Beethoven

[549] Beethoven, Ludwig van, der größte Tondichter des 19. Jahrhunderts, geb. 16. Dez. 1770 in Bonn, gest. 26. März 1827 in Wien, entstammte einer niederländischen Familie. Sein Großvater Ludwig war 1733 als Baßsänger aus Löwen nach Bonn gekommen, und wurde 1761 Hofkapellmeister (gest. 1773), sein Vater Johann war Tenorist in der kurfürstlichen Kapelle (gest. 18. Dez. 1792). Seine Mutter, Maria Magdalena, war die Tochter des kurfürstlichen Mundkochs Kewerich in Ehrenbreitstein. Die Familienverhältnisse waren nach dem Tode des Großvaters unerquicklich, da der Vater dem Trunk ergeben und die Mutter kränklich war (sie starb 1787). Den ersten Unterricht erhielt B. von seinem Vater, der in richtiger Erkenntnis des bedeutenden Talents sich in ihm möglichst rasch eine Stütze für den Erwerb zu erziehen bestrebt war, daher auch den Unterricht bald befähigtern Händen übertrug, zunächst dem Oboisten Pfeiffer (1779), dann dem Hoforganisten von der Eeden (1781). Der Hauptlehrer Beethovens wurde aber Chr. G. Neefe, der 1779 als Musikdirektor ans Theater nach Bonn kam und 1782 Eedens Nachfolger als Hoforganist[549] wurde. Wie weit B. schon bereits entwickelt war, geht aus einem Brief Neefes in »Bramers Magazin« 1783 hervor, daß er fast das ganze wohltemperierte Klavier Bachs beherrschte. Für seine wissenschaftliche Ausbildung wurde leider nicht in einer der künstlerischen entsprechenden Weise gesorgt. 1784 wurde der 13jährige Knabe bereits als zweiter Hoforganist (ohne Gehalt) angestellt und trat bald darauf mit einer kleinen Besoldung als Bratschist in das Orchester ein. 1787 wurde er auf Kosten des Kurfürsten Max Franz, des Bruders des Kaisers Joseph II., nach Wien geschickt, um Mozarts Unterricht zu genießen. Leider beorderte ihn die tödliche Erkrankung der Mutter nach wenigen Wochen zurück. Das Musiktreiben am Bonner Hofe stand durchaus auf der Höhe der Zeit. Leute wie Anton Reicha, Nikolaus Simrock, Andreas und Bernhard Romberg, Max Willmann waren als Orchestermitglieder Jugendfreunde Beethovens, der von allen hochgeschätzt und bewundert wurde. Von sonstigen Freunden der Bonner Zeit ist die Familie v. Breuning und der Graf Waldstein hervorzuheben, welch letzterer seinen Einfluß auf den Kurfürsten zugunsten Beethovens benutzte. 1792 entsandte daher der Kurfürst B. zum zweitenmal nach Wien, diesmal um den Unterricht Haydns zu genießen. Aus dem nur als vorübergehend beabsichtigten Aufenthalt wurde ein dauernder, da Beethovens Vater Ende 1792 starb, und das Kurfürstentum und damit Beethovens amtliche Stellung 1794 durch die französische Invasion ihr Ende erreichte. Durch zwei Jahre war B. Schüler Haydns oder richtiger Schenks, des Komponisten des »Dorfbarbier«, der hinter Haydns Rücken Beethovens Arbeiten durchsah; Haydn selbst war zum Lehrer nicht geschaffen. Als Haydn seine zweite Londoner Reise antrat, übertrug er Albrechtsberger den fernern Unterricht seines Schülers. 1795 scheint dann B. noch die höhern Künste des Kontrapunkts bei Salieri studiert zu haben. Inzwischen hatte sein Können sich zu einem hohen Grad entwickelt. Die Empfehlungen seiner Bonner Gönner hatten ihn in die höchsten Adelskreise eingeführt. 1794 wohnte er im Hause des Fürsten Lichnowsky, 1808 im Hause des Grafen Erdödy, aber auch in den Jahren, wo er solche auszeichnende Gastfreundschaft nicht genoß, verkehrte er in den Salons der Fürsten Lichnowsky, Kinsky, Lobkowitz, Eszterhazy u. a., desgleichen bei andern hervorragenden Musikfreunden, wie Baron van Swieten und Hofrat v. Kees, seine Kompositionen zum Vortrag bringend und frei am Klavier improvisierend. Schon damals genoß er als Künstler in diesen musikalisch hochgebildeten Kreisen die höchste Wertschätzung. 1795 trat er zuerst als fertiger Künstler vor die große Öffentlichkeit, als Virtuos mit dem Vortrag seines ersten Klavierkonzerts, als Komponist mit der Herausgabe seiner drei ersten Trios (Op. 1) und der drei Haydn gewidmeten Klaviersonaten. Eine 1796 in Begleitung des Fürsten Lichnowsky unternommene Reise nach Prag verlängerte B. durch einen Ausflug nach Berlin, wo König Friedrich Wilhelm II. ihm einen Engagementsantrag machte, der durch den Tod des Königs (1797) vereitelt wurde. Obgleich nun seit 1795 allmählich mehr und mehr Werke Beethovens im Druck erschienen, so blieb doch der Kreis derer, die sein Genie würdigten, zunächst noch ein durchaus beschränkter. Von entscheidenher Bedeutung für seinen fernern Lebensgang wurde ein Gehörleiden, das um 1798 begann und in allmählicher Steigerung zuletzt in völlige Taubheit überging. Die produktive Tätigkeit füllte von nun an immer ausschließlicher sein Leben aus, und die ausübende trat in den Hintergrund. Das äußere Leben des Künstlers nahm nun immer mehr eine regelmäßige Gestalt an. Den Winter hindurch widmete er sich in der Hauptstadt geselligen Unterhaltungen und der Sorge für Ausführung seiner Werke; im Sommer lebte er meist mehrere Monate zurückgezogen in einem der Dörfer von Wiens Umgebung, nur mit Ausarbeitung seiner Kompositionen beschäftigt. 180 i erschien die erste Symphonie (C dur), kurz darauf auch die erste Sammlung von 6 Quartetten (Op. 18) im Druck, und nun beginnt die Zeit, wo sein Ruhm auch auswärts sich schnell verbreitet. Einen Merkstein in seinem Leben bedeutet das Jahr 1805, das seine erste und einzige Oper »Fidelio« brachte, leider zu einer Zeit, wo Wien seit 8 Tagen von den Franzosen besetzt war, und daher das Theater leer blieb. B. hatte aber damals keineswegs die Absicht, diese Oper die einzige bleiben zu lassen, versuchte vielmehr ein festes Engagement als Komponist für die k. k. Theater zu erlangen, doch ohne Erfolg. 1809 erhielt er einen Ruf als westfälischer Kapellmeister nach Kassel; damals vereinigten sich mehrere seiner hochgestellten Gönner, unter ihnen sein Schüler Erzherzog Rudolf, ihn durch eine lebenslängliche Rente an Wien zu fesseln. 1814 war B. Gegenstand der Aufmerksamkeit für die durch den Wiener Kongreß herbeigezogenen hochfürstlichen Gäste, von denen er sich, wie er selbst sagte, den Hof machen ließ. Nach dem Tode seines Bruders Karl (1815) entschloß er sich, den Sohn desselben zu sich zu nehmen und dessen Erziehung zu überwachen und richtete einen eignen Haushalt ein. Doch machte ihm der Neffe viele Ungelegenheiten, und das mürrische, verschlossene Wesen Beethovens steigerte sich immer mehr. 1826 wurde seine Gesundheit ernsthaft wankend, der Schluß des Jahres warf ihn aufs Krankenbett, und nach mehrmonatigem schmerzhaften Leiden starb er an der Wassersucht. Das Wiener Publikum, welches ihn über der Rossinischen Oper während der letzten Jahre seines Lebens fast vergessen hatte, erinnerte sich jetzt, was es in ihm besessen, und gab ihm auf seinem letzten Gang ein zahlreiches Geleit; 1888 wurde seine Asche gleich derjenigen Schuberts vom Währinger Friedhof nach dem neuen Zentralfriedhof umgebettet. Eine Bronzestatue (von Hähnel modelliert) wurde ihm 1845 in seiner Vaterstadt, eine andre (von Zumbusch) 1880 in Wien errichtet. Am 22. Okt. 1894 wurde in Brooklyn (New York) ein durch die Sänger der Stadt aufgebrachtes Beethoven-Denkmal im Prospectpark neben demjenigen Thomas Moores enthüllt. Ein genial konzipiertes, in verschiedenfarbigem Marmor und Bronze ausgeführtes Beethoven-Denkmal von Max Klinger erwarb 1902 die Stadt Leipzig.

B. war von mittlerer, kräftiger Statur; sein Gesicht war voll, gesund, etwas pockennarbig, von dichtem, meist ungeordnetem Haar umgeben, mit unruhigen, leuchtenden Augen. Seine Gesichtszüge, in der Regel gutmütig, nahmen bei geistiger Erregung, zumal wenn er von Musik sprach, einen ungemein bedeutenden und fesselnden Ausdruck an. Sein Charakter war von Natur edel und wohlwollend und durchaus zum Sittlich-Guten und Wahren angelegt. Die völlige Unerfahrenheit und Ungeschicklichkeit in allen Angelegenheiten des äußern Lebens wurzelte in den Mängeln seiner Erziehung. In der Unterhaltung war er meist wortkarg, jetzt hastig ein freies Wort hinwerfend und im nächsten Moment wieder in düsteres Schweigen versinkend; doch konnte er sich bei rechter Laune auch in possenhaften Einfällen und Witzworten lustig ergehen.[550] Wir verehren in B. den Meister, der die Ausdrucksfähigkeit der Musik auch für die tiefstgehenden Erregungen der Menschenseele in ungeahnter Weise gesteigert und ihre Formen gigantisch erweitert hat. Seine Skizzenbücher beweisen, wie er durch unermüdliche Arbeit und wiederholtes Umformen seinen Tonbildern endlich diejenige Gestalt zu geben wußte, die sie zum vollkommenen Ausdruck seines Empfindens machte. Der B. von den Zeitgenossen, z. B. Cherubini, gemachte Vorwurf, daß er den Singstimmen Gewalt angetan, nicht genügend auf die Natur der Singstimmen Rücksicht genommen habe, kann heute nicht mehr aufrecht erhalten werden, nachdem sowohl seine einzige Oper seit der sieghaften Interpretation durch die Schröder-Devrient (1822) sich in der allgemeinen Wertschätzung dauernd festgesetzt hat und die Ausführbarkeit der Chorsätze der 9. Symphonie und der Missa solemnis kein Problem mehr ist. Allerdings erscheinen auch heute noch die Anforderungen an die Singstimmen, besonders den Sopran, als ausnahmsweise, aber durch die Größe der Aufgabe gerechtfertigte. Den Instrumenten hat B. eine zu keiner spätern Zeit übertroffene Ausdrucksfähigkeit verliehen, derart, daß sie, sowohl einzeln (namentlich das Klavier) als auch mm Orchester vereint, die höchsten Ideen und geheimsten Regungen der Menschenseele zu offenbaren vermögen. Wenn wir B. in diesem Sinn als den Vollender der modernen Instrumentalmusik bezeichnen, so haben wir ihm zugleich seine Stellung in der gesamten Entwickelung der Tonkunst angewiesen. Zwar ist der Gesang, d. h. die Verbindung des Tones mit dem Worte, zu allen Zeiten der Ausgangspunkt der Musik gewesen; wenn aber die Musik in sich selbst die Fähigkeit besitzt, Gefühlszustände verständlich auszudrücken, während ja das Wort in erster Linie nur unserm Denkvermögen dient, dann muß es als ein Kennzeichen ihrer höchsten Entwickelung betrachtet werden, daß es dem Komponisten gelingen konnte, auch ohne Mithilfe des Workes sich verständlich zu machen und uns zu rühren. Was B. vor seinen Vorgängern Mozart und Haydn auszeichnet, die ja ihrerseits schon die Sprache der Instrumente zu reichster Entwickelung geführt hatten, ist zunächst die weitere Ausgestaltung der übernommenen Formen zu größern, den neuen Ideen angemessenen Dimensionen. Unter seinen Händen erweitert sich das Menuett zum vielsagenden Scherzo, das Finale, bei seinen Vorgängern meist nur ein heiter und lebhaft sich verlaufender Ausgang, wird bei ihm zum Gipfelpunkt der Entwickelung des ganzen Werkes und übertrifft an Wucht und Breite nicht selten den ersten Satz.

[Werke.] Die Zahl der von B. hinterlassenen Werke beträgt (ausschließlich der ohne Opuszahl erschienenen) 138. Es sind 9 Symphonien, 7 Konzerte, 1 Septett, 2 Sextette, 3 Quintette, 16 Streichquartette, 36 Klaviersonaten, 16 Sonaten für Klavier mit Begleitung, 8 Klaviertrios, 1 Oper, 2 Festspiele, 1 Oratorium, 2 große Messen und zahlreiche kleinere Kompositionen für Klavier und für ein- und mehrstimmigen Gesang. In ihnen lassen sich drei Epochen der Beethovenschen Produktion ziemlich deutlich nachweisen, zu denen als Vorbereitungsepoche die der jugendlichen Entwickelung Beethovens kommt. Diese Epoche ist bei ihm ungewöhnlich lang im Vergleich zu der raschen Entwickelung eines Mozart u. a. Erst mit dem Jahre 1795, seinem 25. Lebensjahr, also drei Jahre nach seiner Abreise aus Bonn, können wir dieselbe abschließen; denn erst in diesem Jahre veröffentlichte er sein »erstes Werk«, das er selbst dieser Bezeichnung wert hielt (die drei Trios Op. 1). In jene Jugendepoche gehören als seine ersten Kompositionen: 9 Nummern Klaviervariationen und 3 Sonaten für Klavier (1782 und 1783), dann 3 Klavierquartette (1785), ein Trio, einzelne Lieder, verschiedene Sammlungen von Variationen für Klavier (darunter die bereits sehr schönen und eigentümlichen über »Vieni Amore« von Righini) und von den ungedruckten ein Klavierkonzert, eine Sonate für Klavier und Flöte, ein Ritterballett (1789) und zwei 1884 in Wien aufgefundene Gelegenheits-Kantaten aus den Jahren 1790 und 1792. Viele der erst im Verlauf der folgenden Jahre erschienenen Werke gehören noch dieser vorbereitenden Epoche an.

Die erste Periode des eigentümlich Beethovenschen Schaffens, in der er nach vollständiger Überwindung aller Vorstufen in individueller Selbständigkeit auftritt, beginnt mit der Herausgabe der ersten drei Klaviertrios Op. 1 (1795) und endigt etwa mit den Jahren 1800–1802. Außer den ersten Trios gehören hierher die Haydn gewidmeten Klaviersonaten Op. 2, die Sonaten Op. 7, 10, 13 (»Sonate pathétique«), 14 bis 28, die Duos für Klavier und Violine, bez. Violoncell (Horn) Op. 5, 12, 17, 23, 24, das Septett Op. 20 (1800), die erste Symphonie Op. 21 (1800), die sechs ersten Streichquartette Op. 18 (1799–1800), das Quintett für Klavier- und Blasinstrumente Op. 16, die ersten Klavierkonzerte Op. 15 und 19, das Ballett »Die Geschöpfe des Prometheus« (1800), die Szene »Ah perfido« (1796), das Lied »Adelaide« (1796) sowie eine Anzahl kleinerer Instrumental-, hauptsächlich Klavierwerke. Nicht nur in der Technik, sondern auch im Zuschnitte der Sätze und des Ganzen erscheint jetzt B. schon vielfach selbständig und neu sowie von dem Bestreben geleitet, ein Ideen ganzes zur deutlichen Erscheinung zu bringen, z. B. wenn er zwei allerdings über die Grenzen der Sonatenform hinausschweifende Sonaten als »gleichsam Phantasien«, eine andre als die »pathetische« bezeichnet.

Die zweite Periode beginnt etwa in den Jahren 1800–1802; sie zeigt den Meister in der vollen und reichen Entwickelung seiner erstarkten Künstlerpersönlichkeit, die ihn zur Hervorbringung von Werken befähigte, die, während jedes eine Welt reichsten Empfindungslebens eröffnet, zugleich die schönste Harmonie von Inhalt und Form erkennen lassen. Hierher gehört vor allem die stattliche Reihe der Symphonien: die von Lebensfreudigkeit und Heiterkeit überströmende in D dur (1802); die »Eroica« (1804), ihrer Konzeption nach zur Verherrlichung Napoleon Bonapartes bestimmt, das deutlichste Beispiel jener Beherrschung des Ganzen durch einen poetisch zusammenfassenden Gedanken; die vierte in B dur (1806); die mächtige, den Kampf gegen ein übermächtiges Schicksal darstellende in C moll (1807); die »Pastorale« (1808); die siebente in A (1812), die alle Stufen der Freude, von leiser Träumerei bis zum dithyrambischen Jubel, durchläuft; endlich noch die liebliche achte in F (1812). Hierzu kommen eine Reihe andrer, gleich vollendeter und jedes für sich eigentümlicher Gebilde: die drei Quartette Op. 59, dem Grafen Rasumowski gewidmet (1806), sowie die beiden folgenden Op. 74 (1809) und 95 (1810); an Klavierkompositionen: die Konzerte in C moll, G dur und Es dur (letzteres 1809); die Sonaten Op. 30 in G, D moll und Es; die beiden mächtig großen in C und F moll (Op. 53 und 57), denen als leichtere Gegenstücke die in F und Fis (Op. 54,78) mr Seite treten; die Es dur-Sonate Op. 81a mit ihrer Überschrift: »Les adieux, l'absence et le [551] retour«, ein neues Beispiel der Darstellung einer bestimmten dichterischen Idee in Tönen; die Violinsonaten: Op. 30 in A, C moll und G, Kaiser Alexander von Rußland gewidmet; die dem Violinisten Kreutzer gewidmete sogen. Kreutzer-Sonate Op. 47 in A (1803), Op. 96 in G (1810); die Cellosonate Op. 69 in A; die Trios Op. 70 in D und Es und Op. 97 in B; das Tripelkonzert für Klavier, Violine und Violoncell Op. 56; die Phantasie für Klavier, Orchester und Chor (1808) u. a. In diese Periode gehören auch die ersten größern Chorkompositionen Beethovens, das Oratorium »Christus am Ölberg« (1803) und die erste Messe in C (1807) sowie seine Oper »Fidelio«, die leider die einzige bleiben sollte. Mit der ursprünglich »Leonore« betitelten, aber aus Rücksicht auf Paërs gleichnamiges Werk vor der ersten Ausführung umgetauften Oper »Fidelio«, die in erster Bearbeitung 1805, in zweiter 1806, in dritter und bleibender (mit der E dur-Ouvertüre) 1814 auf die Bühne kam, hat B. keineswegs neue Wege dramatischer Gestaltung versucht, sondern steht etwa auf dem Boden der Opern Cherubinis, besonders des »Wasserträger«, erreichte aber in der Steigerung des Affekts Höhen, die Cherubini verschlossen blieben. Neben ihr stehen die mit Bühnenwerken verbundenen Kompositionen: die Musik zu Goethes »Egmont« (1810) sowie zu den beiden Festspielen »König Stephan« und »Die Ruinen von Athen« (1812). Ganz besonders hervorragend, als Seelengemälde der ergreifendsten Art zu bezeichnen sind die zu diesen Werken gehörigen Ouvertüren: die große »Leonoren-Ouvertüre«, die zum »Egmont« und die zu Collins Trauerspiel »Coriolan«. Endlich gehören noch hierher die Lieder »Herz, mein Herz«, »Kennst du das Land etc.« wie auch der das Kunstlied auf die volle Höhe seiner Entwickelung bringende Liederkreis »An die ferne Geliebte«, dieser freilich schon einer etwas spätern Zeit angehörig (1816). In die Übergangszeit von der zweiten zur dritten Periode fallen die zahlreichen Bearbeitungen schottischer, irischer und andrer Volksmelodien (mit Klavier-, Violin- und Cellobegleitung), die B. zumeist für den englischen Verleger Thompson übernommen, sowie einige Gelegenheitskompositionen, wie das Instrumentalwerk »Die Schlacht bei Vittoria«, Op. 91 (1813), die Kantate »Der glorreiche Augenblick«, Op. 136 (1814), und verschiedene Chöre.

Die Jahre 1814–18 bezeichnen einen relativen Stillstand in Beethovens Produktion. In diesem kurzen Zeitraum treten nur ganz vereinzelt größere Kompositionen, z. B. die Sonate in A (1815), der schon genannte »Liederkreis« u. a., hervor; Krankheit und bitteres häusliches Leid hemmten seine Phantasie. Nach Überwindung dieser Periode der Entmutigung erscheint B. in mancher Beziehung verändert. Sein Empfinden ist bei völliger Abgeschlossenheit gegen die Außenwelt noch mehr verinnerlicht, infolgedessen der Ausdruck desselben häufig weit ergreifender, unmittelbarer als jemals früher, dagegen die Einheit von Inhalt und Form mitunter nich k so vollendet wie sonst, sondern von einem subjektiven Moment stark beeinflußt. Die Hauptwerke dieser dritten Periode sind die »Missa solemnis« (1818–22) und die neunte Symphonie in D moll (1823–24). Erstere, zur Feier der Installation des Erzherzogs Rudolf als Bischof pun Olmütz bestimmt, ist die reichste und unmittelbarste Offenbarung eines von dem religiösen Gegenstand tief erregten Innern, ausgezeichnet durch selbständige, tief eindringende Auffassung der Textesworte, durch eine überwältigende Wärme und Innigkeit des Ausdrucks, durch eine Fülle der edelsten und schönsten Gedanken. B. hielt sie für sein vollendetstes Werk. In andrer Weise drückt die neunte Symphonie (mit dem Schlußchor über Schillers »Lied an die Freude«) das Ringen eines Menschenherzens aus, das sich aus Mühen und Leiden nach dem Tage reiner Freude sehnt, der ihm doch in voller Klarheit und Reinheit nicht beschieden ist. Außerdem gehören dieser Zeit noch an: die Ouvertüre »Zur Weihe des Hauses«, Op. 124 (1822), die Klaviersonaten Op. 106 in B (1818), Op. 109 in E, Op. 110 in As (1821) und Op. III in C moll (1822), endlich die letzten großen Streichquartette Op. 127 in Es (1824), Op. 130 in B dur und Op. 132 in A moll (1825), Op. 131 in Cis moll und Op. 135 in F dur (1826), deren Verständnis erst in neuerer Zeit sich weitern Kreisen erschlossen hat. Viele Entwürfe, darunter der zu einer zehnten Symphonie, befanden sich in dem Nachlaß des Komponisten. – Die erste vollständige kritische Gesamtausgabe von Beethovens Werken erschien 1861–65 bei Breitkopf u. Härtel in 24 Serien unter Revision von Rietz, Nottebohm, Reinecke, David, Hauptmann u. a., die durch Vergleichung der Manuskripte und Originalausgaben überall eine sichere Grundlage für ihre Arbeit gewannen. Ein Supplementband dazu, 46 bisher ungedruckte Werke enthaltend, erschien 1888. Ein chronologisches Verzeichnis der Werke Beethovens veröffentlichte A. W. Thayer (Berl. 1865), ein thematisches mit historischen Nachweisungen über die Entstehung der Werke Gust. Nottebohm (2. Aufl., Leipz. 1868).

[Literatur.] Biographien: Wegeler und Ries, Biographische Notizen (Koblenz 1838, Nachtrag 1845); Schindler, Biographie Beethovens (3. Aufl., Münster 1860 u. 1881); Marx, Beethovens Leben und Schaffen (5. Aufl. von Behncke, Berl. 1901, 2 Bde.); Nohl, Beethovens Leben (Leipz. 1864–77, 3 Bde.); Thayer, Beethovens Leben (deutsch von Deiters, Berl. 1866–78, Bd. 1–3; Bd. 1 in 2. Aufl. 1901); v. Wasielewski, Ludwig van B. (das. 1888, 2 Bde.); V. Wilder, B., sa vie et son œuvre (Par. 1883); F. I. Crowest, B. (Lond. 1899). – Schriften über Beethovens Werke etc.: W. v. Lenz, B. et ses trois styles (Brüssel 1854, 2 Bde.); Derselbe, B., eine Kunststudie (Hamb. 1850–60, 5 Bde.); Ulibischew, B., ses critiques et ses glossateurs (Leipz. 1857; deutsch von Bischoff, das. 1859); Richard Wagners Abhandlung »B.« (das. 1870); Elterlein (Gottschald), Beethovens Klaviersonaten (5. Aufl., das. 1895); Derselbe, Beethovens Symphonien nach ihrem idealen Gehalt (3. Aufl., Dresd. 1870); K. Reinecke, Die Beethovenschen Klaviersonaten (3. Aufl., Leipz. 1899); Marx, Anleitung zum Vortrag Beethovenscher Klavierwerke (3. Aufl., Berl. 1898); H. A. Harding, Analyses of form as displayed in Beethoven's 32 Pianoforte Sonatas (Lond. 1895); G. Grove, B. and his nine symphonies (das. 1896); Dürenberg (Schubert), Die Symphonien Beethovens (2. Aufl., Leipz. 1876); A. Colombani, Le nove Sinfonie di B. (Turin 1897); Alberti, B. als dramatischer Tondichter (Stettin 1859); Lorenz, Haydns, Mozarts und Beethovens Kirchenmusik (das. 1866); Helm, Beethovens Streichquartette (das. 1885); K. Bargheer, L. van Beethovens fünf letzte Quartette (Hamb. 1883); Nohl, B. und die Kunst der Gegenwart (Wien 1871); die Schriften von Nottebohm: Beethovens Skizzenbuch (Leipz. 1865), Ein Skizzenbuch von B. aus dem Jahre 1803 (das. 1880), Beethoveniana (das. 1872), Zweite Beethoveniana (das. 1887), Beethovens [552] Studien (das. 1873, Bd. 1); Frimmel, Neue Beethoveniana (2. Ausg., Wien 1890); Derselbe, Ludw. van B. (in der Sammlung »Berühmte Musiker«, Berl. 1900). Eine Ausgabe von »Beethovens Briefen« besorgte Nohl (2 Sammlungen, Stuttg. 1865–68); »Briefe Beethovens an Erzherzog Rudolf« veröffentlichte Köchel (Wien 1865); »Neue Beethovenbriefe« gab Kalischer heraus (Berl. 1902). Vgl. außerdem G. v. B reun ing, Aus dem Schwarzspanierhaus. Erinnerungen an B. aus meiner Jugendzeit (Wien 1875); Nohl, B. nach den Schilderungen seiner Zeitgenossen (Stuttg. 1876).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 2. Leipzig 1905, S. 549-553.
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