Haare

[573] Haare (Pili), fadenförmige Hautgebilde bei vielen Tieren und Pflanzen. Bei den Tieren wächst nur der Fortsatz einer Zelle über die Körperoberfläche, der das Haar ausscheidet, so bei vielen Gliedertieren, im letztern Fall erhebt sich ein aus vielen Zellen bestehender haarförmiger Auswuchs der Oberhaut über deren Niveau (Säugetiere). Manche H. sind wie die Federn mit seitlichen Strahlen besetzt (Fi ed erh aa re), andre sind durch besondere Bildungen zur Leitung des Schalles (Hörhaare) oder zur Übertragung einer Berührung auf die Nerven (Tasthaare) befähigt.

Fig. 1. Durchschnitt des Haares, stark vergrößert. o Oberhäutchen, r Rinde, m Mark.
Fig. 1. Durchschnitt des Haares, stark vergrößert. o Oberhäutchen, r Rinde, m Mark.

Die H. der Säugetiere (und die haarähnlichen Gebilde in den übrigen Wirbeltierklassen) bestehen mit Ausnahme ihrer Papillen (s. unten) aus Epithelzellen, die in verschiedenem Maße abgeplattet und verhornt sind, so daß sich drei Schichten unterscheiden lassen: Oberhäutchen (Fig. 1 o), Rinde (r) und Mark (m); doch können diese auch z. T. fehlen (z. B. die Marksubstanz in den seinen Wollhaaren). Der über die Haut hervorragende Teil des Haares (Schaft) und der darin verborgene (Wurzel) verhalten sich hierin gleich, doch ist letztere weich, da sie allseitig von Haut umgeben wird. Ihr unteres, kolbig angeschwollenes Ende (Haarzwiebel oder Haarknopf, Fig. 2 Hz) besteht aus weichen, rundlichen Zellen, ähnlich denen der sogen. [573] Schleimschicht der Oberhaut. Die Zwiebel sitzt auf der Papille (Fig. 2 P), die zur Lederhaut gehört und gleich deren andern Papillen reich mit Blutgefäßen und Nerven versorgt ist. Ihre Oberfläche ist die eigentliche Bildungsstätte des Haares, hier entstehen fortwährend neue Zellen und schieben die auf ihnen lagernden allmählich aus der Hauteinsenkung hinaus, also ist die Spitze der älteste Teil des Haares. Die Einsenkung heißt Haarbalg (Fig. 2 Hb); in ihn münden Talgdrüsen (Fig. 2 T, s. Haut) und geben hier ihre Absonderung ab; ferner setzt sich an jeden Haarbalg ein aus glatten Fasern bestehender Muskel (M) an, der sowohl die Entleerung der Drüse bewirkt, als auch den schräg liegenden Haarbalg gerade richtet und gegen die Oberhaut andrückt, so daß diese in Form eines kleinen, runden Walles um die Austrittsstelle der H. hervortreten und die sogen. Gänsehaut bilden kann. Vgl. auch Tafel »Gewebe des Menschen«, Fig. 8. – Die H. der Säugetiere werden entweder als den Vogelfedern entsprechend angesehen, die sich ihrerseits auf die Hornschuppen der Reptilien zurückführen lassen, oder man läßt sie aus den Sinneshügeln der Fische, bez. Amphibien durch Verhornung entstehen.

Fig. 2. Kopfhaut des Menschen. Ep Epidermis, C (Lederhaut) Cutis, Ul Längs-, Uq Querzüge des Bindegewebes in ihr, H Haar, Hb Haarbalg, Hz Haarzwiebel, P Haarpapille, M Haarmuskel, SD Schweißdrüse, T Talgdrüse, F Fettkörper.
Fig. 2. Kopfhaut des Menschen. Ep Epidermis, C (Lederhaut) Cutis, Ul Längs-, Uq Querzüge des Bindegewebes in ihr, H Haar, Hb Haarbalg, Hz Haarzwiebel, P Haarpapille, M Haarmuskel, SD Schweißdrüse, T Talgdrüse, F Fettkörper.

Beim Menschen sind die H. fast über den ganzen Körper verbreitet, die Innenfläche der Hand und die Fußsohle, die vordern Finger- und Zehenglieder und die Lippen sind ohne H. Man rechnet im Durchschnitt beim Mann auf 1 qcm Haut des Scheitels 171, des Kinnes 23, der Vorderfläche des Oberarms 8 H.; ihre Gesamtzahl auf dem Kopf mag 80,000, auf dem übrigen Körper noch 20,000 betragen, das Gewicht des Kopfhaars bei Frauen 250 g und mehr. Auf gleich großen Flächen der Kopfhaut stehen die schwarzen H. weniger dicht als die braunen und noch weniger dicht als die blonden (Verhältnis 86: 95: 107). Die H. stehen entweder einzeln oder in Gruppen zu je 2 oder 5 und sind in regelmäßig gebogenen Linien angeordnet, die auf beiden Körperhälften symmetrisch verlaufen (Haarströme, Haarwirbel). Die Entwickelung der H. beginnt beim Menschen am Ende des dritten Monats mit einer Einsenkung der Lederhaut, die von der hier stärker wachsenden Oberhaut ausgefüllt wird. In diesen Zapfen wächst von der Lederhaut aus eine keulenförmige Papille hinein, auf deren Oberfläche die Zellen der Oberhaut bei lebhaftem Wachstum sich zum Haar gruppieren. Das junge Haar durchsetzt darauf in 4–5 Wochen den ganzen Zapfen und erscheint mit der Spitze auf der Oberfläche der Haut. Zuerst entstehen die H. der Augenbrauen und die Augenwimpern, später die Kopfhaare und zuletzt die H. des übrigen Körpers. In der 24. Woche des Fötallebens ragen die meisten H. schon über die Hautoberfläche hervor, die sogen. Wollhaare (Lanugo) mit kurzen Haarbälgen; diese H. sind vergänglich und fallen im 1. bis 2. Lebensjahr aus. An manchen Hautstellen allerdings bleiben sie bestehen, an andern entwickeln sich statt ihrer dickere H. von einer neuen, tiefer gelegenen Papille aus; hierauf bildet sich die Papille des Wollhaars zurück, und dieses fällt aus. Auch später fallen die H., sowie sie ihre Länge erreicht haben, aus und werden durch andre, die neben ihnen aus einer Abzweigung der Papille hervorsprießen, ersetzt. Bei vielen Tieren ist dieser Haarwechsel periodisch, beim Menschen geschieht er unmerklich. Täglich fallen von den Haaren des Kopfes im Mittel etwa 40–100 aus; das tägliche Wachstum beträgt, einerlei ob die H. geschnitten werden oder nicht, 0,2–0,8 mm. Die Barthaare werden in ihrem Wachstum dagegen durch das Rasieren gestärkt. Die Lebensdauer der Kopfhaare beträgt 2–4 Jahre, der Augenwimpern nur 100–150 Tage. Ausgedehnte Zerstörungen der Lederhaut behaarter Stellen führen immer zu haarlosen Narben; anderseits bilden sich auf Narben an sonst schwach behaarten Stellen, z. B. am Oberarm, bisweilen lange H. von der Stärke des Barthaars. – Die Kräuselung des Haares hängt von der Form seines Querschnitts ab und ist um so stärker, je mehr dieser von der Kreisform abweicht. – Die Farbe der H. ist veränderlich, so werden hellblonde H. mit zunehmendem Alter immer dunkler, bedingt ist sie durch Farbstoff und Luft. Ersterer, bräunlich bis braunschwarz, findet sich spärlich oder reichlich in der Rinde vor, die Luft hingegen hauptsächlich im Mark in und zwischen den Zellen desselben, und zwar sind helle H. reicher an kleinen lufthaltigen Räumen als dunkle. Durch die schwach gefärbte Rinde heller H. schimmert bei auffallendem Licht die Luft des Markes silberweiß hindurch, während ihre Wirkung durch die starke Färbung dunkler H. aufgehoben wird. Bei den grauen oder weißen Haaren enthält auch die Rinde zahlreiche Lufträume. Für das Ergrauen der H. gibt es zwei Ursachen: entweder es bildet sich kein Farbstoff mehr, oder die Menge der Lufträume nimmt zu. Letzteres findet namentlich bei dem plötzlichen Ergrauen statt; ersteres beim Ergrauen der H. im Alter oder beim jährlichen Haarwechsel der Säugetiere mit weißem Winterkleid.

Die H. besitzen große Festigkeit, ein menschliches Kopfhaar zerreißt durchschnittlich erst pei einer Belastung mit 180 g. Sie sind ferner gegen Feuchtigkeit sehr empfindlich (s. Hygrometer), aber schlechte Wärmeleiter. Trockne H. werden durch Reiben elektrisch und können selbst Funken sprühen (Katzen). H. bestehen im wesentlichen aus Hornsubstanz (Keratin) und enthalten etwa 49,85 Proz. Kohlenstoff, 6,52 Proz. Wasserstoff, 16,8 Proz. Stickstoff, 4,02 Proz. Schwefel, 23,2 Proz. Sauerstoff. Vgl. Waldeyer, Atlas der menschlichen und tierischen H. (Lahr 1884).[574]

Haarpflege.

Die Pflege des Haares soll sich auf möglichst einfache Maßregeln beschränken, denn man weiß sehr wenig darüber, was den Haaren heilsam oder schädlich ist. Jedenfalls darf man die H. nicht mißhandeln durch festes Binden, Flechten, Brennen, Färben u. dgl. Reinlichkeit des Haares und des Haarbodens wird aur besten durch Kamm und mäßig harte Haarbürsten erreicht, auch kann man ohne Nachteil das Haar mit Wasser und Seife oder sehr stark verdünntem Seifenspiritus waschen; nur muß man nach dem Waschen mit viel reinem Wasser gründlich spülen, für schnelles Trocknen sorgen und, falls das Haar nicht von Natur hinreichend fettig ist, durch Einölen nachhelfen. Das Brennen der H. sollte man nicht oft vornehmen, nur auf die Enden beschränken und die Eisen nicht zu heiß machen (sie dürfen weißes Papier nicht gelb färben). Über den Einfluß des Schneidens der H. auf ihr Leben sind die Ansichten geteilt. Auch weiß man wenig über den Einfluß der Kopfbedeckungen; sie schützen das Haar vor Verunreinigung und verhindern in hoher Temperatur übermäßigen Wasserverlust; zu warme Kopfbedeckungen (Pelzmützen oder gar wasserdichte Mützen) sind verwerflich, weil sie die Ausdünstung der Kopfhaut unterdrücken; anderseits sind Kopfbedeckungen notwendig, wenn man den Sonnenstrahlen ausgesetzt ist. Zum Färben der H. sind bleihaltige Mittel durchaus verwerflich. Auch das mehrfach empfohlene Paraphenylendiamin ist giftig. Unschädlich ist die Anwendung von frisch gepreßtem Walnußschalensaft und von Pyrogallussäure; Höllensteinlösung darf nur vorsichtig, jedenfalls nicht zu konzentriert angewendet werden. Vorteilhaft löst man 10 Teile Pyrogallussäure in 500 Teilen rektifiziertem Holzessig und 500 Teilen Alkohol, anderseits 30 Teile Höllenstein in 900 Teilen Wasser und so viel Ammoniakflüssigkeit, bis sich der anfänglich entstandene Niederschlag wieder gelöst hat (Krinochrom). Nach dem Entfetten des Haares tragt man die erste Lösung mit einem Schwamm, dann die zweite mit einer Bürste auf, wäscht darauf mit Wasser, dann mit einer Lösung von unterschwefligsaurem Natron und spült schließlich wieder mit Wasser. Das Mittel färbt dunkel schwarzbraun und gibt mit verdünnterer Höllensteinlösung hellere Töne. Zum Blondfärben dunklerer H. wird eine schwache Losung von Wasserstoffsuperoxyd (Golden hair wash, Eau de Jouvence) benutzt. Enthaarungsmittel (depilatoria) wurden schon im Altertum angewendet. Bei Griechen und Römern war es, wie noch jetzt bei allen orientalischen Völkern, Sitte, daß die Frauen die H. ihres Körpers künstlich entfernten. Dies bezeugen die Statuen des Altertums, und in der Kunst hat sich bis in die Gegenwart die Darstellung des weiblichen Körpers ohne H. erhalten. Von Enthaarungsmitteln ist am bekanntesten das Rusma, das aus Ätzkalk und Auripigment (Schwefelarsenik) besteht. Ebenso wirksam, aber ungefährlich ist frisch bereitetes Calciumsulfhydrat, das messerrückendick auf die zu enthaarende Stelle aufgetragen und nach einigen Minuten abgewaschen wird. Es entfernt aber nicht die Haarwurzeln, und die H. wachsen daher wieder nach. Ziemlich vollständig werden die Haarwurzeln durch das Psilothron entfernt, eine Harzmischung, die mit dem Haar fest verklebt und beim Abnehmen die Wurzeln auszieht. Unna empfiehlt Harzstifte (aus Kolophonium mit 10 Proz. gelbem Wachs). Sie werden wie eine Stange Siegellack in der Flamme schnell erwärmt (auf 61°) und im Augenblick des Schmelzens sanft auf die Haut gesetzt. Zieht man sie dann mit einem Ruck in der Haarrichtung ab, so werden sämtliche Haarwurzeln herausgezogen. Das sicherste und bei sachverständiger Ausführung nicht sehr schmerzhafte Verfahren ist die Elektrolyse. Mittels sehr seiner, biegsamer Stahlnadel wird mit oder ohne vorheriges Ausziehen des Haares der Haarbalg angestochen, dann die galvanische Kette geschlossen, während die andre (Platten-) Elektrode in der Nähe aufgesetzt ist, und so die Haarwurzel ausgebrannt und damit dauernd zerstört. Über Beförderung des Haarwuchses durch Licht s. Lichttherapie. Vgl. Pfaff, Das menschliche Haar (2. Aufl., Leipz. 1869); Pincus, Die Krankheiten der menschlichen H. und die Haarpflege (2. Aufl., Berl. 1879); Schultz, Haut, H. und Nägel (4. Aufl., Leipz. 1898); Clasen, Die Haut und das Haar (4. Aufl., Stuttg. 1892) und Die naturgemäße Pflege und die Krankheiten des Haares (das. 1902). Über Krankheiten der H. s. Haarkrankheiten.

Geschichte der Haartrachten: technische Verwendung.

Zu allen Zeiten und bei allen Völkern wurde das Haar mit mehr oder weniger Kunst und Geschmack geordnet und gepflegt. Die Assyrer, Perser und Ägypter kräuselten Haar und Bart auf das sorgfältigste und ersetzten fehlendes auch durch Perücken. Haar und Bart wurden reich gesalbt, auch gefärbt und mit Binden, Bändern, Reisen und Schmucksachen aus edlem und unedlem Metall geschmückt (s. Tafel »Kostüme I«, Fig. 2 u. 3, und Tafel »Bildhauerkunst I«, Fig. 1 u. 2, und Tafel II, Fig. 1, 3 u. 5). Bei den Hebräern wurde das Haupthaar dick und stark getragen, und ein Kahlkopf galt nicht nur als arge Beschimpfung, sondern war z. T. auch wegen Verdachts des Aussatzes dem Volke verhaßt. Die Männer pflegten das Haar von Zeit zu Zeit mit einem Schermesser zu stutzen, und nur Jünglingen scheint die ältere Sitte gestattet zu haben, lang herabwallendes Haar zu tragen. Bei den spätern Juden aber galt langes Haar der Männer für ein Zeichen der Weichlichkeit, und den Priestern war es untersagt, solches zu tragen. Nur zufolge eines Gelübdes ließen auch Männer bisweilen das Haar wachsen. Die Frauen dagegen legten stets einen hohen Wert auf lange H. und pflegten sie zu kräuseln und zu flechten. Kämme sind im Alten Testament nirgends erwähnt, während andre Völker sie kannten. Man salbte das Haupthaar mit wohlriechenden Olen und gab ihm durch Einstreuen von Goldstaub Glanz. Die Griechen sahen im Haar den vorzüglichsten Schmuck des menschlichen Hauptes, und Homer zählt es zu den Geschenken Aphrodites. Während die Spartaner vom Mannesalter an das Haar lang trugen, weil es der wohlfeilste Schmuck sei, wurde es bei den Athenern, wenigstens seit der Zeit der Perserkriege, vom Mannesalter an mäßig verschnitten und künstlich in Locken gedreht, und während die Spartaner den Knaben das Haar kurz schnitten, trugen diese in Athen und anderwärts, bis sie die Ephebenjahre (in Athen das 18. Jahr) erreichten, lang herabhängendes Haar; dann aber verschnitt man es ziemlich kurz und ließ es erst mit dem Beginn des reifern Alters wieder länger wachsen. Sklaven durften bei den Spartanern sowohl als anderwärts die H. nicht lang tragen. Beim Eintritt in das Ephebenalter weihte der Jüngling das ihm abgeschnittene Haar einer Gottheit, gewöhnlich dem Apollon. Die Jungfrau schnitt sich vor der Hochzeit das Haar ab. Allgemein war die Sitte, durch Vernachlässigung des Haares seine Trauer auszudrücken,[575] indem man es abschnitt oder unordentlich herabhängen ließ. Dies geschah bei Sterbefällen, nach verlornen Schlachten etc., daher auch die Sitte der Alten, nach überstandener Gefahr, besonders nach einem Schiffbruch, das Haar zu scheren und dem Poseidon zu opfern (Haaropfer). Auf den ältesten Kunstdenkmälern erscheinen Frauen und männliche Figuren mit langen, zopfartigen Locken, die weit über die Achseln, auch über die Brust herabhängen (s. Tafel »Bildhauerkunst II«, Fig. 9). Spätere Kunstwerke zeigen das Haar offen, gescheitelt und hinten in einen Schopf zusammengebunden, den eine Art Haube oder Haarnetz bedeckte. Auch trug man weit künstlicher geordnetes Haar (vgl. Textfig. 1–8 und die Tafeln »Bildhauerkunst III-VI«). Im allgemeinen gab man den blonden Haaren den Vorzug; doch stand auch die schwarze Farbe in Ehren, wie wir aus Anakreon sehen. Aus Asien war nach Griechenland auch der Gebrauch falscher H. gekommen. Die ersten Haarkräusler finden wir in Athen, wo sie ein besonderes Gewerbe bildeten. Bis 300 v. Chr., wo P. Ticinius Mena den ersten Tonsor aus Sizilien nach Rom brachte, ließen die Römer nach dem Zeugnis des Varro das Haar lang herabhängen; zu Ciceros Zeit aber prangten angeblich nicht nur junge Stutzer, sondern selbst hohe Staatsmänner mit künstlichem und salbenduftendem Lockenbau.

Fig. 1–8. Griechische Haartrachten. Fig. 9 und 10. Römische Haartrachten.
Fig. 1–8. Griechische Haartrachten. Fig. 9 und 10. Römische Haartrachten.

Der Haarputz der Frauen nahm seit der Augusteischen Zeit eine immer reichere Form und größere Dimensionen an (Textfig. 9 u. 10), und da zu der beliebten Fülle von Zöpfen und Locken die H. Eines Kopfes nicht ausreichten, nahm man dazu falsches, meist blondes Haar (capillamentum). Letzteres wurde aus Germanien von den unterworfenen Stämmen eingeführt.

Die alten Bewohner des europäischen Nordens, namentlich die Kelten, banden das Haar am Hinterkopf zusammen (daher hieß bei den Römern das eigentliche Gallien, zum Unterschied von der gallischen Provinz, Gallia comata). Das lange, starke Haar galt ihnen als ein Merkmal männlicher Würde und Freiheit. Die germanischen Völker zeichneten sich durch ihr langes, braungelbes, hier und da ins Goldblonde oder Rötliche fallende Haar aus. Abgeschornes Haar war bei Kelten und Germanen ein Zeichen der Untertänigkeit; auch hat sich das Haarabscheren als entehrende Strafe lange in einzelnen deutschen Rechten erhalten. Bei den Franken war die Ehrentracht des langen Haares eine Zeitlang ein Zeichen der königlichen Würde (daher heißen die Merowinger auch die gelockten Könige), und solange dies währte, mußten alle Untertanen das Haar kurz scheren. Dagegen trugen Karl d. Gr. und die Karolinger kurzes Haar (s. Tafel »Kostüme I«, Fig. 10), während die Sachsen, die in den frühern Jahrhunderten Kopf- und Barthaar schoren, in und nach der Zeit Karls d. Gr. bis gegen Ende des 10. Jahrh. das Haar lang herabfallen ließen. Auch die Frauen ließen es entweder frei herabhängend wachsen, oder banden es auf und befestigten es mit Knöpfnadeln. In den folgenden Jahrhunderten pflegten die Männer das Haar bis auf die Schultern herab zu tragen, über der Stirn kurz abzuschneiden, es auch zu kräuseln und zu locken, während die Frauen es, wie früher, lang herabwallen ließen (s. Tafel »Kostüme I«, Fig. 13), oder mit dem Gebende (s. d.) bedeckten, oder durch einen Schapel (s. d.) hielten, oder, besonders in Frankreich und England, mit Bändern zu einem oder zwei Zöpfen umwanden, die auf den Rücken oder vorn über die Schultern herabfielen. Die zwei letzten Jahrhunderte des Mittelalters zeigen in der Haartracht beider Geschlechter die größte Mannigfaltigkeit. Die ehrbaren Männer trugen das Haar kurz geschnitten, später auch lang herabhängend oder auch gekräuselt; die Frauen seit der Mitte des 14. Jahrh. stets mit einer der damals üblichen Kopfbedeckungen. Gänzliche Kürzung des Haares der Männer wurde zwar von Karl VII. in Frankreich eingeführt (vgl. Kalotte), scheint aber erst Ende des 15. Jahrh. allgemein geworden zu sein. Auch die Landsknechte schoren das Haar möglichst kurz (s. Tafel »Kostüme II«, Fig. 10). Die Frauen dagegen beharrten dabei, es im Nacken aufzubinden und mit einer Haarhaube zu bedecken (s. Tafel »Kostüme II«, Fig. 4,7 u. 9). In der Renaissancezeit kämmten die Männer das Haar über die Stirn und schnitten es gerade ab (Kolbe, s. d.). Unter Ludwig XIV. entstand in der Haartracht eine Revolution in ganz Europa. Man ordnete das Haar in einen Wulst von Locken, Knoten, Buckeln u. dgl., und da das eigne Haar nun nicht mehr dazu ausreichte,[576] so kamen die Perücken nicht nur in allgemeinen Gebrauch, sondern man befestigte sogar noch steife Kissen auf dem Kopfe, um die erforderliche Turmhöhe der Frisur erreichen zu können (s. Tafel »Kostüme III«, Fig. 7, und den Artikel »Perücke«). Gleichzeitig ward der Puder allgemein. Trugen auch die Damen keine Perücken, so waren ihre Haargebäude doch nicht weniger ungeheuer und dabei so mühsam, daß der Vorabend eines Festes zum Aufbau der Frisur angewendet werden und die Frisierte die Nacht im Lehnstuhl zubringen mußte (vgl. Fontange). Infolge der französischen Revolution fielen mit den veralteten Staatsformen auch die Perücken, so daß die Männer bald allgemein kurzes Haar trugen, wie dies noch heute in ganz Europa meist der Fall ist. Die Frauen dagegen suchten den Haarputz der Römerinnen auf einige Zeit wieder hervor und umgaben dann die Stirn mit Löckchen (s. Tafel »Kostüme III«, Fig. 14), während das übrige Haar im Nacken zusammengeschlagen wurde oder im Chignon herabhing. Nur kurze Zeit trugen auch die Frauen kurzes Haar à la Titus (s. Tituskopf), eine Mode, die um 1890 wiedergekehrt ist, aber sich nur kurze Zeit erhielt; dann folgten die im Nacken herabwallenden Locken à l'enfant, und das lange Haar trat von neuem in seine Rechte. Wieder aufgebunden, ward es in möglichst breite Flechten gebracht, die kranzartig auf dem Kopfe lagen, während an beiden Seiten an den Schläfen ein wahrer Lockenwald prangte. Riesige Kämme von zierlicher Arbeit ragten darüber empor, und Diademe, Perlen, Blumen etc. gruppierten sich dazwischen. Die sogen. Apolloschleifen sowie der nochmalige Versuch, den griechischen Haarputz wieder einzuführen, bildeten den Übergang zu größerer Einfachheit, die den modernen Frisuren Platz machen mußte, die an Extravaganz alles Frühere übertrafen und weder einen bestimmten Charakter noch regelmäßige Formen darboten. Ungeheure Chignons und Biberschwänze wechselten mit scheinbar zerzaustem Haar und Wäldern von falschen Locken. Alle auf die Einführung einer natürlichern Haartracht gerichteten Bestrebungen haben nur vorübergehenden Erfolg gehabt. Wie die weibliche Tracht ist auch die Haartracht dem raschen Wechsel der Mode unterworfen, die meist zwischen Extremen schwankt und in neuester Zeit wieder zu Auswüchsen und grotesken Übertreibungen (Tellerfrisuren) geführt hat. Weit stabiler ist der Haarputz bei den außereuropäischen Völkern. Bei den Naturvölkern Asiens, Afrikas, Amerikas und Australiens suchen sich die Männer durch ein mähnenartiges Herabwallen des langen Haares oder durch ganze Gebäude von geflochtenem, geöltem oder durch fettige Tonerde zusammengehaltenem Haar meist ein furchtbares Ansehen zu geben. Die Frauen tragen das Haar häufig kurz oder geflochten oder in einen Wulst zusammengerollt (vgl. die Tafeln »Afrikanische, Amerikanische, Asiatische und Ozeanische Völker«). Die Araberinnen teilen das Haar in unzählige kleine Flechten, die sie mit Goldfäden, Perlenschnüren, Bändern etc. durchziehen und mit einem leichten Turban bedecken. Die Araber tragen das Haar kurz. Die Chinesen und Japaner lassen es bis auf einen kleinen Büschel am Wirbel abscheren; ihre Frauen kämmen es von allen Seiten auf die Mitte des Kopfes zusammen und schmücken den zierlich geordneten Büschel mit Blumen, Nadeln und Kämmen (s. Tafel »Japanische Kultur I«, Fig. 7). Doch beginnt hier die europäische Zivilisation die alte Sitte zu verdrängen. Die Türken und Perser scheren sich das Haupt zum Teil; die Frauen ordnen das Haar in lange Flechten, die sie durch seidene von gleicher Farbe verlängern. Über die Haartracht der Geistlichen s. Tonsur. Außer den größern Werken über Kostümkunde vgl. Krause, Plotina, oder die Kostüme des Haupthaars bei den Völkern der Alten Welt (Leipz. 1858); Falke, H. und Bart der Deutschen (im »Anzeiger des Germanischen Museums«, 1858); Bysterveld, Album de coiffures historiques (Par. 1863–1865, 4 Bde.); Gräfin v. Villermont, Histoire de la coiffure féminine (Brüssel 1891); Wilken, Über das Haaropfer und einige andre Trauergebräuche bei den Völkern Indonesiens (in der »Revue coloniale«, 1887; enthält auch Kulturgeschichtliches aus Deutschland).

Technische Verwendung findet vorzüglich die Wolle (s. d.) sowie das seine tibetische und persische Ziegenhaar, die H. der Bisamratten, Hafen, Lamas und Kamele, der Angoraziege, der Vicuña, des Alpako, der Pferde etc. Geflechte, Schnüre, Stricke und Gewebe aus Haaren werden zu mannigfachen Zwecken dargestellt. Menschenhaare werden von Frauen getragen, um stärkern Haarwuchs vorzutäuschen, sonst werden sie zu Perücken und sogen. Haararbeiten benutzt. Zu letztern verwendet man meist H. von Verstorbenen, die zu Perücken etc. zu brüchig sind. In der Regel ist das Haar 60 cm, bisweilen 1 m lang. Das Gewicht des Haares von einem Kopf beträgt selten mehr als 0,25 kg. Früher lieferten Norddeutschland, Schweden, Norwegen sehr viel, namentlich blondes Haar. Mit dem steigenden Wohlstande der ärmern Bevölkerung hat aber die Neigung, ihr Haar zu verkaufen, schnell abgenommen. Blondes Haar ist sehr teuer geworden. Frankreich, Italien, Spanien, Rußland liefern dunkles Haar, die Normandie und Bretagne die ungewöhnlichsten Schattierungen und die feinsten H. Das rohe Haar wird sortiert, mit kochendem Wasser, schwacher Sodalösung oder Ammoniakflüssigkeit gewaschen, auch vielfach gefärbt und büßt bei dieser Behandlung 15–25 Proz. ein. Ein Surrogat der Menschenhaare ist rohe Seide, die man entsprechend färbt und zu Locken und Perücken verarbeitet. Die Haararbeiten aus Menschenhaar sind Flechtarbeiten, oder man klebt die H. auf, um Landschaften, Medaillons u. dgl. herzustellen. Derartige Arbeiten nennt man Haarmosaik oder Haarmalerei und, wenn man auf Seide arbeitet, wohl auch Haarstickerei.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 8. Leipzig 1907, S. 573-577.
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