[862] Stoïker, der Gesammtname einer griechischen Philosophenschule, welchen sie von der Stoa, einer offenen Säulenhalle in Athen, erhielt, in welcher ihr Stifter, Zeno (s.d.) aus Kition, zu lehren pflegte. Der Lehrbegriff dieser Schule wurde von Zeno nur in seinen Grundzügen aufgestellt u. erst von seinen Schülern u. Nachfolgern, namentlich von Kleanthes aus Assos in Troas u. noch mehr von Chrysippos (s. b.) aus Soli in Cilicien weiter ausgebildet. Die Entwickelung der stoischen Lehre fiel in eine Zeit, in welcher das eigentlich speculative Interesse unter den Griechen schon sehr gesunken war, u. es tritt daher in derselben das Bestreben hervor die Philosophie in gemeinverständlicher Form u. mit vorherrschender Rücksicht auf das thätige Leben zu behandeln. Die S. definirten sie als die Kenntniß göttlicher u. menschlicher Dinge u. behielten die seit Plato u. Aristoteles eingeführte Eintheilung derselben in Logik, Physik u. Ethik bei; das größte. Gewicht legten sie auf die Ethik, welcher sie die Physik beiordneten, während sie der Logik als vorbereitender Wissenschaft eine untergeordnete Stelle anwiesen. Die Logik enthält zugleich ihre Theorie der Erkenntniß. Ausgangspunkt der Erkenntniß ist ihnen die sinnliche Empfindung, der Eindruck, welchen die Dinge auf den Vorstellenden machen; gleichartige sinnliche Empfindungen ergeben die Erfahrung; u. daraus entstehen Begriffe, theils unwillkürlich, als die Beschaffenheit der Dinge anticipirende Gesammtvorstellungen (φυσικαὶ προλήψεις), theils absichtlich durch Reflexion (ἔννοιαι, νοήματα). Diejenigen Vorstellungen u. Begriffe, an welche sich unwillkürlich die Zustimmung, das Fürwahrhalten knüpfte, nannten sie die faßlichen, begreiflichen (φαντασία καταληπτική), u. dieses Fürwahrhalten hat verschiedene Grade, deren höchster das Wissen (ὲπιστήμη), als ein festes u. unveränderliches Fürwahrhalten od. als eine systematische Verknüpfung solcher Erkenntnisse ist, welches Zeno mit einer geballten, durch die andere Hand zusammengedrückten Faust verglich. Das Kriterium der Wahrheit war ihnen daher die Unabweisbarkeit theils der sinnlichen Empfindung, theils des vernünftigen Denkens; als Hülfsmittel der Unterscheidung u. Eintheilung der Begriffe betrachteten sie die Kategorien, deren sie im Unterschiede von den 10 Kategorien des Aristoteles vier annahmen; u. da die Sprache das Zeichen für die Vorstellungen ist, insofern sie sich auf die Dinge beziehen, so singen sie an Untersuchungen über die Verschiedenheit der Redetheile u. den grammatischen Bau der Sprache anzustellen u. wurden dadurch die Urheber einer Art von Sprachphilosophie. Ihre Physik (Naturphilosophie u. Theologie) bewegte sich um die beiden Begriffe des Stoffs u. der Kraft; die Materie als das allgemeine, der Welt zu Grunde liegende stoffartige Wesen u. Gott als das thätige u. bildende Princip dachten sie nicht als von einander getrennt existirend, sondern als zu einer Einheit verbunden. Gott ist die ewige, vernünftige, Alles lebendig durchdringende u. harmonisch zusammenhaltende, der Welt immanente Urkraft, die Welt in ihren einzelnen Erscheinungen[862] die Darstellung derselben. Da ferner die S. Alles, was Ursache einer Wirkung ist, Körper nannten, so übertrugen sie den Begriff der Körperlichkeit auch auf die göttliche Urkraft u. bezeichneten, der alten Ansicht des Heraklitos (s.d.) sich anschließend, das gleichsam physikalische Wesen Gottes durch die Vorstellung eines künstlerisch bildenden, vernünftigen Feuers. Die Welt, als die Darstellung der einen, Alles durchdringenden Urkraft, ist eine, u. Alles steht in ihr in genauestem Zusammenhange; aber sie ist vergänglich, weil alle einzelnen Dinge in ihr vergänglich sind. Der Verwandlungsproceß der göttlichen Urkraft in die Welt ist daher an gewisse Perioden gebunden; jede dieser Perioden bezeichneten sie als ein Weltjahr, u. die Zurücknahme alles Gewordenen in die göttliche Urkraft als Weltverbrennung (ὲκπύρωσις); nach Ablauf eines Weltjahrs beginnt eine neue Weltentwickelung in derselben Form. Die Welt ist immer vollkommen, im Ganzen wie im Einzelnen (stoischer Optimismus); hiermit suchten sie das Dasein des Übels u. des Bösen dadurch zu vereinigen, daß sie es als eine Nebenfolge ansahen, welche unvermeidlich sei, wenn das Gute u. Vortreffliche in seinem rechten Lichte erscheinen sollte, auch könne das, was an sich als schlecht u. unvollkommen erscheine, im Verhältniß zum Ganzen gut sein. So enthält die Physik der S. einen Pantheismus, in welchem die Begriffe Kraft u. Stoff, Vorsehung u. Schicksal in einander fließen. Mit den mythologischen Vorstellungen der Volksreligion suchten sie sich dadurch auseinanderzusetzen, daß sie die Götter, deren Erlebnisse u. Thaten durch eine allegorische Auslegung in Naturkräfte u. Naturprocesse verwandelten, u. selbst den Glauben an Vorbedeutungen u. die Wirksamkeit der Dämonen (Mantik) dadurch zu rechtfertigen, daß zwischen dem Vorzeichen u. dem Ereignisse ein natürlicher Zusammenhang bestehe, welchen zu verstehen Sache theils der natürlichen Begabung u. begeisterten Stimmung, theils der Übung u. Kunst sei. Die einzelnen Dinge der Welt haben Theil an der gemeinsamen göttlichen Urkraft; jedem derselben wohnt ein immanentes Gesetz seiner Natur u. seines Werdens, eine wie ein Same sich entwickelnde Vernunft (λόγος σπερματικός) inne, welche sich in den Gebieten des Unbelebten, des Belebten u. des Beseelten in verschiedener Weise zu erkennen gibt. Für den Menschen ist das Charakteristische die Vernunft als der leitende u. regierende Theil der Seele (τὸ ἡγεμονικόν), neben welchem ihm noch sieben Arten. der Lebensäußerung, die fünf Sinne, das Sprachvermögen u. das Fortpflanzungsvermögen, zukommen. Für die Ethik, als die Wissenschaft von dem, was für den Menschen das höchste Gut u. der letzte Zweck ist, stellten sie als obersten Grundsatz ein mit der Natur übereinstimmendes Leben auf. Dieses Princip, dessen Unbestimmtheit auch dadurch nicht verbessert wird, daß sie unter der Natur bald die allgemeine in der Welt verbreitete Vernunft, bald das ihr entsprechende richtige Urtheil über das, was zu thun u. zu lassen sei, verstanden wissen wollten, bekam eigentlich erst dadurch seinen Sinn, daß ihnen die Würde der sittlichen Gesinnung unabhängig von allen andern Motiven feststand u. sie die Glückseligkeit (Eudämonie) von der Tugend, nicht diese von jener abhängig dachten. Die Glückseligkeit ist ihnen nicht Motiv des sittlichen Handelns, sondern eine natürliche u. nothwendige Folge (ἐπιγέννημα) des letztern. Den Gegensatz zwischen dem, was an sich selbst Lob u. Achtung verdient, u. dem, was aus andern Beweggründen vorgezogen wird, faßten sie mit solcher Strenge, daß sie behaupteten, alles Unsittliche sei gleich verwerflich, es gebe nur zwei Klassen von Menschen, gute u. schlechte; wer ein Laster habe, habe sie alle. Diese u. ähnliche Sätze, welche aus einer strengen sittlichen Lebensansicht hervorgingen, bezeichnete man schon im Alterthume als stoische Paradoxa. Sie unterschieden deshalb auch zwischen dem eigentlich Sittlichen u. dem auf Veranlassung natürlicher Triebe (πρῶτα τῆς φύσεως, prima naturae) Vorzuziehenden u. wurden dadurch, daß sie unter den griechischen Philosophen zuerst den Begriff der Pflicht (καϑῆκον) betonten, auf nähere Bestimmungen über den Begriff des Erlaubten als des sittlich Gleichgültigen (ἀδιάφορον) geführt. Das personificirte Ideal der Sittlichkeit führten sie in der Schilderung des Weisen aus; das Gewicht, welches sie auf die sittliche Gesinnung legten, führte sie zu dem, ebenfalls zu ihren Paradoxen gerechneten Satze, daß die Handlungen des Weisen untadelhaft seien, selbst wenn er äußerlich unrecht handle, u. daß ihm eine vollkommene Selbstgenugsamkeit (Autarkie) u. Unempfindlichkeit (Apathie) gegen Alles zukomme, was nicht zur Tugend gehöre; daher man durch den Ausdruck Stoicismus häufig vorzugsweise die ruhige Gleichgültigkeit gegen Schmerzen, Leiden u. Entbehrungen bezeichnet. Fehler u. Laster erschienen ihnen als Schwächen u. Krankheiten der Seele, u. den ausführlichen u. namentlich bei den späteren S-n sehr ins Einzelne, oft selbst ins Kleinliche gehenden Klassificationen u. Definitionen der einzelnen Tugenden steht eine ebenso ausführliche Klassisication der Affecte u. Leidenschaften gegenüber. Obwohl sie die Formen der sittlichen Gemeinschaft, die Freundschaft, die Familie u. den Staat, anerkannten u. ehrten, so tritt doch an die Stelle einer auf die Eigenthümlichkeit einer bestimmten Nationalität gegründeten Politik bei ihnen eine, auf die wesentliche Gleichartigkeit u. Zusammengehörigkeit aller Menschen, vorzugsweise der sittlich Gebildeten, gegründete weltbürgerliche (kosmopolitische) Richtung, welche zum Theil die Folge der durch die macedonische u. römische Herrschaft herbeigeführten Auflösung der älteren Formen des hellenischen Staatslebens war. Endlich, so sehr ihre ganze Ethik auf eine ernste, männliche u. selbständige Lebensführung hinarbeitete, bilden doch noch einen wesentlichen Grundzug derselben die schon bei Kleanthes hervortretenden Mahnungen zu einer ruhigen Ergebung in den Weltlauf, insofern derselbe der Ausdruck einer allgemeinen Gesetzmäßigkeit ist u. den Einzelnen übermächtig ergreift, u. nur da, wo er den Weisen dazu zwänge Unwürdiges zu dulden od. zu thun, gestatten sie ihm sich dieser Nothwendigkeit durch freiwilliges Aufgeben des Lebens, durch Selbstmord (Autocheirie), zu entziehen.
Unter den zunächst auf Chrysippos folgenden Repräsentanten der Stoischen Schule sind vorzugsweise zu nennen Boethos, Zeno aus Tarsus, Diogenes aus Seleucia (gewöhnlich Babylonius genannt), Antipater aus Tarsus, Archidemos, Panätios aus Rhodus, Posidonios aus Apamea. Im 2. Jahrh. v. Chr. fand die Stoische Philosophie auch in Rom Anhänger[863] an Männern, wie L. u. Q. Lucilius Balbus, Serv. Sulpicius, M. Porcius Cato d. Jüng., M. Brutus, M. Terent. Varro; auch Cicero empfahl ihre Ethik in gemilderter Form. Mit dem Skepticismus u. Probabilismus der jüngern Akademie wurden die S. durch ihre Erkenntnißlehre in lange dauernde, aber ziemlich unfruchtbare Streitigkeiten verwickelt, bis in der zweiten Hälfte des 1. Jahrh. v. Chr. durch Philo aus Larissa u. dessen Schüler Antiochos aus Askalon eine Art Verschmelzung beider Schulen herbeigeführt wurde. In den ersten Jahrhunderten n. Chr. war die Ethik der S. unter dem Drucke der Zeit u. immitten eines seinem sittlichen u. politischen Verfall entgegeneilenden Volks- u. Staatslebens für edlere Gemüther eine Quelle der Kräftigung, Stärkung u. der religiösen Ergebung im Ertragen der Übel der Zeit; Vertreter derselben in dieser Zeit sind die Römer L. Annäus Seneca u. L. Musonius Rufus, die Griechen Epiktetos aus Hierapolis u. sein Schüler Arrianos, endlich der edle Kaiser M. Aurelius Antoninus. Vgl. Iust. Lipsius, Manuductio ad Stoic. philos., Antw. 1604; Derselbe, Physiologia Stoic., ebd. 1610; Tiedemann, System der stoischen Philosophie, Lpz. 1776, 3 Bde.; Rud. Schmidt, De Stoic. grammatica, Halle 1839; Casp. Scioppius, Elementa Stoic. philos. moralis, Mainz 1606; Gataker, De disciplina stoica, in seiner Ausgabe des M. Aurel. Anton., Cantabr. 1653; Meyer u. Klippel, Vergleichung der stoischen u. christlichen Moral, Götting. 1833; M. Heinze, Stoicorum de affectibus doctrina, Berl. 1860; K. Wachsmuth, Die Ansichten der S. über Mantik u. Dämonen, ebd. 1860.
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