1. Besser um der Gerechtigkeit willen sterben, als mit Schande fliehen.
2. De Gerechtigkeit kann den Wêg nich finnen. (Hannover.) – Schambach, 78.
Erinnert an die Augenbinde der Justitia.
3. Die Gerechtigkeit einer guten Sach' und das gut Gewissen sind eines Soldaten bestes Courage. – Opel, 384.
4. Die Gerechtigkeit fängt Fliegen und lässt die Hummeln durch.
Frz.: Justice punit petits cas. (Cahier, 918.)
5. Die Gerechtigkeit hat eine wächserne Nase. – Mayer, I, 66 u. 170.
Die Russen sagen: Als die Gerechtigkeit geboren ward, fiel sie in den Seifenschaum, und als der Knabe die Blase daraus machte, platzte sie. (Altmann VI, 463.)
6. Die Gerechtigkeit hat lahme Füsse.
Béranger sagt: »Die Gerechtigkeit leidender Völker geht langsam, aber endlich langt sie doch an. Das Volk ist geduldig, denn es ist ewig.« (Börne, Briefe aus Paris, IV.)
7. Die Gerechtigkeit hat zwei Ohren, ein langes und ein kurzes.
»Die Gerechtigkeit hat zwei ganz verschiedene Ohren – ein unendlich langes, wo die Wahrheit hineinschleicht und ein unendlich kurzes, wo sie sogleich wieder herausläuft.« (Briefe aus Berlin, Hanau 1832.)
8. Die Gerechtigkeit ist grausam, wird sie nicht gepaart mit Mildigkeit. – Graf, 397, 599.
In den deutschen Rechtsbüchern war stets die ⇒ Gnade (s.d.) dem Recht an die Seite gestellt, was in jener Zeit um so nothwendiger war, weil die einfachsten Vergehen, wie Waldfrevel, die jetzt mit einer geringen Geldbusse oder einigen Tagen Gefängniss gebüsst werden, mit den furchtbarsten Strafen belegt waren, das Recht selbst also durch die Gnade gebessert werden musste.
Mhd.: Grawsam is dy gerechtigkait, wirt sy nicht gefüeget mit mildigkait. (Lichner, 619.)
9. Die Gerechtigkeit ist oft krank, aber sie stirbt nicht. – Winckler, III, 58.
Es ist schon bedenklich, dass sie oft kränkelt; und ein sieches Leben erscheint schlimmer als ein rascher Tod.
Böhm.: Spravedlivé se neztratí. (Čelakovský, 61.)
10. Die Gerechtigkeit mag blind sein, aber hinken darf sie nicht.
Sie erlaubt sich aber leider beides.
Holl.: Die geregtigheid is blind. (Harrebomée, I, 230.)
11. Die Gerechtigkeit muss tanzen, wie man auf den Regalien aufspielt. – Parömiakon, 876.
Die Gerechtigkeit soll eigentlich gar nicht tanzen, auf welcher Harfe man auch spielt, geschieht aber zuweilen, wenn sie auch nicht gerade so tanzt wie die Gerechtigkeit in Osiek, einem kleinen Orte in Sandomir [1564] an der Weichsel, dessen Richter einen dortigen Schlosser wegen eines begangenen Verbrechens zum Tode verurtheilten, statt seiner aber, da er der einzige Schlosser in der Stadt war und nicht gut entbehrt werden konnte, einen der beiden Schmiede hinrichten liessen, die sich am Orte befanden. Man hatte so der Stadt Schmiede und Schlosser erhalten und glaubte doch auch der – Gerechtigkeit Genüge gethan zu haben. (Reinsberg IV, 78.)
12. Die grösste Gerechtigkeit ist die grösste Ungerechtigkeit.
Dass Gerechtigkeit keine Ungerechtigkeit sein kann, ist an sich klar; in dem Sprichwort ist von dem buchstäblichen Verständniss und der buchstäblichen Anwendung positiver Gesetze die Rede. – Jakobi erklärt die Gerechtigkeit als die Freiheit derer, welche gleich sind, und Ungerechtigkeit als die Freiheit derer, die ungleich sind. (Ruge, Sämmtliche Werke, Manheim 1848, I, 30.) Nach Schopenhauer besteht die Gerechtigkeit darin, »dass der Mensch es unterlässt, Leiden über andere zu verhängen, um sein eigenes Wohlsein dadurch zu vermehren«.
13. Du arme Gerechtigkeit liegst im Bett und hast kein Kleid. – Simrock, 3433; Körte, 2037; Kirchhofer, 152; Reinsberg II, 132.
»Gibt es in Frankreich noch einen Menschen, der an Gerechtigkeit und Ehre glaubt?« (Proudhon, Börsenspeculanten.)
14. Durch Gerechtigkeit wird der Thron bestätigt. – Körte, 2035; Körte2, 2508.
15. Es lebe die Gerechtigkeit und sterbe die Welt! – Heuseler, 229 u. 373; Parömiakon, 2161.
»Es gibt nur Eine Tugend«, sagt Seume, »und diese Tugend ist Gerechtigkeit.« Diese Gerechtigkeit ist aber im vorstehenden Sprichwort nicht gemeint, sondern der Grundsatz herzloser Juristen: Es lebe der Buchstabe des Gesetzes, wenn auch die Welt darüber unterginge. Etwa wie die Parodie: Es sterbe der Hund, es lebe der Stock!
16. Gerechtigkeit biegt sich, die Kirche fügt (schmiegt) sich, das Volk verirrt sich und der Satan sucht seinen Raub.
Frz.: Justice ploye, l'église noye, le commun desvoye, Sathan quiert sa proye, justice sur toutes vertus a le prix. (Leroux, II, 98; Kritzinger, 406b.)
17. Gerechtigkeit fiel die Stiege ab, ihr ist noth, dass man sie lab'. – Eiselein, 226.
18. Gerechtigkeit fordert man im (gestreckten) Galop und gewährt sie im Schneckenschritt.
19. Gerechtigkeit fördert zum Leben, dem vbel nachjagen, fördert zum Todt. – Petri, II, 334.
20. Gerechtigkeit hegen, Mässigkeit pflegen. – Hertz, 72.
21. Gerechtigkeit ist am liebsten gesehen, wenn sie beim Nachbar wohnt.
It.: Ognuno ama la giustizia a casa altrui, a nessun piace a casa sua. (Bohn I, 117.)
22. Gerechtigkeit ist blind, sie urtheilt, wie sie's find't.
23. Gerechtigkeit ist des Fürsten Spiegel. – Winckler, XVIII, 80.
Die Russen: Gerechtigkeit ist des Zaren Krone und Weisheit sein Scepter. (Altmann VI, 447.)
It.: Del prencipe lo specchio è la giustizia. (Pazzaglia, 142, 3.)
24. Gerechtigkeit ist des Reiches Grundfeste.
Frz.: La justice est la pierre fondamentale d'un état. (Kritzinger, 406b.)
Lat.: Justitia regnorum fundamentum. (Egeria, 119.)
25. Gerechtigkeit ist Gottes, Gerechtigkeiten sind des Teufels.
26. Gerechtigkeit ist leichter als Gold.
27. Gerechtigkeit ist stet. – Graf, 6, 109.
Sie wird immer das Ziel des Strebens und Wünschens sein. So viel Unrecht es in der Welt gibt, nie wird die Ungerechtigkeit zur Grundlage der Gesellschaft gemacht werden.
Mhd.: Gerechtigkait ist stät. (Lichner, 1, 1.)
28. Gerechtigkeit ist todt, der Glaub leidet noth. – Henisch, 1509, 50; Petri, II, 334.
29. Gerechtigkeit ligt vnter der banck, Warheit vnd trew ist worden kranck. – Henisch, 1509, 52; Petri, II, 334.
Böhm.: Spravedlnost do nebe utekla. (Čelakovský, 361.)
30. Gerechtigkeit macht Unterschied. – Graf, 5, 81.
D.h. die wahre Gerechtigkeit beurtheilt die Handlung nach Ort, Zeit, Umständen und knüpft an diese Unterscheidungen bestimmte Folgen; sie schert nicht über Einen Kamm.
Mhd.: Gerechtigkait macht vnderschaid. (Lichner, I, 1.)
[1565] 31. Gerechtigkeit muss geschehen, sollt auch die ganze Welt vergehen. – Henisch, 1509, 54; Petri, II, 334.
32. Gerechtigkeit will Muth haben.
Lat.: Justitia melior fortitudine. (Bovill, II, 99.)
33. In hundert Pfund Gerechtigkeit ist kein Loth Liebe enthalten. – Michelet, Gedanken.
Ein türkisches Sprichwort dagegen sagt: Eine Stunde Gerechtigkeit ist so viel werth als siebzig Jahre Gebete. (Cahier, 2698.)
34. Kommt Gerechtigkeit vors Thor, so findet sie Schloss (Ketten) und Riegel vor.
Die Russen: Wollte die Gerechtigkeit auch zehn Jahre wandern, sie fände in den Schlössern der Grossen doch keine Herberge. (Altmann VI, 387.)
35. Tracht erstlich nach Gerechtigkeit, so hast du genugsam allezeit. – Eyering, III, 319.
36. Verzögerte Gerechtigkeit ist Ungerechtigkeit.
37. Wenn man die Gerechtigkeit biegt, so bricht sie. – Braun, I, 735; Graf, 18, 228; Körte, 2036; Simrock, 3432.
Etwas Biegung verträgt sie schon, wie die Erfahrung lehrt.
38. Wenn man die Gerechtigkeit im eigenen Hause nicht findet, sucht man sie in des Nachbars.
Aehnlich russisch Altmann VI, 472.
39. Wer helt gerechtigkeit inn der hand, dess gewalt mag haben guten Bestand. – Henisch, 1510, 8; Graf, 524, 309.
40. Wo Gerechtigkeit das Regiment führt, da wohnt das Glück.
»Denn«, sagt Aristoteles in seiner Ethik (übersetzt von Garve.) , »in der Gerechtigkeit liegt jede Tugend verborgen.«
It.: Felice con ragione la casa, dove regna la ragione. (Pazzaglia, 317, 4.)
41. Wo keine Gerechtigkeit, da ist auch kein Friede.
Und auch keine wahre Freiheit. »Ihr wollt frei sein«, rief Sieyès den Franzosen zu, »und wisst nicht gerecht zu sein.« (Annalen der leidenden Menschheit, 1799, Hft. 6, S. 163.) Und Friedrich Wilhelm IV. von Preussen hat einem katholischen General ins Album geschrieben: »Ohne Gerechtigkeit keine Ehre, ohne Ehre kein Glück.« (National-Zeitung, Berlin 1857, Nr. 3.)
It.: Dove non è giustizia, non è pace. (Pazzaglia, 142, 4.)
*42. Die Gerechtigkeit bei der Nase ziehen. – Parömiakon, 1663.
Das Recht drehen, wenden.
Frz.: Bon fait justice prevenir. (Leroux, II, 184.)
*43. Er ist der Gerechtigkeit ins Garn gelaufen.
*44. Hier kann man die Gerechtigkeit mit Laternen suchen. – Frischbier, 1230.
45. Die Gerechtigkeit ist in den Himmel entflohen.
Böhm.: Spravedlnost' do nebe uteklá. (Rybička, 1069.)
46. Die Gerechtigkeit kennet weder Vater noch Mutter, sondern allein die Wahrheit. – Wirth, II, 302.
47. Eigene Gerechtigkeit ist ein spinnwebenes Kleid. – Weingärtner, 64.
48. Et mutt en ole Gerechtigkeit sin, det de Kukuk sin Eier in ander Vägels ehr Nest leggt, he hett det jümmers dân. – Piening, 103.
49. Gerechtigkeit gibt und lässt jedem, was ihm gehört.
Holl.: Regtvaardigheid geeft elk het zijne. (Harrebomée, II, 215a.)
50. Gerechtigkeit ist die Mutter aller Tugenden.
51. Gerechtigkeit und Geiz stehen nie in Einem Stall. – Harssdörffer, 63.
52. Gerechtigkeit wird jedem leicht, der nie erschrickt und nie erbleicht.
Lat.: Justum esse facile est, cui vacat pectus metu. (Philippi, I, 217.)
53. Wer keine Gerechtigkeit erweiset, dem kann nicht Recht widerfahren. – Harssdörffer, 679.
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