Aristotĕles

[712] Aristotĕles, 1) (bei den Arabern u. Syrern Ari sto), aus Stagira in Macedonien (daher der Stagirit genannt), geb. 384 v. Chr.; von seinem Vater Nikomachos, Leibarzt des Königs Amyntas III. von Macedonien, erhielt er die erste Bildung, dann von Proxenos in Atarneus; er begab sich im J. 367, 17 Jahr alt, nach Athen u. genoß dort 20 Jahre Platons Umgang u. Unterricht, bei Platons Tode, 347, war er in Pella, bei Philippos dem Gr. als athenischer Gesandte u. verließ nach seiner Rückkehr Athen, lebte einige Jahre bei seinem Freunde Hermias, dem Beherrscher von Atarneus, dessen Schwester Pythias er heirathete u. mit ihr nach dem Sturz des Hermias nach Mitylene zog; 343 ward er von Philippos von Macedonien zum Erzieher seines Sohnes Alexander berufen; kehrte 335 nach Athen zurück u. lehrte hier Philosophie im Lyceum, des Morgens für vertrautere Schüler (Akroatä, Esoteriker) in streng wissenschaftlichen, Nachmittags für gemischte Zuhörer (Peripatos [der Umgang, s. u. Aristoteliker], Exoteriker) in populären Vorträgen. 13 Jahre hatte er hier gelehrt, als er, der Irreligiosität[712] angeklagt, Athen verlassen mußte. Er ging nach Chalkis u. starb bald darauf, 322 v. Chr. In Stagira wurde ihm jährlich ein Fest (Aristotelēa) gefeiert. Nach einer jüdischen Sage soll er nach einer, zu Athen mit einem Juden gehabten Unterredung Jude geworden sein. Von ten 800 Schriften des A. gibt es Verzeichnisse von Diogenes Laërtios u. A. Sein schriftlicher Nachlaß u. seine Bibliothek kamen an seinen Schüler Theophrastos, von diesem an andre Erben u. wurden, nachdem sich König Ptolemäos Philadelphos von Ägypten u. der König von Pergamum vergebens um sie beworben hatten, in einem Keller verborgen u. hier, halb verdorben, von Apellikon von Teos entdeckt u. gekauft. Die darnach gefertigten Abschriften, worin Manches willkührlich ergänzt war, kamen nach der Eroberung Athens durch Sulla mit nach Rom. Durch den Grammatiker Tyrannion, welcher die aristotelischen Schriften zu benutzen Erlaubniß erhielt, gelangten Abschriften einzelner in die Hände von Cicero u. A. Am meisten trug Andronikos von Rhodos zu ihrer Verbreitung bei. Die, in den meisten Ausgaben der Sammlungen noch jetzt vorhandener Schriften befolgte Zusammenstellung rührt von Franciscus Caballus her. Sie zerfallen in: a) Logische Schriften (Organon): Κατ ηγορίαι (die Grundbegriffe der Erkenntniß), Περὶ ἑρμηνείας (von der Auslegung), Άναλυτικὰ πρότερα u. Αναλυτικὰ ὕστερα (von den Schlüssen u. Beweisen), Τοπικά (von der Auffindung der Beweisgründe), Περὶ σοφ ιστικῶν ἐλέγχων (von der Auffindung der Trugschlüsse), Ausg. von Jul. Pacius, Frkf. 1597, u. ö., von Waitz, Gotha 1843, deutsch von Zell, Stuttg. 1836 ff. b) Rhetorische Schriften: echt nur Τέχνη ῥητορική (von der Beredsamkeit), herausgegeben von P. Victorius, Vened. 1548, Fol. u. ö., von Garve u. Reiz, Lpz. 1772; Oxf. 1820, 2 Bde.; von Spengel, Lpz. 1844; deutsch von Knebel, Stuttg. 1840; die Ῥητορικὴ πρὸς Ἀλέξανδρον ist von Anaximenes von Lampsakos. c) Ästhetische Schriften: hierunter das Fragment Περὶ ποιητικῆς (Poëtik, von den Arten der Dichtkunst), herausgegeben von Hermann, Lpz. 1802; von Gräfenhan, 1821; Ritter, Köln 1839; deutsch von Buhle, Berl. 1798, u. Valett, Lpz. 1803. d) Physikalische Schriften: Φυσικὴ ἀκρίασις (Allgemeine Gesetze der Naturlehre, deutsch von Weiße, 1829); Περὶ οὐρανοῠ (vom Himmel), Περὶ γενέσεως καì φϑορᾶς (vom Entstehen u. Vergehen), Μετεωρολογικὰ (herausgegeben von Bekker, Berl. 1829, von Ideler 1834); die Schrift Περὶ κόσμου (von der Welt, herausgegeben von Kapp, Altenb. 1792) ist unecht; die physik. Schriften gab Julius Pacius heraus, Frkft. 1596. e) Naturhistorische Schriften: Περὶ ζώων ἱστορίας (Geschichte der Thiere), Ausg. von Scaliger, 1619, neu von I. G. Schneider, Lpz. 1811, 4 Bde., von Bekker, Berl. 1829; Περὶ ζώων μορίων (von den Theilen der Thiere, herausgegeben von Bekker, Berl. 1829); Περὶ ζώων πορείας (von der Fortbewegung der Thiere), Περὶ ψυχῆς (von der Seele), eigentlich ein Versuch zur wissenschaftlichen Begründung der Psychologie (herausgegeben von Trendelenburg 1835, deutsch von Vogt, Prag 1794); Περὶ φυτων (von den Pflanzen), unecht; die Parva naturalia, kleinere Schriften physiologischen Inhalts: Περὶ αἰσϑήσεως καὶ αἰσϑητικῶν, Περὶ μνήμης καὶ ἀναμνήσεως, Περὶ ὕπνου καὶ ἐγρηγορήσεως, Περὶ ἐνυπνίων, Περὶ τῆς καϑ ὕπνον μαντικῆς, Περὶ τῆς κοίνης τῶν ζώων κινήσεως, Περὶ ζώων γενέσεως, Περί μακροβιότητος καὶ βραχυβιότητος, Περὶ νεότητος καὶ γήρως, Περὶ ἀναπνοῆς, Περὶ πνεύματος, Φυσιογνωμονικά; einige davon einzeln herausgegeben von G. A. Bekker. f) Mathematische Schriften: Περὶ ἀτόμων γραμμῶν (von den untheilbaren Linien), Μηχανικὰ προβλήματα (Quaestiones mechan.) g) Metaphysische Schriften: Τὰ μετὰ ὰ φυσικά (Metaphysica), von, A. selbst Πρώτη φιλοσοφία genannt, soll dies Buch, welches Untersuchungen über die höchsten theoretischen Begriffe enthält, später zufällig diesen Namen erhalten haben, weil es nach den Physischen Schriften folgte, herausgeg. von Schwegler, Tüb. 1847, von Bonitz, Bonn 1848, deutsch von Hengstenberg, Bonn 1824; vgl. Michelet Examen crit. de l'ouvrage d'Arist. intit. Metaphysique, Par. 1836, u. Ravaisson, Essai sur la Metaph. d'Arist., ebd. 1837. h) Moralisch-politische Schriften: Ἠϑικὰ Νικομάχεια (Ethica ad Nicomachum), Ausg. von P. Victorius, Flor. 1547, u. Zell, Heidelb. 1820, 2 Bde.; Korais, Par. 1822; Michelet, Berlin 1829; I. Bekker, ebd. 1831; deutsch von Garve, Bresl. 1798, 2 Bde.; Ἠϑικὰ Ηὐδήμεια (Ethica ad Eudemium); Ἠϑικὰ μεγὰλα (Magna moralia); Περὶ ἀρετῶν (unecht u. blos excerpirt); Oxf. 1752; Πολιτικά (vom Zweck des Staates), herausgegeben von Victorius, Flor. 1552); von Heinsius, Leyden 1621; von Conring, Helmst. 1656; von Schneider, Frankf. a. d. O. 1809, 2 Bde.; von Göttling, Jena 1824; Cardwell, Oxf. 1829; deutsch von Schlosser, Lübeck 1798, 3 Bde., von Garve, Bresl. 1799, 2 Bde.; von Lindau, Öls 1843; Οἰκονομικά, Par. 1560; von Schneider, Lpz. 1815; von Göttling, Jena 1830. i) Historische Schriften: hiervon nur 1 Fragment de Melisso, Xenophane et Gorgia, herausgegeben von Füllhorn, Halle 1789. k) Paränetiche Schriften (d.i. populäre Schriften moralischen Inhalts) bes. Dialogen, Gleichnisse, Sprichwörter; von allen sind blos Fragmente da. l) Hypomnematische Schriften (d.i. die nicht zum öffentlichen Gebrauch bestimmt schienen): Περὶ ϑαυμασίων ἀκουσμάτων (Notizensammlung von wunderbaren Geschichten), herausgegeben von Beckmann, Gött. 1786; Προβλ ήματα (in 38 Sectionen). A. war auch Dichter, doch haben sich nur wenige Gedichte von ihm erhalten, z.B. ein Hymnus auf die Tugend von Hermias, Πέπλος etc. Ausgabe sämmtlicher Werke: älteste, Vened., bei Ald. Man. 1495–98, 5 Bde. Fol., später von Erasmus, Basel 1531 u. 1550, 2 Bde.; von Camotius, Venedig 1551–53, 6 Bde.; von Sylburg, Frkf. 1587, 5 Bde.; von Causaubon, Leyd. 1590, 2 Bde., Fol., u. 1597, 2 Bde., u. von du Val, Par. 1639 u. ö., 2 Bde., Fol.; Buhle, Zweibr. 1791–1800, 5 Bde.; von I. Bekker, Berlin 1831 ff., 4 Bde. Mehrere Schriften des A. u. Theophrastos erschienen in latein. Übersetzung mit Commentar von Averroes, Vened. 1483, 3 Bde., Fol., Augsb. 1479, 4 Bde. Vgl. Stahr, Aristotelia, Halle 1830, 2 Bde. In der Aristotelischen Philosophie muß man wohl unterscheiden: die Grundsätze, welche A. selbst in seinen Schriften aufstellt, u. die, welche jenen in der Aristotelischen Schule der spätern Zeit beigefügt wurden (s. Aristoteliker). A. verband ausgezeichneten [713] Scharfsinn mit sorgfältiger u. unermüdeter Naturforschung. Um deswillen waren ihm in seinen philosophischen Ansichten nicht die Ideale der Hauptgesichtspunkt, sondern das durch die Erfahrung Dargebotene. So ward er vorzugsweise Philosoph des Verstandes, nicht vom Allgemeinen ausgehend, sondern von dem Besondern zu jenem sich erhebend. Philosophie ist nach ihm die Versicherung des Wissens, die Erkenntniß aus Gründen; letztere aber bietet nur die Erfahrung dar, zunächst in Beobachtung des Einzelnen u. dann in Verbindung desselben zu einem Ganzen. Hierzu dient insbes. die Logik, als Organon aller Wissenschaft, wiewohl nur der Form nach. Der erste Grundsatz in ihr ist der Satz des Widerspruchs, nach dem alle Wahrheit in Schlüssen erkannt wird. A. befaßt unter Philosophie zugleich auch alle Erfahrungswissenschaften, mit Ausnahme der Geschichte, also auch die Naturwissenschaft u. selbst Naturgeschichte. In strengerer Unterscheidung zerfällt die Philosophie nach A. in theoretische u. praktische. Die theoretische Philosophie hat das dem Sein nach Nothwendige zum Gegenstande; zu ihr gehört Physik, Mathematik u. Metaphysik. Die Physik hat die Natur zum Gegenstande, als den Inbegriff aller aus der Erfahrung erkennbaren wirklichen Dinge. Als Naturprincipe werden aufgestellt: Materie, Form, Beraubung; letztre ist der Grund der Veränderung u. also der Bewegung; die Materie enthält blos das Vermögen, verändert zu werden; die Form gibt erst die Wirklichkeit, sie ist der Zweck der Natur. Physische Ursachen sind: materielle, formelle, wirkende Endursachen; die Bewegung hat weder Anfang noch Ende; das erste ewig Bewegte ist der Himmel, das erste Bewegende Gott. Die Welt ist der Inbegriff aller veränderlichen Wesen; außer ihr keine Veränderung, weder Zeit noch Raum; sie ist ein Ganzes, Erde ihr Mittelpunkt, Feuer ihre Grenze; die Bewegung geht entweder nach dem Mittelpunkt, als Schwere, zur Erde, od. von ihm aus, als Leichtes od. Feuer, od. sie ist kreisförmig, als die vollkommenste, des Himmels. Das Element der Gestirne ist der Grund alles Lebens. Die Seele ist das Princip des Lebens, die erste Form (Entelechie) des Körpers; die Denkkraft ist von außen gekommen, dem Elemente der Sterne analog; Anschauen ist Aufnehmen der Formen der Gegenstände, Denken ein Aufnehmen der Formen von den Formen, welches Empfindung u. Einbildungskraft voraussetzt; daher ein leidender u. thätiger Verstand, letzter unzerstörbar. Das Begehrungsvermögen ist Thätigkeit u. Bewegung durch Empfindungen bestimmt. Das Vergnügen ist die Folge vollkommener Kraftäußerung; das edelste Vergnügen entspringt aus Vernunft, wodurch der Wille als höheres Begehrungsvermögen geleitet wird. Metaphysik ist nach A. die Betrachtung eines Wesens an sich, als Unbeweglichen, Unsichtbaren; sie ist ein bloßer u. unausreichender Versuch, die Verstandeslogik auf übersinnliche u. also unerkennbare Gegenstände anzuwenden. Die praktische Philosophie ist nicht auf das Sein, sondern auf das, was durch den Willen bewirkt werden soll, gerichtet. Sie geht von dem Begriffe eines höchsten Guts u. Endzwecks aus; Endzweck ist Glückseligkeit, hervorgehend aus vollkommenen Handlungen, die dies aber nur durch vernünftige Willensfreiheit werden. Tugend ist die Fertigkeit vollkommener Handlungen; sie ist immer auf ein Mittelmaß zwischen Zuviel u. Zuwenig gerichtet. Mit der Tugendlehre (Ethik) steht die Politik u. Ökonomie in nächster Verbindung; erstere lehrt, wie Glückseligkeit, als der Zweck der Menschen, in der bürgerlichen, letztere, wie sie in der häuslichen durch vollkommene Einrichtung derselben zu erlangen sei. Vgl. Biese, Die Philosophie des A., Berl. 1835, 2 Bde.; 2) Einer der 30 Tyrannen von Athen; 3) A. von Bologna; nebst mehreren andern Künstlern von dem russischen Großfürsten Iwan Wassiliewitsch nach Moskau berufen, trug viel zur Bildung der Russen, auch bes. zur Verschönerung der Hauptstadt bei, legte die erste Stückgießerei dort an, verbesserte das Münzwesen u. erbaute mehrere Kirchen.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 1. Altenburg 1857, S. 712-714.
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