Russische Kirche

[278] Russische Kirche. Die erste nähere Bekanntschaft mit dem Christentum und zwar nach griechischem Ritus brachte Olga (s. d.), die Witwe des Großfürsten Igor, 955 nach Rußland. Ihr Enkel Wladimir I., der 988 von griechischen Priestern die Taufe erhielt, zwang sein Volk zur Annahme des christlichen Kultus. In der Hauptstadt Kiew wurde ein Metropolit eingesetzt, der unter dem Patriarchen zu Konstantinopel stand. Das Höhlenkloster (Petschers) in Kiew ward seit der Mitte des 11. Jahrh. der Mittelpunkt der christianisierenden Bestrebungen, die auch unter der Tatarenherrschaft (1328–1480) keine Störung erlitten. Der Sitz des Metropoliten wurde 1299 von Kiew nach Wladimir, 1328 nach Moskau verlegt. Der Fall von Konstantinopel 1453 erschütterte den Einfluß des Patriarchen, aber erst nachdem sich Iwan IV. 1547 von seinem Metropoliten hatte als Zar krönen lassen, kam es 1589 zur Errichtung eines selbständigen russischen Patriarchats, dessen Inhaber sich im Laufe des 17. Jahrh. einen beträchtlichen politischen Einfluß zu sichern wußten (s. Nikon). Peter d. Gr. ließ nach dem Tode des Patriarchen Adrian (1700) dessen Stuhl unbesetzt und errichtete 1721 den allerheiligsten dirigierenden Synod als höchste Kirchenbehörde. Die Grundlagen der hierarchischen Ordnung und synodalen Oberleitung blieben bestehen; aber der Kirchenverfassung wurde ihre Spitze abgebrochen, indem die kirchliche Oberherrlichkeit des Patriarchen auf den Zaren überging. Katharina II. zog alles Kirchengut an sich (1764), wogegen sie für alle geistlichen Stellen und Stiftungen einen festen, für die niedern Grade äußerst geringen Gehalt auswarf; aber da sie zu gleicher Zeit die Versorgung der Invaliden übernahm und auf Staatskosten Priesterseminare gründete, erlitt die Kirche wenigstens keinen bedeutenden materiellen Nachteil. Peter d. Gr. bewilligte 1702 den Katholiken und Protestanten freie Religionsübung im ganzen Reich. In der Tat aber bewegte sich die Duldung fremder Konfessionen bis in die jüngste Zeit in engen Grenzen. Schon nach der ersten Teilung Polens (1772) strebte Katharina II. danach, die neugewonnenen Teile Polens durch die Religion fester an Rußland zu ketten, und es gelang ihr, über eine Million Polen zur Trennung von der römischen Kirche zu bestimmen. Der Kaiser Nikolaus I. führte auf der Synode zu Polozk (1839) sogar 2 Millionen unterster Griechen zur orthodoxen Kirche zurück. Die Protestanten aber erlitten namentlich in den Ostseeprovinzen eine bis heute anhaltend sich steigernde Bedrückung; die lettische und esthnische Landbevölkerung wurde sogar 1845 von den Popen durch die Vorspiegelung von Landerwerb zum Übertritt zur russischen Kirche bewogen. Besonders wird innerhalb des kaiserlichen Hauses die r. K. begünstigt: russische Prinzessinnen, die sich mit Fürsten andrer Konfessionen vermählen, dürfen nie zu deren Glaubensbekenntnis übergehen; dagegen müssen alle Prinzessinnen, die durch Heirat in die kaiserliche Familie eintreten, das griechische Bekenntnis annehmen. Die vom Zaren bestätigte Resolution des russischen Ministerkomitees über Glaubensduldung vom 30. (17.) April 1905 bestimmt, daß der Übertritt aus der orthodoxen in eine andre christliche Kirche oder Konfession keine nachteiligen Folgen hinsichtlich der Person oder der bürgerlichen Rechte nach sich ziehen darf; Statistisches s. Russisches Reich, S. 295. Über die Sektierer der russischen Kirche s. Raskolniken.

Die Glaubenslehre der russischen Kirche blieb trotz ihrer Emanzipation von der Obhut der griechischen Kirche im wesentlichen die der letztern (vgl. Griechische Kirche und Katechismus, S. 743). Der heilige Synod mit dem Sitz in Petersburg besteht aus geistlichen und weltlichen Mitgliedern. Zu jenen, deren Zahl nicht feststeht, gehören stets die Metropoliten von Petersburg, Kiew und Moskau sowie der Exarch von Grusien (Georgien). Unter den weltlichen ist die wichtigste Persönlichkeit der »Oberprokureur« oder Oberprokuror, der in der vollen Stellung eines Staatsministers den Zaren im Synod vertritt. Von 1880–1905 verwaltete dieses Amt Pobjedonoszew (s. d.), zurzeit Fürst Obolenski. Neuerdings werden Änderungen in der Leitung der Kirche angestrebt. Die Kommission der altrussischen Kirchensynode beschloß 14. Juni 1906 mit 26 gegen 15 Stimmen die Einrichtung eines Synods, dem nur Bischöfe angehören sollen, unter dem Vorsitz eines Patriarchen, der zugleich Metropolit von Petersburg sein muß. Es bestehen 66 Eparchien unter 3 Metropoliten, 14 Erzbischöfen und 50 Bischöfen. Der russische Klerus besteht aus Klostergeistlichen, auch nach ihrer Kleidung die »schwarze Geistlichkeit« genannt, die allein zu den höhern geistlichen Würden gelangen können und zum Zölibat verpflichtet sind, und aus Weltgeistlichen, im Gegensatz zu jenen, trotz ihrer braunen Kleidung, die »weiße Geistlichkeit« genannt, die bloß die niedern geistlichen Stellen bekleiden können und sich verheiraten dürfen, aber nur einmal. Die Ordensgeistlichkeit besteht aus drei Klassen, nämlich: 1) Archierei (Bischöfen), 2) Archimandriten (Äbten) und Igumenen (Prioren), aus denen die Bischöfe genommen werden, 3) Mönchen, die in den Klöstern und Seminaren verschiedene Ämter verwalten. Als Mönchsregel gilt allgemein die des heil. Basilius (s. d.). Von den ca. 828 Klöstern (503 Männer- und 325 Frauenklöster) sind die berühmtesten das Höhlenkloster bei Kiew, Troiza-Sergies bei Moskau, Alexander Newskij in Petersburg, Potschajew in Wolynien und das zu Solowetzk am Weißen Meer. Unter den Weltgeistlichen haben die Protopopen oder Protoierei den höchsten Rang und sind die Aufseher der übrigen, nämlich der Popen oder Priester. Die Diakonen, Unterdiakonen, Lektoren, Küster, Sänger etc. erhalten ebenfalls eine Art von Weihe, aber keine priesterliche. Die gesamte Geistlichkeit wird vom Staat besoldet. Das Kirchenbudget des heiligen Synods betrug 1900: 24 Mill. Rubel. Dieser Klerus ist frei von Abgaben, steht in geistlichen Dingen unter der Jurisdiktion der Bischöfe und des heiligen Synods, in Zivil- und Kriminalsachen aber unter der der weltlichen Gerichte. Für die Bildung des Klerus ist erst unter Alexander II. einiges geschehen; besonders der niedere ist sehr unwissend und größtenteils auf landwirtschaftliche Tätigkeit angewiesen. Aber auch die literarische Produktion innerhalb der höhern Geistlichkeit beschränkt sich auf Werke, die der Liturgie und dem populären Religionsunterricht dienen. Eine wissenschaftliche Theologie beginnt erst in letzter Zeit aufzutreten. Die russischen Kirchen sind viereckig und haben eine große Kuppel in der Mitte, die von vier kleinern Kuppeln umgeben ist. Die Glockentürme stehen abgesondert von der Kirche. Man betet stehend oder auf dem Angesicht liegend. Das Priestergebet wird durch den Gemeindegesang unterbrochen, der aber eigentlich nur aus drei Sätzen besteht: »Gospodj pomiluj!« (»Herr, erbarme[278] dich unser!«), »Gospodj pomolimssa!« (»Herr, wir bitten dich!«) und »Podal Gospodj!« (»Gib das, Herr!«). Die in der alten slawischen Kirchensprache abgefaßte Liturgie zeichnet sich durch die Kraft der dabei üblichen Gebete aus. Die Messe wird nur einmal des Tages gefeiert, und bei der Kommunion werden Brot und Wein im Kelch gemischt und mit einem Löffel gereicht. Die Feste der russischen Kirche sind im allgemeinen die der andern christlichen Konfessionen; eigentümlich sind nur die Feier des Festes der Wasserweihe (Jordansfest), das jährlich 6. Jan., am Tage der Mitte zwischen Ostern und Pfingsten, und 1. Aug. stattfindet, und bei dem die Heiligenbilder in das Wasser getaucht werden, daher auch der Name »Götterwaschung«; das Gedächtnis aller im Kriege gefallenen Soldaten 21. Okt. und die Pferdeweihe 9. Mai. Am ersten Fastensonntag, dem sogen. orthodoxen Sonntag, wird noch jetzt alljährlich unter großem Zulauf des Volkes über alle politischen und kirchlichen Ketzereien ein allgemeiner Fluch ausgesprochen. Das Predigen ist selten, daher die wenigsten Kirchen Kanzeln haben. Die Strenge des Fastens wird jetzt mehrfach durch Dispensationen gemildert. Vgl. Murawijew, Geschichte der russischen Kirche (deutsch von König, Karlsr. 1857); Makarij, Geschichte der russischen Kirche (russ., Petersb. 1868–1883, 12 Bde., zum Teil in 2. und 3. Aufl.); Philaret, Die Kirche Rußlands (deutsch, Frankf. a. M. 1872, 2 Bde.); Basarow, Die russisch-orthodoxe Kirche (deutsch, Stuttg. 1873); Leroy-Beaulieu, Das Reich des Zaren und die Russen, Bd. 3 (deutsch von Pezold und Müller, Sondershauf. 1889); Frank (v. Samson-Himmelstjerna), Russische Selbstzeugnisse (Paderb. 1889); Dalton, Die r. K. (Leipz. 1892); Kattenbusch, Lehrbuch der vergleichenden Konfessionskunde (Bd. 1, Freib. 1892); Sokolow, Darstellung des Gottesdienstes der orthodox-katholischen Kirche (Berl. 1893); Knie, Die russisch-schismatische Kirche (Graz 1894); Preobraschenskij, Die vaterländische Kirche nach den statistischen Daten von 1840/41 bis 1890/91 (russ., Petersb. 1897); Milukow, Skizzen russischer Kulturgeschichte (deutsch von Davidson, Leipz. 1898–1901, 2 Bde.); Graß, Geschichte der Dogmatik in russischer Darstellung (Gütersloh 1902); Silbernagl, Verfassung und gegenwärtiger Bestand sämtlicher Kirchen des Orients (2. Aufl., Regensb. 1904); L. K. Götz, Das Kiewer Höhlenkloster als Kulturzentrum des vormongolischen Rußlands (Passau 1904) und Kirchenrechtliche und kulturgeschichtliche Denkmäler Altrußlands nebst Geschichte des russischen Kirchenrechts (Stuttg. 1905). Über den russischen Kultus unterrichten am besten die liturgischen Werke von Propst A. Maltzew, besonders das »Liturgikon« (Berl. 1902) und das »Menologion« (das. 1900–01, 2 Bde.).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 17. Leipzig 1909, S. 278-279.
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