Freie Gemeinden

[674] Freie Gemeinden, religiöse Gemeinden, die sich von den bestehenden Landeskirchen losgesagt u. eine neue Gemeinschaft gebildet haben. A) In der Protestantischen Kirche entstanden F. G. dadurch, daß, bes. in Preußen, die streng kirchliche Partei seit 1840 immer mehr darauf drang, genau nach den Symbolischen Büchern zu lehren u. die Vorschriften der Agende zu beobachten. Diesen Bestrebungen wirkten theils die Protestantischen Freunde (s.d.), theils einzelne Geistliche entgegen, u. da einige der Letzteren ihr Amt verloren, so sammelten sich um sie gleichgesinnte Gemeindeglieder zu F-n G. Die erste F. G. entstand nach der Beendigung des Verfahrens gegen Rupp in Königsberg den 16. Jan. 1846, an der sich außer Rupp bes. Dinter, Motherby, Wechsler u. Sauter als Führer betheiligten. Andere Gemeinden dieser Art bildeten sich 1846 in Halle unter Wislicenus, 1847 in Nordhausen unter Baltzer, in Halberstadt unter Wislicenus jun., in Marburg unter Professor Bayrhoffer, in Magdeburg unter Pfarrer Uhlig u. an mehreren kleinen Orten meistens wegen Mißhelligkeiten mit dem Kirchenregiment u. durch äußere Anregung. Schon 1847 traten diese verschiedenen Gemeinden zu einer Conferenz in Nordhausen vom 6.–8. September zusammen. Außer den oben genannten Städten waren auch aus Neumarkt in Schlesien, aus Wismar, aus Hamburg u. Altona Abgeordnete u. zugleich mehrere Freunde der Reform gegenwärtig; als Zweck wurde ausgesprochen, die geistige Einheit aller F-n G. zum Bewußtsein zu bringen u. das Leben derselben durch gegenseitige Mittheilung u. freie Verbindung zu befördern, u. man beschäftigte sich vorzugsweise über das die F-n G. Einigende, über das Verhältniß zum Staate, über die gemeinschaftliche Verfassung, über die Schule etc., ohne daß jedoch über principielle Fragen, als dem Wesen der F-n G. widersprechend, etwas festgesetzt wurde. Durch die Bewegungen des Jahres 1848 empfing das Freie-Gemeindewesen eine neue Anregung, u. es herzogthum Hessen, in Danzig u. anderwärts. Auch gaben die Grundrechte diesen Bestrebungen eine neue Anregung. Bei Weitem wichtiger für die Verbreitung u. Entwickelung der F-n G. wurden die Jahre 1849 u. 1850, wo bei dem politischen Stillstand die kirchliche Agitation hervortrat. Von jetzt an ging die Demokratie u. das Freie-Gemeindenthum ganz offen Hand in Hand; neue Gemeinden bildeten sich fast gleichzeitig an vielen Orten, z.B. in Berlin, Chemnitz, Dresden, Leipzig, Darmstadt, Wien, Nürnberg, München; politische Verbindungen verwandelten sich in religiöse Vereine, die immer heftiger werdende Polemik richtete sich nicht mehr gegen die Evangelische Kirche, sondern gegen das Christenthum selbst, u. allmälig schloß sich der Deutschkatholicismus dieser ihm verwandten Richtung an. Diese Veränderung zeigte sich bei der zweiten Conferenz der F-n G. in Halberstadt den 3. u. 4. Octbr. 1849, wo 12 Gemeinden durch 9 ihrer Prediger vertreten waren u. wo das religiöse Element ganz zurückgestellt, die von den anwesenden deutschkatholischen Predigern u. Anderen befürwortete Vereinigung mit den Deutschkatholiken angebahnt u. der freie Geist, die freie Liebe, die freie Gemeinschaft als Mittel die Welt zu erlösen u. zu beseligen empfohlen, dagegen die Form, die Satzung, das Priesterthum, die Kirche als nicht zum Heil führend verworfen wurde. Auf der letzten Conferenz, welche am 22. Mai 1850 in Leipzig begann u. später wegen einzelner Ausweisungen in Köthen fortgesetzt wurde, wurde die Verbindung mit den Deutschkatholiken zu einer Religionsgesellschaft freier Gemeinden durchgesetzt, doch fand der damals erlassene Aufruf an das deutsche Volk nicht viel Anklang, da den F-n G. allgemein der Vorwurf gemacht wurde, daß sie Deckmantel politischer Gemeinschaft seien. Als Bekenntniß statt des Apostolischen Symbolums wurde der Satz aufgestellt: Ich glaube an Gott u. sein ewiges Reich, wie es Jesus Christus in die Welt eingeführt hat; für Gottesverehrung, Taufe u. Abendmahl wurde Freiheit verlangt u. Mannigfaltigkeit der Form, die alten Bekenntnisse sollten in evangelischer Freiheit geehrt werden etc. Allein sehr bald wich man in den einzelnen Gemeinden davon ab. So fand die Ruppsche Gemeinde in Königsberg in der Heiligen Schrift, als reinem Menschenworte, nur die Quelle für den Glauben an die Einheit Gottes u. für die Sittengesetze; die Hallische Gemeinde betrachtete die Taufe als eine kirchliche Sitte u. suchte sehr bald mit ihrem Cultus eine heitere zwanglose Geselligkeit zu verbinden; die Bayrhoffersche Richtung in Kurhessen verwarf den christlichen Dualismus, d.h. den Glauben an einen persönlichen Gott außer dem Menschengeist u. der Welt, u. redete in der Hegelschen Sprachweise einem zu erstrebenden Humanismus das Wort. Trotz der Verbindung der F-n G. unter einander, wobei man die unbedingte, durch die sittliche That sich offenbarende Freiheit des menschlichen Geistes, als einigendes Princip hinstellte, suchte man doch den einzelnen F-n G. die Selbständigkeit zu erhalten u.[674] nahm deshalb die Formel in das Statut auf, daß man die Wahrheit noch nicht gefunden habe, sondern suche. Für die Organisation der F-n G. wurde durch eine Gemeindeordnung gesorgt, die ihrem Princip nach auf der vollständigsten u. freiesten Selbstregierung in ihrer Gesammtheit beruhte. So haben nach dem Nordhäuser Statut alle Gemeindemitglieder, welche verheirathet od. 20 Jahre alt sind, actives u. passives Wahlrecht u. beide Geschlechter gleiche Berechtigung; die Repräsentanten der Gemeinde können jederzeit durch die Majorität der Stimmfähigen von ihrem Amte entfernt werden, der Sprecher od. Prediger steht auf halbjähriger gegenseitiger Kündigung u. sein Verhältniß muß sich im letzten Tage jedes Monats erneuern, die Abstimmungen auf allgemeinen Conferenzen sind für die einzelnen Gemeinden nicht bindend, sie werden denselben nur als Meinungsäußerungen od. als Vorschläge mitgetheilt. Die Differenzen mit dem Kirchenregiment, welche der Austritt der Glieder der F-n G. aus den Landeskirchen herbeiführte, veranlaßte Änderungen in der Gesetzgebung, u. in Preußen erschien das Toleranzedict vom 30. März 1847 u. eine Verordnung zur weiteren Ausführung, worin die bürgerliche Beglaubigung der Geburts- u. Sterbefälle durch Eintragung in ein gerichtlich zu führendes Register für die Gemeinden, deren Geistlichen nicht zusteht, die auf bürgerliche Rechtsverhältnisse sich beziehenden Amtshandlungen mit civilrechtlicher Wirkung vorzunehmen, angeordnet u. bestimmt wurde, daß kein Beamter, weil er sich einer Dissidentengemeinde angeschlossen habe, in dem mit seinem Amte verbundenen Rechte eine Schmälerung erleiden dürfe, sofern nicht das Amt selbst, wie z.B. bei den Schullehrern, durch eine bestimmte Confession bedingt ist, worauf ein späteres Ministerialrescript allen Lehrern, die den Dissidenten angehörten, ihre Stellen an den katholischen, protestantischen u. Simultanschulen aufzugeben befahl. Der Umschwung des Jahres 1848 u. namentlich das Erscheinen der Grundrechte, hatte den F-n G. manche Erleichterung, z.B. die ungehinderte Bildung neuer Gemeinden u. die Mitbenutzung evangelischer Kirchen etc. gebracht, allein die veränderte Richtung der F-n G. veranlaßte sehr bald die Staatsregierungen zu strengeren Maßregeln, u. seit 1850 erfolgten fast in allen Staaten Beschränkungen, so z.B. in Baiern, wo man ihre Taufe nicht als gültig anerkannte, u. im Großherzogthum Hessen, wo Excesse militärische Hülfe nöthig machten u. wo man das Auftreten der Reiseprediger untersagte. In Preußen blieb das Toleranzedict in Geltung, indeß bestimmte der Erlaß des Oberkirchenrathes vom 10. Juni 1851, daß die Mitglieder der F-n G. an keinem Acte der evangelischen Landeskirche, weder am Abendmahl, noch als Taufzeugen an der Taufhandlung Antheil nehmen u. die evangelischen Geistlichen weder Trauungen noch Leichenbestattungen bei ihnen verrichten dürfen; dem Geistlichen der F-n G. ist nicht gestattet, eine Rede auf einem evangelischen Kirchhofe zu halten u. bei einer Wiederaufnahme in die Evangelische Kirche findet eine besondere Prüfung statt. Jedoch wurde später der Rücktritt sehr erleichtert. Ähnliche Verordnungen erschienen 1851 im Anhaltschen, im Königreich Sachsen, in Altenburg u. anderwärts. In Folge dieser Maßnahmen lösten sich mehrere F. G. auf, andere kamen in Conflicte mit den Staatsregierungen, bes. wegen unbefugter Amtshandlungen, u. in Sachsen wurden sie durch Gesetz des Ministeriums des Innern vom 11. Aug. d. I. wegen ihres mit dem Staatswohle unverträglichen Gebahrens aufgelöst u. verboten. Außerdem wurde aber auch das Leben in den F-n G. immer matter, u. die Streitigkeiten in der Magdeburger Gemeinde, welche als politischer Verein 1855 definitiv geschlossen wurde, über die Beibehaltung od. Beseitigung des Namens christlich, schwächten die Theilnahme ab. Eine Conferenz, welche 1858 von den Führern der F-n G. in Gotha gehalten wurde, scheint keine wichtigen Ergebnisse geliefert zu haben. Im Allgemeinen hat sich die Theilnahme an den F-n G. nicht in der Weise gezeigt, wie man sie erwartete, u. namentlich sind die Gebildeten, welche vormals dem religiösen Liberalismus angehörten, zum großen Theil von diesen Tendenzen zurückgekommen. Dies ist aber auch von den meisten Geistlichen der F-n G. geschehen, welche zum Theil wieder zur Protestantischen Kirche zurückgetreten sind. In literarischer Hinsicht ist die Angelegenheit der F-n G. in einer Menge von Broschüren behandelt worden. Ihre Organe waren: die Reform von Baltzer, die Freie Kirche von Rauch, das Sonntagsblatt von Uhlig.

B) In der Reformirten Kirche sind gleiche Lossagungen von der Staatskirche vorgekommen, u. zwar: a) in der Schweizerischen Kirche, wo in Waadt, in Folge der Februarrevolution 1845, der größte Theil der Geistlichkeit im September d. I. aus der Staatskirche austrat, welche die sogenannte Nationalkirche, im Gegensatz zu der Staatskirche, gründeten, s.u. Waadt; sodann b) in der Schottischen Kirche, wo seit 1843 von Dav. Welsh u. Thom. Chalmers geleitet die Freie Kirche neben der Staatskirche besteht, s.u. Schottische Kirche.

Auch im Schoße C) der Anglicanischen Kirche zeigten sich seit 1844 Bestrebungen, die freilich in anderem Sinne, als die deutschen F-n G., ebenso gegen den Puseyismus u. Katholicismus, wie auf die Reformation der Staatskirche gerichtet waren u. eine Union (Evangelical Alliance) mit einer allen evangelischen Parteien ziemlich schon gemeinsamen evangelischen Lehrsumme erzielen wollten. Diese mehrfach auseinander gehenden Bestrebungen einigten sich auf der Versammlung zu Liverpool am 16. Jan. 1846 unter Sir Culling Fardley Smith u. Prediger Bickersteth dahin, daß in dieser Freien Kirche (Free Church) sich die christlich gläubigen Individuen als Repräsentanten der unsichtbaren Kirche einigen sollten, in welcher die allgemeinwesentlichen Lehren des positiven Christenthums von den anderen geschieden sein u. auf eine heilge allgemeine Christenkirche gegründet werden sollte, s. Evangelischer Bund.

D) In der Römisch-katholischen Kirche ist in neuester Zeit das Freie-Gemeindewesen vorzüglich in Deutschland in dem Deutschkatholicismus hervorgetrelen, s.u. Deutschkatholiken; früher in Frankreich in der Kirche Chatels u. Anzous, s. Gallicanische Kirche. Endlich hat sich auch eine freie Richtung unter den Czechen in Böhmen laut gemacht, welche das Andenken an Huß treu bewahrten u. bes. seit 1848 für Reformen der Katholischen Kirche ihre Stimme erhoben.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 6. Altenburg 1858, S. 674-675.
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