Kriegskunst

[818] Kriegskunst ist die Kunst den Krieg (s.d.) zu führen; sie verhält sich daher zu den Kriegswissenschaften (s.d.), wie das Können zum Wissen. Die Kriegswissenschaften erscheinen als das Ergebniß der in den Kriegen gesammelten Erfahrungen. Als man diese Erfahrungen unter allgemeinen Gesichtspunkten ordnete u. daraus betrachtete, entwickelte sich die Kriegstheorie (s.d.), welche der K. als Leitfaden dienen soll, indem sie für die Kriegsführung unter bestimmt angegebenen u. vorkommenden einzelnen Verhältnissen die Erkenntniß sowohl, als den Willen leitet u. regelt. Die K. ist so alt, wie der Krieg selbst. Die ältere Geschichte zeigt die K. als ein den Umständen nach ziemlich vollendetes Ganzes u. überliefert in der klassischen Literatur eine dieser Kunst innig verwandte Theorie. Der Charakter dieser K. ist einfach u. heroisch; das Ziel, die Totalüberwältigung des Feindes, unverrückt verfolgend, erscheinen nach u. nach Helden mit ihren Stämmen, Könige mit ganzen Völkern, Feldherren mit organisirten u. wohlgeübten Heeren, welche einander aufsuchen, begegnen, großentheils auf ebenen Schlachtfeldern in Massen siegen u. besiegt werden, die Herrschaft über das eroberte Land aber fortsetzen, bis sich dasselbe Spiel von anderer Seite wiederholt. Dabei zeigen sich nicht wenige von den Feinheiten der gegenwärtigen K.; das geistige Gewicht des Anführers u. die Gesinnung der Menge ist mächtig; die verschiedensten Waffengattungen zum Schutz u. Trutz, leichte u. schwere Truppenarten, selbst leichte u. schwere Geschütze sind vorhanden; man bemerkt den Widerstand in der griechischen Phalanx, die manövrirfähige Gliederung in der Legion, den Gardegeist in den persischen Unsterblichen; die weisen Dispositionen in Xenophons Kriegsmärschen, die vortreffliche Lagerung des Pyrrhus, die Umsicht in den Operationen Hannibals u. seiner großen Gegner, Cäsars umfassendes Feldherrntalent u. überhaupt Kriegsvollkommenheiten, wie sie nur wenige Zeiten aufzuweisen haben.

Mit den Staaten der alten Welt sank auch die K., ohne sich in den ersten Jahrhunderten des Mittelalters wieder zu erheben. Erst die Kreuzzüge u. das neue Reich Jerusalem zeigen in den Ergebnissen des 12. u. 13. Jahrh. wiederum die ersten Blüthen einer in der Barbarei schlummernden Cultur u. einen Austausch politisch-militärischer Begriffe, Handlungen u. Sitten zwischen dem Osten u. Westen, die gegenseitig etwas von einander annahmen, ohne ihren eigentlichen Charakter zu verlieren. In Richard Löwenherz u. Saladin ist ein Wechsel in den geistigen Erfordernissen des Heerführers der alten u. neuen Zeit sichtbar, welcher den romantischen Heroismus hinter die überlegte Disposition bringt. Ein Soldatenstand mit Handwerksgebrauch, mit Gesetz u. Gesinnung, wie er in den schottischen, deutschen u. schweizer Miethtruppen, in den Francarchers u. Landsknechten noch bis zu Wallenstein auftritt, entwickelt sich unter den Condottieri's mit der seßhaften Lebensart der Land- u. Städtebewohner. Gleichzeitig wird auch eine stetige Regel in der Kriegsführung ersichtlich, welche zuerst unter den Italienern, dann unter Deutschen u. Franzosen literarisches Gemeingut der Gebildeten[818] wird, was vor der Erfindung der Buchdruckerkunst unmöglich war. Die hiernach in Beispielen bekannter werdenden Kriegsanschläge erzeugten Sicherheitsmaßregeln für das Heer u. Terrainverwandlungen, wie sie schon die römischen Castra, die Ritterburgen u. die Städte mit ihren Ringmauern in anderer Weise vorstellten. Ein nothwendiges Ergebniß der Befestigung war alsdann der Festungskrieg mit Annahme von grobem Geschütz. Obgleich aber der theilweise Geschützgebrauch in dieser Zeit schon aufkam (14. Jahrh.), so konnte doch noch lange Zeit hindurch nur wenig von den Veränderungen in der Kriegsführung eintreten, die man gemeinhin der Pulvererfindung zuschreibt, bis endlich die Artillerie in beweglicherer Gestalt für den Schlachtgebrauch geeigneter erschien u. zugleich das kleine Feuergewehr umfassender angewendet ward. Es geschah daher in dieser Zeit nur ein Übergang von der früheren rohen Massenüberwältigung zu mancherlei persönlichen u. materiellen Sicherungsmaßregeln in den zu Armeen gewordenen Kriegsschaaren, u. zwar wenden sich diese Sicherungsmaßregeln von dem geharnischten Einzelnen immer mehr ab u. dem Ganzen zu. Im 16. Jahrh. trat nun der Gebrauch von Feldgeschütz in der Kriegführung mehr u. mehr auf u. förderte dieselbe neben dem Eingewöhnen ins Soldatenhandwerk u. dem ausgedehnteren Gebrauch der Sicherheitsprincipien, u. zwar Hand in Hand mit den ebenfalls vorschreitenden Staatsordnungen. Die Armeen wurden nationaler; an die Stelle der Capitano's u. Freibeuter traten gesetzlich ernannte Offiziere Die Armeen waren wenig zahlreich, deshalb verzichteten die Anführer häufig auf die Massenüberwältigung u. beschränkten sich auf kleinere Unternehmungen u. Überraschungen. Nicht mehr wie in den Kreuzzügen od. später in den Türkenkriegen sah man die großen Massen in Wagenburgen verschlossen od. mit dem Rücken zur Deckung an große Ströme gelehnt, in der Schlacht untergehen; sie waren beweglich geworden u. änderten selbst nach Verlusten ihre Stellungen absichtlich. Diese Stellungen erhielten durch das Positionsgeschütz einen Halt. Zwar waren Geschütz u. Geschoß noch sehr schwerfällig, aber sie u. der Troß waren den Armeen, welche eine ordentliche Verpflegung kannten, schon unentbehrlich geworden, u. der Feldherr mußte für ihr Fortkommen sorgen, wodurch er wieder mehr als sonst auf Landeskenntniß u. Voraussicht hingewiesen wurde. Der Festungskrieg, wie ihn die neuere Zeit mit sich brachte, nimmt hier seinen Anfang, des Geschütz änderte ihn. Man legt Contravallationen gegen die Festungen an; der Belagerte sah sich dann wieder bei diesem Verfahren des Angreifers genöthigt, seine Zuflucht zu früher nicht gekannten Maßregeln zu nehmen, so beginnt die Entstehung der modernen Befestigungskunst. So trat an die Stelle der dem alten Rittergeiste eigenthümlichen Treuherzigkeit, welche unter offener Ausforderung dem Feinde mit der Schlacht gleichsam einen großen Zweikampf anbot, eine durchdachte Verschlagenheit der Kriegführung, u. die Städte beeilten sich, ihre Ringmauern in bastionirte Erdwälle umzuwandeln.

Mit dem allmäligen Verschwinden der Pike u. der allgemeineren Anwendung des nun vereinfachten u. verbesserten Infanteriegewehrs beginnt nun eine neue Epoche. Die unmittelbar u. fast ohne Zwischentheilung vom Einzelnen zum Ganzen überspringenden Kriegsordnungen hatten bisher die Armeen mit einer ebensowohl moralischen wie taktischen Unbehülflichkeit belastet, welche Gustav Adolfs neue Gliederung aus dem Wege räumte. Seine Anordnungen gaben der Truppe Freiheit u. Bestimmtheit in der Handlung, jedem Anführer aber Disposition u. Verlaß auf die Truppe, der sich früher nur unter den Augen des Oberfeldherrn gefunden hatte. Die Stellungen konnten nun bei weitem größere Ausdehnung erhalten, u. das Feuergewehr ließ sich dadurch ebenso, wie das Feldgeschütz, um so wirksamer gebrauchen. Die in der Feuertaktik begründete Aufstellung in dünnen Linien veranlaßte das Hintereinanderreihen mehrerer Treffen, von denen die hinteren jetzt nicht mehr bloße Reserven waren, sondern die dem von der Armee eingenommenen Raume, welcher noch durch Aufstellung von Cavallerie u. Artillerie auf den Flügeln eine größere Ausdehnung erhielt, auch eine bedeutende Tiefe gaben, auf welcher regelmäßige Bewegungen unerläßlich wurden. Das so von den schlagenden Armeen besetzte Terrain, welches selten mehr wie die älteren Tummelplätze ohne Waffenvor- u. Waffennachtheile aufzufinden war, wies den Feldherrn mit Macht auf die Terrainkenntniß, u. also in letzter Instanz auf die Terrainbenutzung hin, welche von hier ab gebietend u. die früheren Principien der K. modificirend in die Kriegstheorie eintritt. Die Überwältigung erlitt an ihrer Totalität Einbuße, denn man konnte bei der großen Ausdehnung des Schlachtfeldes auf dem einen Punkte siegen u. auf dem andern geschlagen werden; die Sicherung fand sich nicht mehr allein in der Unzugänglichkeit des Bodens, sie konnte indirect durch den Besitz eines dominirenden Terrainpunktes, durch bereit gehaltene Cavallerie od. durch irgend eine Detachirung, auf dem ganzen Kriegstheater aber durch Lage u. Richtung der Operations-, Basen- u. Linien geschaffen werden; die Überraschungen beschränkten sich nicht mehr auf brüske Expeditionen u. Hinterhalte, sondern offenbarten sich selbst vor dem Feinde in der taktischen Bewegung, außer dessen Gesichtskreise aber in der Combination von allerhand Truppenbewegungen, die ihm bei der Zerstreuung der Massen den gehörigen Widerstand auf dem angegriffenen Punkte u. zur rechten Zeit unmöglich machten. Wie das Feuergefecht in dieser Zeit mehr u. mehr an Ausdehnung gewonnen hatte, so wurden die Glieder der Stellung auf eine geringere Zahl gebracht, zugleich aber nahm auch die Infanterie verhältnißmäßig immer mehr an Zahl zu; hierdurch schon mußte sich auch das Interesse am Terrain steigern u. die Grenzen seines nothwendig gewordenen Erkennens weiter ausdehnen. Die allgemeine wissenschaftliche Cultur verhalf zu ausgebreiteten geographischen Kenntnissen u. das bildliche Hülfsmittel, die topographische Karte, wurde vorzugsweise von Militärs gefördert. Die Beweglichkeit der Armeen wuchs mit der Beweglichkeit der Geschütze u. des Schußbedarfs, sowie mit den durch Gribeauval (1765) in Frankreich eingeführten Feinheiten der Artillerieausrüstung. Das Bedürfniß, den Armeen u. jeder ihrer Hauptabtheilungen eine eigene Truppe zu allerhand Terrainverwandlungen zuzutheilen, äußerte sich dringender als sonst, u. die Vervollkommnung der Pontoniere, sowie die Errichtung der Pioniere, welche sich am frühesten bei den Türken finden, u. welchen dann später auch die für den Festungskrieg bestimmten Mineure u. Sappeure unter dem allgemeinen[819] Namen der Genietruppen sich anschlossen, fällt in diesen Zeitraum, ebenso das zum Feldgebrauch eingerichtete Wurfgeschütz u. die berittene Geschützbedienung. Die Festungen gelangten zu einer vorher nicht gekannten Wichtigkeit für den ganzen Krieg. Sie waren stark genug, den förmlichen Angriff zu erfordern, die Armeen dagegen waren nicht stark genug, um den Einfluß der Festungen in vielen Fällen durch bloßes Einschließen zu hemmen, darum verstärkte man sie immer mehr. Durch Vauban erhielt sodann der Festungsangriff eine systematischere Form, in welcher das Sicherungsprincip ganz ebenso, wie im Festungswesen selbst, vorherrschte, u. welche so solid war, daß der Angriff selbst eine Überlegenheit über die Vertheidigung erlangte, während bis dahin das umgekehrte Verhältniß stattgefunden hatte.

Was nun die neueste Entwickelung der K. seit der Französischen Revolution betrifft, so haben sich in dieser Periode wiederum auffallende Veränderungen bemerkbar gemacht, deren Keim wohl in dem Kriegscharakter unserer Zeit u. der davon abhängigen Zusammensetzung unserer Armeen nach geistiger u. mechanischer Weise liegt. Als die Französische Revolution über Europa jene Kriege brachte, in denen die großen Interessen des Seins od. Nichtseins von beinahe allen Mächten Europas ausgefochten werden mußten, reichten die bestehenden Streitkräfte nicht mehr aus; das Volk wurde in die Armee eingeschoben. Damit wurde zwar die Gliederung Gustav Adolfs u. viele ihrer Folgen erhalten, zugleich aber wurde die Manövrirfähigkeit des Einzelnen wie des Ganzen, vorzugsweise beim Tirailleur- u. Massengefecht, wie vor seiner Zeit in Aufnahme gebracht. Nichtsdestoweniger litt darunter die in der Terrainbenutzung gewonnene Einsicht nicht, sie erstreckte sich im Gegentheil bei der immer wachsenden Zahl u. Stärke der Armeen zugleich über mehrere Kriegstheater u. setzte die auf jedem derselben sich zutragenden Ereignisse in Zusammenhang. Alles einigte sich gleichsam zu großen Schlachten u. die Befehlshaber mußten daher Massen zu ihrer Disposition in der Hand behalten, über welche sie erst im Verlaufe der Begebenheiten verfügten. Dies führte auf die großen Reserven, mit denen die Schlachten entschieden wurden, so gab es endlich ganze Reservearmeen. Die Beweglichkeit u. vollendete Organisation der Artillerie knüpfte sich an eine fast unglaubliche Geschützzahl. Die Volkskriege wußten das Material zu schaffen. Die Terrainverwandlung bediente sich der Fortschritte in den physischen u. anderen Kenntnissen u. wurde durch die seit Kurzem besser u. zahlreicher gebildeten Genietruppen darin ungemein gefördert. Die Befestigungskunst wurde theilweise einer vollständigen Reform unterworfen. Die vorgerückte Cultur in der Mehrzahl der mit Krieg überzogenen Länder diente dem Kriege selbst u. brachte Unternehmungen zum Gelingen, deren Möglichkeit nur von einer leichteren Bewegung der Massen, von bereit gefundenem Unterhalte, von Dach u. Fach abhing, indem die Armeen derartige, die Bewegung hemmende Bedürfnisse, nicht mehr wie früher, mit sich führten. Oh mit diesen Neuerungen, an denen das Talent Napoleons einen hervorragenden Antheil hat, neue Kriegshandlungsmotive in die K. eingeführt sind, darüber gehen die Meinungen aus einander; jedenfalls aber gestatten sie den bekannten Motiven eine weitere, angemessene Ausdehnung u. beziehen sich auf das allgemeine Gesetz der Vervollkommnung, welches sich dadurch äußert, daß der Sieg weniger von der Totalüberwältigung abhängt, häufiger dagegen, als ehemals, der theilweisen Überwältigung zufällt. Zu allen Zeiten hat die K. in allen ihren Theilen vielfältig eine wissenschaftliche Behandlung erfahren. In der alten Welt waren es die Griechen Thukydides, Xenophon, Polybios, Onosander, Arrianos, Polyänos, Älianos, die Römer Jul. Cäsar, Frontinus, Vegetius; in späterer Zeit: Macchiavelli (1512), Schwendi (1554), Fronsperger (1555), Wallhausen (1616), Manesson Mallet (1645), Turner (1670), Dillichius (1689), Feuquières (1735), Montecuculi (1736), Graf Moritz von Sachsen (1757), Puysegur (1749); in neuerer Zeit vorzüglich Mauvillon, Tempelhof, Lloyd, de Ligne, Friedrich II., Berenhorst, Lossau, Decker, Rühle von Lilienstern, Erzherzog Karl, Napoleon, Kausler, Brandt, Rogniat, Bülow, Chambray, Gouvion St. Cyr, Marmont, Clausewitz, Valentini, Jomini, Okonew, Willisen, After (s.d. a.) u.: A., welche die Kriegsliteratur bereicherten. Über die Geschichte der K. schrieben Hoyer, Brandt, Vaudoncourt, Chambray, Rüstow u.a.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 9. Altenburg 1860, S. 818-820.
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