Bolivĭa

[177] Bolivĭa (s. Karte »Argentinien, Chile etc.«), Republik in Südamerika, zwischen 8–22°50' südl. Br. und 58–73°20' westl. L., wird im N. und O. von Brasilien, im S. von Paraguay und Argentinien, im W. von Chile und Peru umschlossen und hat 1,334,200 qkm Fläche.

[Physische Verhältnisse.] B. besteht aus einem Abschnitte des hier sich gewaltig verbreiternden, langgestreckte Hochebenen und nahezu die höchsten Erhebungen einschließenden Andensystems und weiten, von zahlreichen Flüßchen durchfurchten Ebenen im N. und O. Die Küstenkordillere hält sich meist in gewisser Entfernung von der Grenze, die fast parallel mit ihr auf einer durch die mächtige Vulkanreihe Licancáur (5950 m), Ollagua (5865 m), Isluga (5200 m), Sajama (6415 m) bezeichneten Linie verläuft. Südlich von dem letzten erhebt sich der Guallatiri (6000 m), und nahe dem Isluga am Nordende der Cordillera Silillica (Lirima 5850 m) führt der Pichutapaß vom Hochland von Oruro nach Pisagua am Stillen [177] Ozean. Der niedrigste Übergang ist der Ascotanpaß, den die Eisenbahn nach Huanchaca überschreitet. Die östliche Kette, in ihrem höchsten Teil Königskordillere (Cordillera Real) genannt, zieht sich in einem der Küste parallelen Bogen nordwärts bis Cuzco und trägt eine Reihe zackiger Schneegipfel, darunter Sorata oder Illampu (6550 m), Chachacomani (6204 w), Huaina Potosi (6150 m), Illimani (6410, nach andern 6771 m und dann der höchste Berg Bolivias). Merkwürdigerweise bildet dies mächtige Gebirgsland keine entschiedene Wasserscheide, die für die Amazonaszuflüsse häufig westlich derselben liegt. Bei dem Gebirgsknoten von Colquiri wendet sich der Hauptgebirgskamm fast östlich, während schmale Parallelzüge nach S. streichen, wie Cordillera de los Frailes, Sierra de Chichas; ganz im S. erheben sich die Nevados de Lipez bis 5590 m. Die Pässe übersteigen fast alle 4400 m. Die Schneegrenze liegt in der Ostkordillere erst bei 5200 m, in der Küstenkordillere bei 4600 m. Die von beiden Gebirgsmassen eingeschlossene Hochebene von B. oder von Oruro, die sich bei 110–220 km Breite von 15–22° südl. Br. hinzieht, 82,500 qkm Fläche und 4000 m Höhe hat, enthält an ihrem Nordende den Titicacasee (3854 m), der durch den Desaguadero mit der südlichern Pampa Aullagas in Verbindung steht, die wiederum durch die Laca-Ahuira mit dem Salzsumpf Ciénaga de Coipasa (1850 qkm) zusammenhängt. Am Nordufer der südlich davon gelegenen Salzpampa de Empeza (7700 qkm) steigt der Cerro de Tahua zu 5320 m auf. Das ganze Gebiet der Hochebene im S. der von NW. gegen SO. verlaufenden Kordillere von Llicatahua ist eine wasserlose, unfruchtbare Wüste (los desertos de Lipez). An das Hochland schließen sich die großen Ebenen (Llanos de Apolobamba, de Guarayos, de Chiquitos, der aus Paraguay herübertretende Chaco Boreal), von niedrigen Bergrücken, von zahlreichen Flüssen mitvielfacher Sumpfbildung durchzogen, aber auch wie im Chaco wasserarm und öde.

Die Flüsse wenden sich entweder nach N. zum Amazonenstrom oder nach S. zum Pará. Die äußerste Nordwestecke ist durchzogen vom Oberlauf des Jurua und Purus die dem Amazonas zueilen. Am Ostabhang der Königskordillere entspringt der Beni (Uchapara), der kurz vor seiner Vereinigung mit dem Mamoré den Rio Manu (Madre de Dios, Amarumayu) aufnimmt; am Südwestabhang der Rio Grande, der, durch viele Zuflüsse verstärkt, als Mamoré den die Grenze gegen Brasilien bildenden Guaporé von rechts empfängt und durch seine Vereinigung mit dem Beni den Madeira, den Hauptzufluß des Amazonas, bildet. Am südlichen Teile der Ostkordillere entspringt der Pilcomayo, der den Pilaya aufnimmt und durch den Gran Chaco dem die Ostgrenze bildenden Paraguay zuströmt. Von Seen hat B. außer seinem Anteil am Titicacasee und den Salzsümpfen des Hochlandes einige ziemlich bedeutende in den großen Flußebenen des Ostens, wie den zum Beni abfließenden Rogagua, den Concepcion.

Einen hervorragenden Anteil am geologischen Aufbau Bolivias nehmen die paläozoischen Schichten. Aus ihnen besteht die ganze Hochebene von Tarija bis nördlich von La Paz und Santa Cruz de la Sierra, ebenso Teile der Provinz Chiquitos. Es sind teils kambrische, teils silurische, oft durch Erzführung ausgezeichnete Tonschiefer und Grauwacken, namentlich aber devonische Sandsteine, hier und da von Kohlenkalk und karbonischen Sandsteinen und Konglomeraten, auch von Fossilien führenden Kalksteinen des obern Karbons überlagert. Rote (bei Corocoro Kupfer führende) Sandsteine und bunte, z. T. Steinsalz und Gips führende Mergel der untern Kreide erscheinen südlich vom Titicacasee zwischen beiden Kordilleren; höhere kretazeïsche Schichten mit Einschaltungen von Porphyrnen, Melaphyren und Diabasen sowie deren Tuffen und Konglomeraten (Porphyrformation) sind mehr auf die Westgrenze des Landes (östlicher Rand der Wüste Atacama), hier in Verbindung mit älterer Kreide und Juraschichten, und auf den Ostabfall der Kordillere beschränkt. Ausgedehnte quartäre Ablagerungen, und zwar Ton-, Sand- und Lößbildungen, die zur Pampasformation Argentiniens gerechnet werden, bedecken die Landstriche nordwestlich, östlich und südöstlich von Santa Cruz; aus Trümmern älterer Gesteine bestehende, offenbar glaziale Gebilde haben in der Umgebung des Titicacasees und bei La Paz ziemliche Mächtigkeit und sind reich an Gold. Unter den Eruptivgesteinen hat man außer den Porphyren ältere dioritische und granitische Gesteine, und jüngere, andesitische, basaltische und trachytische Gesteine zu unterscheiden. Die letztern setzen das Hochland südlich vom Titicacasee und die Hauptgipfel der Kordilleren zusammen und stehen z. T. mit den Silber- und Zinnerzvorkommnissen in ursächlicher Beziehung. Die reichsten Silberminen liegen in den mittlern und südlichen Teilen der östlichen Kordillere; es sind die Minen von Potosi (einst die reichsten Silbergruben der Erde), Oruro, Poopó, Porco und Portugalete. Gold findet sich, außer in den Glazialablagerungen in den Quarzgängen der altsedimentären Gesteine und im Sande der Flüsse allgemein verbreitet, Kupfer in den Sandsteinen von Corocoro und Chacarilla, ergiebige Zinnerze bei Oruro, Tacna und Poopó. Salz kommt im Hochland in unerschöpflicher Menge vor. Braunkohlen und Petroleum werden in der Provinz Tarija gefunden. Auch an Eisen, Blei, Antimon, Wismut, Quecksilber fehlt es nicht. Erdbeben scheinen vorzugsweise auf den Westteil des Landes beschränkt zu sein; heiße Mineralquellen sind häufig (bei Potosi, Paria, Cochabamba).

Das Klima ist sehr wechselnd. In den Puna, den Gegenden, die höher als 3500 m liegen (die über 3900 m aufragenden heißen Puna brava) und die ganze Hochebene von B. und die höhern Gebirge umfassen, ist das Klima kalt, rauh und unwirtlich, die Luft auffallend trocken, aber rein und gesund, trotz der großen Wechsel zwischen einzelnen heißen und den gewöhnlich rauhen Tagen und des häufig schneidenden Windes. Kalte West- und Südwestwinde wehen hier das ganze Jahr mit gleichbleibender Stärke, insbes. vom September bis Mai (Regenzeit); zu derselben Zeit entladen sich fast täglich heftige Gewitter, gewöhnlich gefolgt von einem bis morgens anhaltenden Schneegestöber. Vom Mai bis Oktober (Winter) ist der Himmel heiter. Die Puna ist baumlos, in der tiefern Puna baut man Kartoffeln, Gerste, Quinoa und Oca (die Knolle von Oxalis tuberosa). In den Valles, den niedriger als 3500 m liegenden Tälern in dem östlichen Stufenland von B. bis 1600 m herab, wird das Klima mit der größern Tiefe immer wärmer und feuchter, der Regen häufiger, der ohnedies fruchtbare Boden immer ergiebiger. In den obern Teilen herrscht bei Nacht dichter Nebel. Die Regenzeit dauert von Oktober bis März oder April. Man teilt die Valles in die obern (Cabezeras de Valles) zwischen 3500 und 2900 m, in denen schon Weizen und selbst Mais gebaut wird, und in die untern (Medio Yungas), in denen alle Feld- und Gartenfrüchte, selbst tropische,[178] üppig gedeihen. Alle unter 1600 m liegenden Gebiete werden Yungas genannt. Diese Gegenden, in denen die tropischen Früchte gedeihen, wären bei der fast unerschöpflichen Fruchtbarkeit des Bodens für eine höhere Kultur überaus geeignet, wenn nicht das Klima so ungesund, die Überschwemmungen und die Dichtigkeit der Wälder so hinderlich wären. Weiter nach S. hin wird das Land immer trockner und geht über in eine Wüstenregion, wo zuweilen der Regen jahrelang fast ganz fehlt.

Pflanzenwelt. In den offenen, weiten Flußtälern der östlichen Andenkette gedeihen an geschützten Stellen bis zu Höhen von mehr als 3000 m die Früchte Südeuropas. Die untern Abhänge sind waldlos; nur an den Flußufern wachsen hohe Weidengehölze (Salix Humboldtii). Reich vertreten sind Melastomazeen und Kakteen; auch Arten der ölreichen Gaultheria, von Myrtus und Andromeda sind häufig. In der obern Waldregion (2000 m) herrschen die Waldbestände der Cinchona-Bäume, welche die Fieberrinde liefern, während weiter herab die Kulturgrenzen des Pisang, der Koka (Erythroxylon Coca) und des Zuckerrohrs liegen. Bis 1600 m reicht die Kultur des Maniok- oder Kassavestrauches (Manihot utilissima), von dem Tapioka gewonnen wird, während der Kakaobaum (Theobroma Cacao) nicht über 600 m hinausgeht. Die medizinisch wichtigen Leguminosen Myroxylon peruiferum u. Copaifera officinalis sind weit verbreitet.

Die Tierwelt gliedert sich wie die Pflanzenwelt nach der Erhebung des Bodens. In den höhern Regionen leben Vicuña und Alpaka, kleine Nagetiere wie die Viscacha und manche Formen der nördlichen und südlichen gemäßigten Zone. Unter den Raubvögeln ragt der Kondor hervor, Papageien, Spechte, Kolibris sind in allen Höhenlagen vorhanden, und manche Arten steigen hoch hinauf ins Gebirge. Die niedern Regionen beherbergen in großer Mannigfaltigkeit tropisch amerikanische Arten, viele Affen, von den großen Raubtieren Puma, Jaguar und Wickelbären, Pekaris und viele Vögel, Reptilien, schwanzlose Amphibien und Insekten.

[Bevölkerung.] Die Einwohnerzahl betrug nach den Zählungen 1890–93: 2,159,037 Einw., in den einzelnen Departements: Beni u. Acre 37,360, Chuquisaca 298,957, Cochabamba 451,200, La Paz 601,145, Oruro 200,095, Potosi 368,430, Santa Cruz 112,200, Tarija 89,650, mit Einschluß von 250,000 wilden Indianern 2,310,000 oder 1,6 Einw. auf 1 qkm, und zwar 49,5 Proz. Indianer, 25,7 Proz. Weiße und 24,8 Proz. Mestizen. Die Weißen gehören fast alle der spanischen Rasse an, meist jedoch vermischt mit Indianern. Zu den letztern gehören vornehmlich die am Titicacasee wohnenden Aymara, abstoßend häßlich und unreinlich, 222,500 reinen Stammes und 130,400 Mischlinge, im N. und O. von diesen die Quichua, 112,580 reinen Stammes und 136,400 Mischlinge, ein sanftes, freundliches Volk, schwerer Arbeit abgeneigt, aber fleißige Hirten und Ackerbauer. Die Quichuasprache wird gegenwärtig im Depart. Cochabamba, die rauhere Aymarasprache auf dem übrigen Hochland gesprochen. Im W. der Anden wohnen die Antisauer im Quellgebiete des Beni und seiner Zuflüsse, die mehr kriegerischen, Ackerbau liebenden Moxo in den großen Llanos des Nordostens und südlich von ihnen die wilden, nomadisch lebenden Chiquito, dann die zu den Tupi-Guarani zählenden Guarayo, Chiriguano, Siriano, sämtlich noch in ursprünglichen Verhältnissen, während die Quichua und Aymara vollständig unter spanischen Einflüssen stehen und längst zum Christentum bekehrt sind. Vgl. Tafel »Amerikanische Völker« sowie Artikel »Südamerika« (Bewohner).

Die Religion ist die römisch-katholische, die öffentliche Ausübung jedes andern Kultus ist untersagt. Kirchlich zerfällt der Staat in vier Diözesen: die des Erzbistums La Plata (Charcas) in Sucre und der Bistümer von La Paz, Santa Cruz de la Sierra und Cochabamba. Die Volksbildung liegt sehr darnieder. Es bestehen 5 sogen. Universitäten mit Fakultäten der Rechtswissenschaft, Medizin und Theologie zu La Paz, Chuquisaca, Cochabamba, Santa Cruz und Tarija, eine Schule für Architektur und Bergbau in La Paz, 8 Lyzeen, 4 Seminare, 16 höhere Schulen, darunter 4 Mädchenschulen, 400 Elementarschulen mit 25,000 Schülern. Von Literatur ist keine Rede; die politische Presse ist die elendeste in ganz Südamerika.

Die hauptsächlichsten Erwerbszweige sind Landbau, Viehzucht und Bergbau. Der erstere liegt infolge von Latifundienwirtschaft sehr danieder. Man baut die notwendigen Nahrungsmittel und etwas Luzerne (Alfalfa) als Viehfutter; der Ertrag des Kaffees, der Baumwolle, des Zuckers, Kakaos und Tabaks ist unwesentlich; nur der Bau der Koka, die in B. am besten gedeiht, und deren Verkauf Regierungsmonopol ist, hat größere Bedeutung. Auch die Viehzucht wird vernachlässigt, so daß nicht einmal der Bedarf des Landes befriedigt wird. Der Bergbau bildet den wichtigsten Erwerbszweig, besonders auf Silber. 1894 wurden 682,000 kg Silber gefördert (310,000 allein in den Gruben von Huanchaca), von Zinn 8670 Ton., namentlich bei Arecaya, Machas, Huanuni; die Ausfuhr betrug 1894 von Silber 15,6, von Zinn und Kupfer je 1 Mill. Mark, letzteres namentlich von Corocoro und Chacarillo.

Die Industrie ist gering, doch sind die wenigen Produkte: Wollen- und Baumwollenwaren, Hüte aus Vicuñawolle, Zinnwaren, Schießwaffen, ziemlich gut, die Branntweinbrennerei ist im Steigen begriffen. Sonst sind noch die Gewinnung von Chinarinde und Kautschuk wichtig. Der Handel ist unbedeutend. Erst neuerdings beginnt man die großen Zuflüsse des Amazonas und Paraná in Handelsstraßen zum Atlantischen Ozean zu verwandeln. Der größte Teil der Ausfuhr (1900: 35,657,690 Bolivianos) geht durch Peru und Chile zum Pacific, und auf demselben Wege kommt die Einfuhr (1900: 13,344,114 Bolivianos). Die hauptsächlichsten Ausfuhrartikel sind Silber, Zinn, Kupfer, Wismut, Gold, Kautschuk, Kakao, Chinarinde, Kaskarillrinde, Wolle und Baumwolle. Von Eisenbahnen waren 1900: 972 km in Betrieb, davon 800 km bolivianischer Anteil der Linie Antofagasta-Oruro. Die Post beförderte 1899 durch 320 Bureaus im innern Verkehr 1,181,683, im äußern 536,226 Briefpostsendungen. Die Einnahmen betrugen 369,715, die Ausgaben 489,170 Frank. Die Telegraphenlinien haben (1900) 6641 km Länge und 131 Bureaus. Kreditanstalten sind die Bolivianische Bank (mit Notenausgabe) und der Credito Hipotecario.

Maß- und Gewichtswesen ist das metrische. doch kommen noch altspanische Größen vor. Der Cesto Kokablätter wiegt 1 Arroba von 25 Libras = 11,5 kg, und 1 Sixto enthält 21/3 Arrobas. Das Gesetz vom 29. Juni 1863 führte als Rechnungsmünze den Peso Boliviano zu 100 Centimos ein = 4,05 Mk., 1900 nach Silberwert 1,88 Mk. Im Umlauf befinden sich meist die 20-Centavostücke, von denen 5 nur 20,25 g sein Silber enthalten, statt 22,5 g wie der seltene Boliviano.[179]

[Staatsverfassung und Verwaltung.] Die Unabhängigkeitserklärung Bolivias erfolgte 6. Aug. 1825. Am 11. Aug. d. J. wurde zum Andenken an Simon Bolivar der Name »B.« angenommen. Nach der Verfassung vom 25. Aug. 1826, abgeändert 3. Aug. 1828, 1898–99 ganz beseitigt, soll B. eine demokratische Republik sein, in der alle Macht vom Volk ausgeht und durch drei getrennte Gewalten geübt wird. Die exekutive Gewalt übt ein auf vier Jahre gewählter Präsident aus, neben dem zwei Vizepräsidenten und fünf Minister (Inneres, Äußeres, Finanzen, Krieg und Justiz) stehen. Die gesetzgebende Gewalt beruht auf dem Kongreß, der aus einem Senat und einer Deputiertenkammer besteht. In administrativer Hinsicht zerfällt B. in 8 Departements (s. oben), diese wieder in 33 Provinzen (Partidos) und diese in Kantone. Die Hauptstadt wechselt je nach der herrschenden Partei; zur Zeit ist es Sucre (s.d.). Die richterlichen Institutionen sind ein oberster Gerichtshof in Sucre, Distriktsgerichtshöfe in den einzelnen Departements, Richter erster Instanz in den Distrikten, endlich Friedensrichter; die Rechtspflege ist dem französischen Verfahren nachgebildet (ohne das Institut der Geschwornen). Die Finanzen sind im jämmerlichsten Zustand. Nach dem Budget für 1900 betragen die Einnahmen 7,331,400, die Ausgaben 7,930,188 Bolivianos. Die Staatsschuld betrug 1891: 10,849,626 Bol., davon innere 3,934,250, äußere 6,915,376 Bol. Das stehende Heer zählt 2975 Mann, die Nationalgarde (in drei Kategorien) 82,560, die erste und zweite derselben etwa 50,000 Mann. Das Wappen ist eine Landschaft mit einem von der Sonne beschienenen Berg im Hintergrund, rechts vorn ein Lama (Pako), links ein Kornbündel und eine Palme, im Hintergrund ein Bergwerksgebäude. Der ovale Schild ist von einem von Gold über Blau geteiltem Rahmen umzogen, der oben in roten Lettern den Namen »BOLIVIA«, unten neun goldne Sterne zeigt (s. Tafel »Wappen III«). Die Flagge ist gelb, rot und grün (s. Tafel »Flaggen I«). Es besteht ein Orden der Ehrenlegion, gestiftet 1886.

Geschichte.

B. ist das alte Oberperu (s. Peru) und umfaßt die Gebirgsprovinzen des ehemaligen spanischen Vizekönigreichs Rio de la Plata. Der Westen Bolivias gehörte zu dem ursprünglichen Reich der Inka von Cuzco. Die Spanier eroberten das jetzige B. trotz kräftigen Widerstandes 1538, worauf das Land zu dem Vizekönigreich Peru geschlagen wurde. Seit der Bildung des Vizekönigreichs La Plata 1776 war es ein Teil davon und wurde nach der Hauptstadt Charcas (jetzt Chuquisaca) benannt. Nach dem Ausbruch der südamerikanischen Revolution bildete sich schon im Juli 1809 in La Paz eine revolutionäre Regierungsjunta; diese wurde zwar von den königlichen Truppen bald gesprengt, doch eroberte General Balcarce 1810 Oberperu an der Spitze der Truppen der Junta von Buenos Aires. Seitdem war Oberperu wiederholt der Schauplatz, wo Liberale und Monarchisten um die Vormacht rangen, und erst durch die Schlacht von Ayacucho 9. Dez. 1824 ward hier die spanische Macht völlig gebrochen. Eine im Juli 1825 zu Chuquisaca zusammengetretene Versammlung proklamierte 6. Aug. die Unabhängigkeit des Landes. Die vier Provinzen Charcas oder Potosi, La Paz, Cochabamba und Santa Cruz traten zu einer eignen Repräsentativrepublik unter Bolivars Schutz zusammen, worauf der junge Freistaat 11. Aug. den Namen »B.« annahm. Der Sitz der Regierung ward nach Chuquisaca gelegt. An ihre Spitze ward, nachdem 25. Aug. 1826 ein neuer Kongreß die von Bolivar entworfene, die republikanische Freiheit beschränkende Konstitution, den Code Boliviano, angenommen hatte, der General Sucre gestellt, der aber schon nach zwei Jahren abdankte. Ein 3. Aug. 1828 eröffneter neuer Kongreß zu Chuquisaca veränderte die Verfassung in wesentlichen Punkten und wählte den Großmarschall Santa Cruz (s.d.) zum Präsidenten, der aber die Wahl erst annahm, nachdem monatelange innere Unruhen gezeigt hatten, daß nur eine starke Faust in dem jungen Staatswesen die Ordnung aufrecht erhalten könne. Er gab 1831 ein neues Gesetzbuch, Codigo Santa Cruz, ordnete die Finanzen, schloß einen Friedens- und Handelsvertrag mit Peru und stellte 1834 zur Beförderung der Landeskultur, der Industrie, der Wissenschaften und Künste den Einwanderern sehr günstige Bedingungen. Nach einigen Jahren ungestörter Ruhe und einer gedeihlichen Entwickelung suchte Santa Cruz seine Macht auch über Peru auszudehnen; er rückte in dieses Land ein, besiegte den General Gamarra 8. Aug. 1835 bei Cuzco und eroberte bis Frühjahr 1836 ganz Peru, worauf er als Pazifikator von Peru zum Oberhaupt von Süd- und Nordperu ausgerufen wurde. Er gab nun den beiden Staaten eine Verfassung, wonach jeder Staat seine innern Angelegenheiten selbständig besorgen, der gesamte Bundesstaat aber einer Zentralregierung unterworfen sein sollte, die für 10 Jahre ihm selbst unter dem Namen eines Protektors übertragen ward. Dies gab aber Anlaß zu neuen Empörungen in beiden Staaten. In Peru erhob sich General Gamarra und brachte Santa Cruz in der Schlacht bei Yungay 20. Jan. 1839 eine Niederlage bei. In B. erklärte sich General Velasco gegen die Konföderation und wurde von dem Kongreß als provisorischer Präsident bis zur verfassungsmäßigen definitiven Wahl bestätigt, worauf Santa Cruz das Land verließ. Aber auch Velasco mußte bald dem einstimmig als Präsidenten anerkannten General Ballivian weichen. General Gamarra, der Präsident von Peru, suchte diese Zerwürfnisse in B. zu benutzen, um die Provinz La Paz loszureißen, ward aber 18. Nov. 1841 unweit Viacha aufs Haupt geschlagen. Ballivian drang nun in Peru ein, worauf 1842 zu Pasco Friede auf Grund des Status quo ante bellum geschlossen ward. Ballivian blieb trotz aller Versuche des Generals Santa Cruz, in Peru eine Revolution zu wege zu bringen, Präsident bis 1847, worauf Velasco provisorisch wiedergewählt wurde.

Nach dessen Rücktritt 1848 kam es zu längern Streitigkeiten, bis zuletzt General Manuel Isidor Belzu die Ordnung einigermaßen herstellte und sich die Hebung des Ackerbaues und der Industrie angelegen sein ließ. 1855 nötigte ihn indes eine Soldatenmeuterei zum Rücktritt, und sein eigner Schwiegersohn, der General Cordova, ward an seiner Stelle Präsident, mußte jedoch schon im September 1857 dem Dr. José Maria Linare weichen. Dieser riß die ganze Regierungsgewalt an sich und warf sich 1858 zum Diktator auf, konnte sich aber nicht behaupten und ward Anfang 1860 durch Cordova verdrängt. Dieser wurde schon in der Nacht vom 15. Jan. 1861 durch einen Aufstand in La Paz gestürzt, worauf der General José Maria de Acha zum Präsidenten erhoben wurde. Auch dieser hatte anfangs mit Aufstandsversuchen zu kämpfen, allein er ließ sie blutig unterdrücken, und diese Grausamkeit sicherte für einige Zeit seine Herrschaft, bis die Umgestaltung, die er 1863 mit seinem Ministerium vornahm, ihm allgemeineres Vertrauen[180] verschaffte. Er richtete sein Augenmerk vornehmlich auf Bolivias kommerzielle und industrielle Entwickelung und vollzog 2. Nov. 1862 einen bereits 13. Mai 1858 mit den Vereinigten Staaten von Nordamerika geschlossenen Freundschafts-, Handels- und Schifffahrtsvertrag. Auch mit Frankreich trat er 1863 in freundschaftliche Beziehungen. Schwieriger ward ihm die Beilegung eines zwischen Chile und B. entstandenen Streites über den Besitz des am Stillen Meer gelegenen Landstriches Mejillones, der wegen seiner Salpeterbergwerke und Guanolager wichtig ist.

Bei dem Streit zwischen Spanien und Peru wegen der Chinchainseln schloß sich B. an Peru an. Die kluge und gemäßigte Regierung Achas hatte indessen den Geist der Anarchie doch nicht unterdrücken können. Am 28. Dez. 1864 erhob sich gegen ihn zu Cochabamba der General Mariano Melgarejo, der im Februar 1865 die letzten Truppen Achas bei Ocaza in der Nähe von Potosi schlug und fast in ganz B. als Präsident anerkannt wurde. Wiederholte Versuche, ihn zu stürzen, schlugen fehl. 1868 wurde eine neue Konstitution vereinbart, die aber Melgarejo schon im Februar 1869 wieder aufhob, so daß er seitdem faktisch die Diktatur ausübte. Indes machte sich 20. Juni 1871 Morales mit Vertreibung Melgarejos zum Präsidenten. Letzterer wurde 1872 von seinem Schwiegersohn ermordet, Morales aber 27. Okt. 1872 vom Obersten Federico la Fayé, seinem Neffen, infolge eines Wortwechsels niedergeschossen. Darauf wurde Ballivian zum Präsidenten der Republik ernannt. Ihm folgte 1873 Frias, der aber schon 1876 durch einen Soldatenaufstand gestürzt wurde. Nun bemächtigte sich General Daza (s.d.) 4. Mai 1876 der Herrschaft. Dieser schlug seine Residenz in Sucre auf und erlangte seine Wahl zum definitiven Präsidenten durch einen konstituierenden Nationalkonvent, der auch eine Verfassung nach Dazas Wunsch beschloß. Aber Daza bereicherte sich durch Mißbrauch seiner Gewalt in schamloser Weise. Von Peru veranlaßt, fing er 1879 einen Krieg mit Chile an, obwohl die bolivianische Armee schlecht gerüstet und nur 5000 Mann (mit 1000 Offizieren) stark war. Den Anlaß boten die von Chilenen ausgebeuteten Salpeterbergwerke an der Atacamaküste, die Daza entgegen bestimmten Verträgen mit hohen Abgaben belegte. Daza schloß ein Bündnis mit Peru, vereinigte sich im südlichen Peru mit dem peruanischen Heer, entzog sich aber feig dem Kampf und ward daher im Dezember 1879 von den entrüsteten Truppen verjagt. Eine Nationalversammlung stellte General Campero an die Spitze des Staates und des Heeres, das in den unglücklichen Schlachten gegen die Chilenen 1880 mitkämpfte, sich aber dann gänzlich auflöste. Nach dem vollständigen Siege Chiles wurde von dem neuerwählten Präsidenten Pacheco 29. Nov. 1884 ein Waffenstillstandsvertrag von unbestimmter Dauer abgeschlossen, der B. zur Abtretung des ganzen Küstengebiets nötigte. Weiteres über diesen Krieg s. Chile. Pachecos Amtszeit sowie die seiner Nachfolger Arce (1888–92) und Baptista (1892–96) verliefen verhältnismäßig ruhig. Dagegen wurde im März 1899 der Präsident Alonso durch eine Erhebung der liberalen Partei unter General Pando gestürzt und mußte nach Chile fliehen, während 20. Okt. Pando als Präsident (bis 1903) eingesetzt wurde.

[Literatur.] Grandidier, Voyage dans l'Amérique du Sud, Pérou et Bolivie (Par. 1861); d'Orbigny, Voyage dans l'Amérique méridionale (Straßb. 1835–49, 7 Bde.); Weddel, Voyage dans le Nord de la Bolivie, etc. (Par. 1853); Wiener, Pérou et Bolivie (Par. 1880); Bresson, B.; sept années d'explorations (das. 1885); Morenos, Nociones de geografia de B. (Sucre 1886 u. 1889); Moscoso, Geografia politica descriptiva de B. (das. 1893); Child, The Spanish American Republics (New York 1891); Stelzner, Die Silber-Zinnerzlagerstätten Bolivias (Freiberg 1896); Matzenauer, B. in historischer, geographischer und kultureller Hinsicht (Wien 1897); Conway, Bolivian Andes (Lond. 1901). – Karten: Moreno, Mapa geografica y corografica de la Republica de B., 1: 4,000,000 (Sucre 1894); E. Idiaquez, Mapa elemental de B., 1: 3,400,000 (1896). – Zur Geschichte: Cortes, Ensayo sobre la historia de B. (Sucre 1801); H. Reck, Geschichte der Republik B. (in den »Ergänzungsblättern zur Kenntnis der Gegenwart«, Bd. 1, Hildburgh. 1866); »Archivo boliviano. Coleccion de documentos relativos de la historia de B.« (Par. 1874, Bd. 1); C. R. Markham, The war between Peru and Chili (Lond. 1882); Moreno, Guerra del Pacifico (Valparaiso 1885–92, 8 Bde.).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 3. Leipzig 1905, S. 177-181.
Lizenz:
Faksimiles:
177 | 178 | 179 | 180 | 181
Kategorien:

Buchempfehlung

Stifter, Adalbert

Nachkommenschaften

Nachkommenschaften

Stifters späte Erzählung ist stark autobiografisch geprägt. Anhand der Geschichte des jungen Malers Roderer, der in seiner fanatischen Arbeitswut sich vom Leben abwendet und erst durch die Liebe zu Susanna zu einem befriedigenden Dasein findet, parodiert Stifter seinen eigenen Umgang mit dem problematischen Verhältnis von Kunst und bürgerlicher Existenz. Ein heiterer, gelassener Text eines altersweisen Erzählers.

52 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.

468 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon