Lehnswesen

[335] Lehnswesen (Feudal-, Benefizialwesen). Man versteht unter Lehn oder Lehen (Lehnrecht, lat. Feudum, Feodum, Beneficium) das ausgedehnteste erbliche Nutzungsrecht an einer fremden Sache, das sich auf eine Verleihung seitens des Eigentümers gründet, die zugleich zwischen diesem und dem Berechtigten das Verhältnis wechselseitiger Treue hervorruft; auch diese Sache selbst, zumeist ein Grundstück oder ein Komplex von Grundstücken, wird Lehn (Lehnsgut) genannt. Der betreffende Eigentümer ist der Lehnsherr (Lehngeber, dominus feudi, senior), der Berechtigte der Vasall (vassus, vasallus) oder Lehnsmann. Sprachlich hängt der Ausdruck »Lehn« mit »leihen« zusammen, bedeutet also soviel wie geliehenes Gut; über das Wort Feudum (Feodum) s. d. Den Gegensatz zum Lehn bildet das freie Eigentum, Allodium (s. d.). Die dem Vasallen zustehende Berechtigung nähert sich tatsächlich dem Eigentum so sehr, daß man dieselbe geradezu als nutzbares Eigentum (dominium utile) u. das Recht des eigentlichen Eigentümers als Obereigentum (dominium directum) bezeichnet. Die Rechtsgrundsätze über das L. bilden das Lehnrecht im objektiven Sinne.

Das L. ist hervorgegangen aus der Verschmelzung zweier Rechtsinstitute wesentlich germanischen Ursprungs, des Benefizialwesens, der Beleihung (beneficium) mit Kirchengütern, und der Vasallität, die aus der germanischen Gefolgschaft (s. d.) hervorgegangen ist. Durch die Verbindung von Benefizialwesen und Vasallität entstand das mittelalterliche Lehn als ein mit der Verpflichtung zu vasallischer Treue und vasallischen Diensten verliehenes Benefizium. Seit dem 10. Jahrh. wurde die Verpflichtung zum Kriegsdienst auf den Lehnbesitz gegründet. Vom militärischen Gebiet aus hat das L. allmählich das Gebiet der Reichsverhältnisse überhaupt erfaßt; während nämlich anfänglich Gegenstand des Benefiziums nur Grundstücke, dann auch Klöster, Kirchen sein konnten, wurden später auch obrigkeitliche Rechte, namentlich die Grafschaft (s. Graf) und die Herzogswürde, zu Lehn gegeben, so daß sich erbliche Zwischengewalten zwischen der Krone und der Masse der Bevölkerung herausbildeten. So entstand eine besondere Staatsform, die das ganze Mittelalter beherrscht, bis durch die Einführung stehender Heere seit dem 15. Jahrh. der Anstoß zur Beseitigung der politischen Bedeutung des Lehnswesens gegeben wurde. In Frankreich und England brach das Königtum die Macht der Feudalaristokratie. In Deutschland führte das L. mit dem Sinken der kaiserlichen Macht zur Entwickelung der Landeshoheit, in der es in politischer Beziehung schließlich ausging. Durch die Auflösung des Deutschen Reiches wurde der bisher formell erhaltene Reichslehenverband aufgehoben, indem die Fürsten, insoweit sie nicht mediatisiert wurden, aus Vasallen des Reiches zu unabhängigen Trägern der vollen Staatsgewalt wurden und die Lehnsherrlichkeit des Reiches im übrigen auf die neuen Souveräne überging. In privatrechtlicher Beziehung wurde das L. in Frankreich durch die Revolution von 1789 vollständig beseitigt. In Deutschland erfolgte seit Mitte vorigen Jahrhunderts durch die staatliche Gesetzgebung eine Umgestaltung des Lehnswesens, durch die dasselbe seine Bedeutung größtenteils verloren hat (s. Ablösung). In wenigen Ländern, z. B. in Mecklenburg, ist das L. intakt geblieben; im übrigen besteht es unverändert nur bei Thronlehn und andern landesherrlichen Dotations- und Gnadenlehn fort; auch die Kronämter werden vielfach noch zu Lehnrecht verliehen. Alle andern Lehen sind entweder völlig allodifiziert oder doch von der Lehnsherrlichkeit befreit, so daß sie nur noch dem agnatischen Recht unterliegen. Für das öffentliche Recht hat das Lehnrecht praktische Bedeutung nur noch bei Thronfolgefragen, die mangels besonderer hausgesetzlicher Normen nach altem Reichslehnrecht beurteilt werden.

Die Quellen des deutschen Lehnrechts sind außer der Rechtsübung insonderheit die Lehnrechtsbücher[335] des Sachsenspiegels und Schwabenspiegels, der Recht steig Lehnrechts, eine Darstellung des gerichtlichen Verfahrens in Lehnssachen aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrh., das sogen. Kleine Kaiserrecht (s. Kaiserrecht), das Görlitzer Lehnrecht (s. d.) und vor allem das langobardische Lehnrecht, enthalten in den Libri (consuetudines) feudorum, einer aus den Gesetzen der Kaiser Konrad II., Lothar 111. und Friedrich Barbarossa und aus der Praxis der Mailänder Kurie durch die Jurisprudenz in Pavia und Mailand von 1166 geschaffenen Kompilation. Dazu kamen dann noch zahlreiche Partikulargesetze.

[Wesentliche Grundsätze des Lehnrechts.] Zu einem Lehn im eigentlichen Sinne des Wortes (feudum proprium, rectum, verum) im Gegensatz zu andern abgeleiteten Besitzformen (feudastra) gehören als wesentliche Erfordernisse (essentialia feudi): ein lehnbarer Gegenstand, aktive Lehnsfähigkeit des Herrn und passive Lehnsfähigkeit des Vasallen, die Einräumung ausgedehntester Nutzungsrechte (Nutzeigentum) und die Begründung des wechselseitigen Verhältnisses der Lehnstreue (fidelitas feudalis). Ursprünglich galten nur Liegenschaften als lehnbar, insbes. Gebäude (feudum aedificii, Gebäudelehn; feudum kemenatae, Kemnatslehn, dessen Gegenstand ein steinernes, meist zur Privatverteidigung befestigtes Haus war), eine Burg (f. castri, Burglehn; f. aperturae, Öffnungslehn, bei welchem dem Lehnsherrn das Recht zustand, im Notfall zu der Lehnburg seine Zuflucht zu nehmen und eine Besatzung in dieselbe zu legen). Mit dem Burglehn nicht zu verwechseln ist das Burghutlehn (f. castrense), bei dem der Vasall gegen die Verpflichtung, die Burg zu bewachen und zu verteidigen, vom Burgherrn Grundstücke oder Gefälle zu Lehn erhielt. Der Begriff der objektiven Lehnsfähigkeit wurde aber später erweitert auf alle Gegenstände und Rechte, welche die Möglichkeit einer fortdauernden Nutzung gewähren, insbes. auch auf staatliche Hoheitsrechte (Regallehn; vgl. Fahnenlehn und Zepterlehn). Von den Lehen an unkörperlichen Sachen sind besonders zu nennen: das Amtslehn, Ambachtslehn (f. officii), dessen Gegenstand ein Amt, namentlich ein Hofamt, aber auch ein andres Amt (Schulzenlehn, Bürgermeisterlehn) ist, das Zehntlehn (f. decimarum), das ein Zehntrecht zum Gegenstand hatte, das Jagdlehn (f. venationis), das Rentenlehn (f. annuae praestationis, besonders als Geldlehn, f. pecuniarum, konstituiert), das Wappenlehn (f. insignium), Vogteilehn (f. advocatiae), Gerichtslehn (f. jurisdictionis), das Postlehn (f. postarum, bezüglich der Reichsposten dem Hause Thurn und Taxis verliehen). Von Lehn an Kirchensachen und kirchlichen Rechten (feuda ecclesiastica, Kirchenlehn, Stiftslehn) sind zu nennen: das Patronatslehn (f. juris patronatus), dessen Gegenstand das Patronatsrecht (s. d.) hinsichtlich gewisser Kirchenbenefizien ist, das Altarlehn (f. altaragii), bei dem das Patronat über die zu bestimmten Altären gehörigen Stiftungen verliehen wird, das geistliche Zehntlehn u.a. Zur Lehnsfähigkeit des Lehnsherrn (aktive Lehnsfähigkeit) wird erfordert: Dispositionsbefugnis in Ansehung des Gegenstandes und die Fähigkeit zum Erwerb jener Rechte und zur Eingehung jener Verpflichtungen, die durch das Lehnsverhältnis begründet werden. Nach der Verfassung mehrerer deutscher Staaten (z. B. Bayern) steht die aktive Lehnsfähigkeit prinzipiell nur dem Landesherrn zu, und nur zugunsten gewisser Klassen von Staatsangehörigen (z. B. der standesherrlichen Familien) sind Ausnahmen gemacht. Hierauf beruht die Unterscheidung von Staatslehn und Privatlehn. Die passive Lehnsfähigkeit setzt die für den Gegenstand des Lehns erforderliche Erwerbsfähigkeit sowie die Fähigkeit, den aus der Lehnstreue entspringenden persönlichen Verpflichtungen nachzukommen, voraus. Absolut unfähig sind diejenigen, denen jene Erwerbsfähigkeit fehlt, und Ehrlose. Nur relativ unfähig sind solche Personen, denen bloß die Fähigkeit zur Leistung der Lehnsdienste mangelt, da auf diese der Lehnsherr verzichten kann, wie z. B. Gebrechliche, Frauen, Unreife, Geistliche, juristische Personen, Ketzer und bei Ritter- oder Helmlehen (feuda nobilia) alle nicht ritterbürtigen Personen. Der Vertrag, durch den eine Belehnung vereinbart wird, heißt Lehnvertrag (Lehnkontrakt, contractus feudalis); derselbe kann insbes. auf einem Kauf oder Tausch beruhen; im Mittelalter kam auch häufig die sogen. Lehnsauftragung (oblatio feudi) vor, darin bestehend, daß jemand, um sich unter den Schutz eines mächtigern Lehnsherrn zu begeben, diesem sein Allod zu Eigentum übertrug, um es als Lehn zurückzuempfangen. Die Errichtung (Begründung des Rechtes am Lehngut und des Treuverhältnisses) erfolgt regelmäßig durch die Investitur (constitutio feudi, infeudatio), die ursprünglich in dem Mannengericht (Lehngericht, Lehnkurie, Lehnhof) vor den Vasallen, später aber in der Lehnkanzlei stattfand. Der Akt der Investitur besteht in der feierlichen Erklärung des Lehnsherrn, die Sache dem Vasallen zu Lehn zu geben (actus traditions), und dem, regelmäßig eidlichen, Versprechen der Lehnstreue (Lehneid, homagium, vasallagium) seitens des Vasallen (actus inaugurationis). Ist die Eidespflicht erlassen, so spricht man von Handlehn (feudum in juratum). Zur Bekräftigung des Belehnungsaktes und als Beweisurkunde über denselben wird vom Lehnhof ein Lehnbrief (litterae in vestiturae) in herkömmlicher solenner Form ausgestellt. Hiervon zu unterscheiden sind: der Lehnschein (Rekognitionsschein), der bis zur Ausfertigung des Lehnbriefs vorläufig über die Belehnung ausgestellt wird, das Lehnprotokoll, d.h. das über den Belehnungsakt unter öffentlicher Autorität aufgenommene Instrument, von dem der Lehnbrief ein Auszug ist, der Lehnrevers (Gegenbrief), in dem der Vasall den Empfang des Lehns und seine Verpflichtung zur Lehnstreue bekennt, das Lehndinumerament (Lehnsinventar, Spezifikation), ein Verzeichnis der in der Investitur inbegriffenen Gegenstände. Besondere Arten der Investitur sind die Koinvestitur und die Eventualbelehnung. Erstere (investitura simultanea) ist diejenige Investitur, die gleichzeitig an dem nämlichen Gegenstand mehreren Personen erteilt wird. Hier werden die mehreren Beliehenen nach ideellen Teilen an dem Lehngut berechtigt, ohne daß zwischen ihnen etwa ein wechselseitiges Erbrecht in Ansehung des letztern begründet würde (Mitbelehnung, coinvestitura juris communis oder juris langebardici). Verschieden davon ist die coinvestitura juris germanici, die sogen. Gesamtbelehnung, bei der ursprünglich die mehreren Belehnten das gesamte vasallische Recht ungeteilt erhielten und der wegfallende Teil eines Gemeiners den übrigen anwuchs, während nach einer schon frühzeitig entwickelten leichtern Form, der sogen. Belehnung zur gesamten Hand, nur einem oder einigen der zugleich Belehnten der wirkliche [336] Besitz und Genuß des Lehns eingeräumt wurde, die übrigen (Gesamthänder) nur eventuelle Sukzessionsrechte erwarben. Bei der erstern Form der Gesamtbelehnung hob eine Teilung des Lehns selbst (Tatteilung, Lotteilung, Grundteilung) die Gemeinschaft und mit ihr das gegenseitige Anwachsungsrecht auf, wogegen eine Teilung der Nutzungen (Mutschierung [s. d.], Örterung) diese Wirkung nicht hatte. Die Eventualbelehnung ist eine Investitur für die Eventualität des Heimfalls eines Lehns, d.h. eine an einer bereits verliehenen Sache für den Fall vorgenommene Investitur, daß die Rechte des dermaligen Vasallen und seiner Nachkommenschaft erlöschen sollten. Verschieden davon ist die sogen. Lehnsexspektanz (Lehnsanwartschaft, exspectativa feudalis), die darin besteht, daß jemand einem andern für den Fall, daß ihm ein gewisses Lehn heimfallen werde, die Belehnung damit verspricht.

Die Summe der Rechte des Lehnsherrn ist die Lehnsherrlichkeit. Nicht zu verwechseln damit ist die Lehnshoheit, d.h. das dem Staate zustehende Hoheits- und Aufsichtsrecht über alle Lehen innerhalb des Staatsgebiets. Der Person des Vasallen gegenüber hat der Lehnsherr das Recht auf Lehnstreue, deren Bruch Felonie (s. d.) genannt wird, auf Ehrerbietung (Lehnreverenz) und Lehngehorsam, d.h. auf Leistung von Kriegs- und Hofdiensten. Diese Kriegsleistungen wurden mit der Zeit in Geldleistungen verwandelt (»adäriert«).

Der Lehnsherr kann ferner von dem Vasallen bei Verlust des Lehns die Lehnserneuerung (renovatio investiturae) fordern und zwar sowohl bei Veränderungen in der Person des Lehnsherrn (Veränderungen in der herrschenden Hand, Herrenfall, Hauptfall, Thronfall) als auch bei Veränderungen in der Person des Vasallen (Veränderung in der dienenden Hand, Lehnsfall, Vasallenfall, Nebenfall). In jedem dieser beiden Fälle muß der Vasall binnen Jahr und Tag (1 Jahr 6 Wochen 3 Tage) ein schriftliches Gesuch (Lehnsmutung) einreichen und um Erneuerung der Investitur bitten; doch kann die Frist auf Nachsuchen durch Verfügung des Lehnsherrn (Lehnsindult) verlängert werden. Partikularrechtlich ist der Vasall dabei, abgesehen von den Gebühren für die Wiederbeleihung (Schreibschilling, Lehntaxe), zuweilen auch zur Zahlung einer besondern Abgabe (Laudemium, Lehngeld, Lehnware, Handlohn) verpflichtet. Das Eigentum des Lehnsherrn am Lehnsgut zeigt sich insbes. in seinem Revokationsrecht bei unerlaubter Veräußerung, in dem Recht zur Lehnvisitation bei vorkommenden Deteriorationen, in dem Retraktrecht (Lehnretrakt, s. Näherrecht) und in dem Rechte der Konsolidation (s. unten) für den Fall der Erledigung des Lehns oder des Verlustes desselben wegen Felonie des Vasallen; letzternfalls muß der Lehnsherr die Privationsklage stellen und der Vasall durch richterliches Urteil des Lehns für verlustig erklärt werden.

Der Vasall hat gemeinrechtlich (anders in neuern Partikularrechten) dem Lehnsherrn gegenüber ebenfalls den Anspruch auf Treue, die sich insbes. in der Gewährung von Schutz äußert (Lehnprotektion), und ein Bruch derselben zieht für den Lehnsherrn den Verlust seines Obereigentums nach sich. Am Lehnsobjekt hat der Vasall das nutzbare Eigentum, welches das Recht auf vollkommenen Gebrauch und Fruchtgenuß gewährt. Dagegen ist der Vasall ohne Einwilligung des Lehnsherrn nicht zur Veräußerung der ihm am Lehn zustehenden Rechte (durch Übertragung des dominium utile, Einräumung eines erblichen Kolonats, Verpfändung) befugt. Unerlaubte Veräußerung ist nichtig; dem Lehnsherrn steht die unverjährbare Revokationsklage (actio revocatoria feudi) gegen den Erwerber zu. Überdies ist zu einer Veräußerung des Lehns die Zustimmung sämtlicher Agnaten, d.h. der lehnfolgefähigen Seitenverwandten des Vasallen, die mit ihm zusammen vom ersten Empfänger des Lehns (primus acquirens) abstammen, erforderlich. Ebensowenig wie der Vasall das Lehn unter Lebenden veräußern darf, kann derselbe letztwillig darüber verfügen. Die aus dem Lehnverband entspringenden Rechte und Pflichten können durch Stellvertreter ausgeübt werden, die entweder einfache Bevollmächtigte (Mandatare) sind (Lehnsubstituten, Lehnbevollmächtigte, Lehnpfleger) oder solche, welche die betreffenden Rechte und Pflichten kraft selbständigen Rechts und in eignem Namen ausüben (prodomini, provasalli, Lehnträger).

Der Übergang eines schon konstituierten Lehns auf einen neuen Vasallen heißt Lehnfolge (Lehnsukzession, successio feudalis). Solange ein Lehn sich in der Hand des ersten Empfängers befindet, wird es Neulehn (feudum novum) genannt, während das in dem Besitz eines Deszendenten befindliche Lehn als Alt- oder Stammlehn (feudum antiquum, paternum) bezeichnet wird. Das Lehnfolgerecht, d.h. das Recht gewisser Personen, im Erledigungsfalle in das Recht des verstorbenen Vasallen zu sukzedieren, ist im Gegensatz zum Intestaterbrecht ein unentziehbares, auf der Investitur des Stammvaters (primus acquirens) beruhendes Recht (successio ex pacto et providentia majorum). Zur Lehnfolge berufen sind sämtliche lehnfähigen Deszendenten des ersten Erwerbers, durch den Investiturakt können auch die Seitenverwandten des primus acquirens zur Lehnfolge berufen werden (feudum novum jure antiqui concessum). Die Lehnfolgefähigkeit setzt Abstammung aus gültiger Ehe und Lehnsfähigkeit (s. oben) voraus. Das Lehnfolgerecht ist regelmäßig auf den Mannesstamm beschränkt; durch den Investiturvertrag können auch Weiber und weibliche Linien berufen sein (Weiberlehn, Kunkellehn), sei es stillschweigend, indem das Lehn zuerst einem Weibe verliehen wird (feudum femineum), oder ausdrücklich (feudum femininum). Welche von den in abstracto berechtigten Personen zur Lehnfolge gelangt, bestimmt die Lehnfolgeordnung. Zunächst werden berufen die Deszendenten des verstorbenen Vasallen. Sind keine Deszendenten vorhanden, so kommen die agnatischen Seitenverwandten des Erblassers an die Reihe, aber immer nur diejenigen, die mit dem Erblasser zusammen von dem ersten Empfänger des Lehns abstammen. Nach der herrschenden Lehre entscheidet dabei zunächst die Nähe der Linie oder der Parentel. Innerhalb der Linie aber entscheidet dann die Gradesnähe (sogen. Lineal-Gradualsystem, Parentelenordnung). Werden bei dem Tod eines Vasallen verschiedene Personen zur Lehn- und zur Allodialerbfolge berufen, so muß eine sogen. Lehnsonderung, d.h. eine Ausscheidung des Lehngutes von dem Allodialvermögen, vorgenommen werden. Die schon perzipierten Früchte gehören zum Allod, die noch nicht perzipierten (natürlichen) Früchte fallen dem Allodialerben zu, wenn der Tod des Vasallen in die Sommerhälfte des Jahres fällt, sonst (gegen Erstattung der Bestellungskosten) dem Lehnfolger. [337] Schulden des Vasallen ergreifen das Lehn nur dann, wenn sie Lehnschulden sind, d.h. die Ansprüche der an und für sich zur Lehnfolge berufenen, aber wegen Gebrechlichkeit davon ausgeschlossenen Personen auf die Verabreichung von Alimenten. Partikularrechtlich gehören auch die Verpflichtung zur Alimentation und Ausstattung von Töchtern früherer Vasallen, die Pflicht zur Auszahlung des Leibgedinges oder Wittums an die Witwe des verstorbenen Vasallen und die Verbindlichkeit zur Zahlung der Begräbniskosten und der Kosten der letzten Krankheit desselben zu den Lehnschulden. Auch die durch eine sogen. Lehnverbesserung, d.h. durch einen von dritten, hierzu nicht verpflichteten Personen in das Lehn gemachten Aufwand, begründete Schuld gilt als Lehnschuld. Die Abfindungssumme für einen an sich Lehnfolgeberechtigten wird nicht selten als sogen. Lehnstamm (constitutum feudale) auf dem Gut eingetragen.

Eine Beendigung des Lehnsverhältnisses wird durch den Untergang der Sache, durch gültige Veräußerung derselben zum Allod und durch Ersitzung des Eigentums an dieser Sache durch einen Dritten herbeigeführt. Außerdem wird der Lehnsverband zwischen zwei Personen durch Konsolidation (Heimfall des Lehns, Inkorporation, Inkameration) aufgehoben, d.h. dadurch, daß das nutzbare Eigentum des Vasallen wieder mit dem Obereigentum des Lehnsherrn vereinigt wird, dieser also wieder volles Eigentumsrecht erhält. Vgl. außer den Lehrbüchern des deutschen Privatrechts: Böhmer, Principia juris feudalis (1765; 8. Aufl. von Bauer, Götting. 1819); Weber, Handbuch des in Deutschland üblichen Lehnrechts nach den Grundsätzen G. L. Böhmers (Leipz. 1807–18, 4 Bde.); Pätz, Lehrbuch des Lehnrechts (2. Aufl., Götting. 1819); Mayr, Handbuch des gemeinen und bayrischen Lehnrechts (Landshut 1831); Zachariä, Handbuch des königlich sächsischen Lehnrechts (1796; 2. Ausg. von Weiße und v. Langenn, Leipz. 1823); P. Roth, Mecklenburgisches Lehnrecht (Rostock 1858); Kremer, Das longobardisch-österreichische Lehnrecht (Wien 1838, 2 Tle.); Menzel, Die Entstehung des Lehnswesens (Berl. 1890); K. Lehmann, Das langobardische Lehnrecht (Götting. 1896).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 12. Leipzig 1908, S. 335-338.
Lizenz:
Faksimiles:
335 | 336 | 337 | 338
Kategorien:
Ähnliche Einträge in anderen Lexika

Buchempfehlung

Diderot, Denis

Die Nonne. Sittenroman aus dem 18. Jahrhundert

Die Nonne. Sittenroman aus dem 18. Jahrhundert

Im Jahre 1758 kämpft die Nonne Marguerite Delamarre in einem aufsehenerregenden Prozeß um die Aufhebung ihres Gelübdes. Diderot und sein Freund Friedrich Melchior Grimm sind von dem Vorgang fasziniert und fingieren einen Brief der vermeintlich geflohenen Nonne an ihren gemeinsamen Freund, den Marquis de Croismare, in dem sie ihn um Hilfe bittet. Aus dem makaberen Scherz entsteht 1760 Diderots Roman "La religieuse", den er zu Lebzeiten allerdings nicht veröffentlicht. Erst nach einer 1792 anonym erschienenen Übersetzung ins Deutsche erscheint 1796 der Text im französischen Original, zwölf Jahre nach Diderots Tod. Die zeitgenössische Rezeption war erwartungsgemäß turbulent. Noch in Meyers Konversations-Lexikon von 1906 wird der "Naturalismus" des Romans als "empörend" empfunden. Die Aufführung der weitgehend werkgetreuen Verfilmung von 1966 wurde zunächst verboten.

106 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon