und an Tempeln und Gräbern (Tannen und Eichen). Die deutsche Verwaltung ist mit der Aufforstung des Pachtgebiets vorgegangen, die durch Waldbrände und Insekten behindert wird, aber doch günstige Fortschritte macht und namentlich für die Bindung der Feuchtigkeit, auch für die Ansiedelung von Vögeln bedeutsam ist. Nutzbare Mineralien finden sich erst in der weitern Umgebung von K. (vgl. Schantung). Die chinesische Bevölkerung ist gutartig und auch im Dienst der Europäer arbeitswillig. Die Ernährung wird hauptsächlich durch Ackerbau und Fischfang vermittelt. Die Viehzucht beschränkt sich auf die für die Europäer nicht genießbaren Schweine, weshalb eine Zufuhr von Rindern und Schafen aus dem Orient notwendig ist. Von Nutzpflanzen werden angebaut: Weizen, Gerste, Mais, Reis, Hirse, Buchweizen, Bohnen, Erbsen, Zwiebeln, Senf, Sesam, süße Kartoffeln, Erdnüsse, eine große Zahl von Gemüsen, Hanf, viele Obstsorten, auch Walnüsse, Kastanien, Zitronen, Datteln und Wein. Die chinesische Industrie besteht außerdem aus der Gewinnung von Salz (aus dem Meerwasser) und der Herstellung von Strohborte, Bohnenkuchen, Rohseide, Seidenzeugen etc., ferner ein Betrieb von Ziegelöfen, Kalkbrennereien, Steinbrüchen. Die Zucht der Seidenraupe geschieht in Ermangelung von Maulbeerbäumen auf Eichen (z. B. im Lauschan). Eine deutsche Gesellschaft bemüht sich um eine Verfeinerung der dadurch gewonnenen (Tussah-) Seide. Von Europäern sind bisher vier Dampfziegeleien und eine Brauerei angelegt und verschiedene chinesische Gewerbe gefördert worden.
Die Verkehrsverhältnisse erfahren eine allmähliche Umgestaltung. Die Wege nach O. hin über die Gebirgsrücken sind noch recht mangelhaft, aber trotz der schwierigen Pässe für Lasttiere brauchbar. Die Schantung-Eisenbahn (s. unten, Geschichte) ist die wichtigste Verkehrsader nach dem Innern. Die Seeschiffahrt hat sich dank der Beschleunigung der großen Hafenanlagen in Tsingtau (s. d.) schnell gehoben; sie betrug 1902/03: 272 Schiffe von 286,369 Ton. Regelmäßige Verbindungen werden vermittelt durch die Hamburg-Amerika-Linie mit Schanghai, Tschifu und Tientsin, mit Schanghai außerdem durch eine englische Gesellschaft (seit Ende 1903), durch eine japanische Linie mit Japan. Die Handelsbewegung des Schutzgebiets betrug nach der Statistik des chinesischen Seezollamts in Tsingtau 1902/03: 17,276,732 Doll. (gegen 9,374,000 Doll. im Vorjahr); der fremde Einfuhrhandel wies eine Steigerung auf von 4,217,000 auf 8,320,069 Doll., wobei die für Eisenbahn- und Bergbau eingeführten Materialien nicht eingerechnet sind. Die Ausfuhr besteht hauptsächlich aus Erdnußöl, Melonenkernen, Strohborte, wozu im letzten Jahr durch Vermittelung der Eisenbahn auch Seide (350,000 Doll.) hinzugetreten ist. Die Hauptwaren der Einfuhr nichtchinesischen Ursprungs sind Baumwollwaren, Petroleum, Zündhölzer, Kohlen, Zucker, während aus den andern Teilen Chinas namentlich Papier, Rohbaumwolle und Porzellan eingeführt wird. Für den Binnenhandel ist der Platz Litsun im NO. von Tsingtau wichtig. Hauptsitz der Banken und Handelshäuser ist Tsingtau (s. d.). Der Hafen von Tsingtau wurde 2. Sept. 1898 als Freihafen eröffnet. Der Postverkehr des Schutzgebiets wird vom Postamt in Tsingtau geleitet, dem verschiedene Agenturen unterstellt sind; erledigt wurden 1901/02: 1,719,237 Brief-, 7591 Paketsendungen, 7025 Postanweisungen. Außerdem gehen von Tsingtau 5 regelmäßige Postkurierlinien ins Innere nach verschiedenen Richtungen. Die deutschen Kabel von Tsingtau nach Tschifu, bez. nach Schanghai beförderten 15,097 Telegramme.
Die oberste Verwaltung liegt in den Händen eines Gouverneurs (s. unten, Geschichte), dem ein Gouvernementsrat und zur Beratung in chinesischen Angelegenheiten versuchsweise ein chinesisches Komitee von zwölf Mitgliedern zur Seite gestellt sind. Das Gouvernement hat gegenüber den heimischen Behörden die größtmögliche Selbständigkeit, hat aber große Freiheit bezüglich der Selbstverwaltung, des Handels und des Gewerbebetriebes gewährt. Die Regierung hat überall das Verkaufsrecht auf Grundstücke und übernimmt den Landverkauf teilweise selbst. Angekauft wurden 1902/03 von der Regierung rund 196, verkauft rund 15 Hektar. Dafür bleibt die Regierung[879] an einer beim Weiterverkauf der Grundstücke sich ergebenden Preissteigerung beteiligt. Die deutsche Schule in Tsingtau ist 1902 von der Regierung übernommen worden; in demselben Jahr wurde eine höhere deutsch-chinesische Lehranstalt von der Berliner evangelischen Mission eröffnet und seitdem noch eine chinesische Mädchenschule. Der Allgemeine evangelisch-protestantische Missionsverein hat ferner ein deutsch-chinesisches Seminar und das Faber-Hospital begründet, die katholische Mission ein deutsches Mädchenpensionat, eine höhere Töchterschule und einen Kindergarten. Die American Presbyterian Mission hatte schon vor 40 Jahren von Tschifu aus in K. ihre Tätigkeit begonnen. Die Rechtspflege wird geregelt durch das Reichsgesetz vom 5. März 1888, betreffend die Rechtsverhältnisse der deutschen Schutzgebiete. Für die Chinesen gilt mit Ausnahme des zu harten Strafrechts das heimische Recht. (Über sonstige Anstalten etc. s. Tsingtau.) Steuern werden erhoben: Grundsteuer, Verkaufssteuer für Opium, Abgaben für Hafen und Leuchtfeuer, Hundesteuer, Jagdgebühren, Gewerbescheingebühren, Stempelabgaben, Gerichtsgebühren. Immerhin hat das Deutsche Reich bisher fast die gesamten Ausgaben bestritten. Die Einnahmen beliefen sich 1901/02 auf 495,990 Mk., während der deutsche Etat von 1904 einen Reichszuschuß von 12,583,000 Mk. für K. eingestellt hat. Die deutsche Besatzung in Tsingtau besteht regelmäßig aus einem Seebataillon, einer Feldbatterie und einer Abteilung Matrosenartillerie. Dazu kommt eine Chinesentruppe von 120 Mann unter deutschen Offizieren; auch für den Polizeidienst werden teilweise Chinesen verwendet.
[Geschichte.] Von der alten Bedeutung der damals noch durch Seefahrt direkt erreichbaren Stadt K. zeugen alte Erwähnungen in chinesischen Annalen; doch läßt sich Richthofens Vermutung, in dem Namen K. liege noch eine Erinnerung an die alten Kiau-Barbaren vor, nicht aufrecht erhalten. Als Zwischenplatz des arabischen Seeverkehrs nach Korea erwähnt Ibn Khordadbeh K. um 880: K. war damals Hafen der blühenden Handelsstadt Wéi-hsien, die aber ihre Bedeutung infolge des Baues des Kaiserkanals verlor. Als Anlegeplatz der Dschonken, welche die Ein- und Ausfuhr der Provinz Schantung als Ladung aufnahmen, blieb die geräumige Bucht verkehrsreich; doch zwang die zunehmende Versandung zur Bevorzugung des mehr außerhalb gelegenen Tsingtau als Landungsstelle für größere Dschonken. In K. hatte auch die deutsche katholische Mission unter dem Bischof von Schantung, v. Anzer (gest. 1903), ihre Niederlassung. Als dort infolge der von den Behörden geschürten Hetzereien zwei deutsche Missionare ermordet worden waren, erschienen 14. Nov. 1897 deutsche Kriegsschiffe (Admiral v. Diederichs) vor Tsingtau. Durch Vertrag vom 6. März 1898 wurde ein kleines Gebiet an der Bai auf 99 Jahre an Deutschland verpachtet, ein größeres als deutsche Interessensphäre vorbehalten.
Die Verwaltung des Pachtgebiets blieb der kaiserlichen Marineverwaltung unterstellt. Als Gouverneure folgten sich die Kapitäne zur See v. Rosendahl (1898), P. Jäschke (gest. 27. Jan. 1901) und Alfr. Truppel. K. wurde als Freihafen eingerichtet; das vom Gouvernement den Chinesen abgekaufte Land wurde an Private unter Bedingungen verkauft, die eine schnelle Bebauung verbürgten und die Bodenspekulation abschreckten. Hafen- und Wasserleitungsbauten sowie Aufforstungen wurden sofort ernstlich betrieben. Mit 1. Jan. 1900 traten die neuen Reichsgesetze auch in K. in Kraft. Die Rechtsverhältnisse der Chinesen wurden durch Verordnung vom 15. April 1899 geregelt. Am 14. Juni 1899 bildete sich die Schantung-Eisenbahngesellschaft in Berlin (Kapital 54 Mill. Mk.), die eine 450 km lange Strecke von Tsingtau über Wéi-hsien nach Tsinanfu, der Provinzialhauptstadt von Schantung, nebst einer Zweigbahn nach Poschan programmgemäß innerhalb 5 Jahren vollendet hat. Die Schantung-Bergbaugesellschaft konnte bereits im Oktober 1903 die ersten Kohlen auf dieser Bahn von Poschan nach Tsingtau befördern. Von den Boxerunruhen wurde K. insofern berührt, als der im Mai 1899 zum Gouverneur von Schantung ernannte Mandschu Yu-hsien ein Hauptorganisator der »Faust des Patriotismus und des Friedens« war. Er wurde aber Anfang 1900 durch den aufgeklärten Yuanschikal ersetzt. Mit ihm schloß die Schantung-Eisenbahngesellschaft im März 1900 einen Vertrag, der den Fortgang des Bahnbaues bis Ende Juni ermöglichte. Im Juli kam es aber zu Unruhen, die eine Abordnung von 50 Seesoldaten und der Chinesenkompanie nach Tsimo veranlaßten. Anfang Oktober übernahmen die deutschen Truppen den Schutz des Bahnbaues, die chinesischen den der Bergwerke. Nur bei Kaumi kam es zu Kämpfen der Deutschen mit den Boxern; Zerstörungen der begonnenen Bauten haben nicht stattgefunden. Seitdem haben sich K. als Handelsplatz, Tsingtau als Hafen und Seebad stetig entwickelt. Der große Hafen soll noch 1905 vollendet werden. Die elektrische Zentrale ist im Juli 1903 in Betrieb gekommen. Besonders mit Japan hat sich ein lebhafter Warenaustausch entwickelt, dem auch eine regelmäßige japanische Dampferlinie dient. Vgl. die amtlichen »Denkschriften, betreffend die Entwickelung des Kiautschougebiets« (jährlich seit 1899, Berl.); Franzius, K., Deutschlands Erwerbung in Ostasien (9. Aufl., das. 1899); v. Richthofen, Schantung und seine Eingangspforte K. (das. 1898); v. Hesse-Wartegg, Schantung und Deutsch-China (Leipz. 1898); »Die Vermessung des deutschen Kiautschougebiets« (bearbeitet im Reichsmarineamt, Berl. 1901); H. Mootz, Die Namen der Orte in Deutsch-Schantung (Schanghai 1899); »Deutsch-asiatische Warte. Wochenblatt des deutschen Kiautschougebietes« (Tsingtau, seit 1899). - Karten: von B. Hassenstein 1: 650,000 (Gotha 1898); Das deutsche Kiautschougebiet und seine Bevölkerung. Kartenkrokis und statistische Tabellen (Berl. 1899); Deutsches Schutzgebiet K., aufgenommen 1898/99 von der Vermessung Kiautschous 1: 50,000, 9 Blätter (das. 1902).
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