Deutsche Literatur und Wissenschaft

[341] Deutsche Literatur und Wissenschaft. Die verschiedenen Perioden derselben werden wie bei allen andern Völkern durch die Schicksale der Nation bestimmt. Vor Karl d. Gr. gab es keine deutsche Nation, sondern nur germanische Stämme, deßwegen kann auch von Literatur keine Rede sein, um so weniger, als die vorchristliche Bildung unserer Vorfahren die der Irokesen nicht um vieles überragte. Hätte Tacitus oder ein anderer Römer die Gesänge der Germanen niedergeschrieben, so besäßen wir Lieder zur Ehre der Götter, Schlachtlieder (Bardite), d.h. Lieder an [341] den Kriegsgott, Heldenlieder z.B. auf Armin etc. Von allen diesen ist kaum eine Spur auf uns gekommen (2 Zaubersprüche). Zur Zeit der Völkerwanderung änderte sich in mancher Beziehung der Charakter der german. Stämme, sowohl durch die kriegerischen Wanderungen, als durch die Einwirkung der barbarischen Völker, mit denen sie bald verbündet waren, bald Krieg führten, am meisten jedoch durch die Besetzung röm. Länder und die Bekanntschaft mit dem Christenthume. Aus dies. Zeit (4. Jahrh.) haben wir bedeutende Bruchstücke aus der Bibelübersetzung des Gothen Ulfilas in das Mösogothische, welcher german. Sprachzweig aber nach der Niederlassung der Westgothen in Spanien verdorrte. Nach der Gründung der german. Reiche auf ehemals röm. Boden wird die Einwirkung des Christenthums immer mächtiger, die Nothwendigkeit eines genauer bestimmten Rechtsverhältnisses macht sich geltend, daher fällt in diese Zeit die Sammlung der nationalen Gesetze und die weitere Ausbildung derselben durch die Rücksicht auf die christliche Religion. Die damalige Schriftsprache war jedoch die lateinische, und da Päpste, Bischöfe und Priester in dieser Sprache schrieben, der schriftliche Verkehr überhaupt sich ihrer bediente, so kann auch jetzt noch von einer d. L. eigentlich nicht die Rede sein. Sie beginnt erst mit Karl d. Gr., indem derselbe ein deutsches Reich stiftete und die Bildung nach allen Richtungen hin förderte. Zu bald jedoch brachen neue Stürme, ähnlich denen der Völkerwanderung, los, sie erschütterten Karls Schöpfungen und drohten dieselbe zu vernichten. Aus dieser fränkischen Zeit besitzen wir eine ziemliche Anzahl von Uebersetzungen biblischer Bruchstücke, Hymnen, Gebete, ferner Glossarien, Lieder: Muspilli, (auf das jüngste Gericht), das Ludwigslied, Hildebrand und Hadebrand; »Krist« Otfrieds, eines Weißenburger Mönchs, Evangelienharmonie, das älteste, im 9. Jahrh. verfaßte hochdeutsche Gedicht; der »Heliand« (Heiland), eine niederdeutsche Evangelienharmonie etc. In der Periode von Karl d. Gr. bis zu den Hohenstaufen (9.–12. Jahrh.) bildete sich die Prosa allmälig aus, wie namentlich die St. Gallischen Uebersetzungen beweisen, auch kommen bereits deutsche Urkunden vor; in der Poesie ist eine Ebbe eingetreten, die erst im 12. Jahrh. aufhört. Die theilweise sehr werthvollen Geschichtschreiber dieser Zeit haben alle lateinisch geschrieben. In der Zeit der Hohenstaufen (12.–14. Jahrh.) gelangte die deutsche Poesie zu ihrer Blüte; dies bewirkte die allgemeine geistige Erhebung durch die Kreuzzüge, ins besondere die ideale Gestaltung des Ritterwesens; wie dieses zuerst in Frankreich ausgebildet wurde und von da aus zu den Deutschen überging, so wurde auch die deutsche ritterliche Poesie von der franz. angeregt und entwickelte sich unter deren Einflusse. Häufig wird diese Poesie Minnesang genannt, weil der Frauendienst zu den Idealen des Ritters gehörte und der Sänger oft die edeln Frauen preist; das religiöse Element waltete jedoch im Ritterthume vor, so dann die ritterliche Ehre, d.h. Treue gegen den Herrn, dem man diente, daher ist die ritterliche Poesie nichts weniger als vorzugsweise der Ausdruck schmachtender oder beglückter Liebe. Die Heimath dieser Poesie war das südl. Deutschland und namentlich Schwaben; die Hohenstaufen, Landgraf Hermann v. Thüringen, Leopold VII. v. Oesterreich waren ihre erlauchten Beschützer. Sie ist episch und lyrisch, und weist in beiden Dichtungsarten Vortreffliches auf. In der ersten ist das Lied der »Nibelungen« und »Gudrun« ausgezeichnet; ihr Quell ist die alte Volksmäre, die in diesem Zeitraume ihre Verklärung durch unbekannte Dichter erhalten hat. Sonst bewegt sich das Epos auf vaterländischem Boden (Kaiserchronik, das Lied vom hl. Anno, von Roland etc.), oder bearbeitet antike Stoffe in mittelalterlicher Weise, z.B. die Aeneis (Eneit, von Heinrich v. Veldecke), Alexander (von dem Pfaffen Lamprecht etc.); namentlich aber ist es der Sagenkreis von König Artur und der Tafelrunde, von dem »heiligen Graal«, welche von einigen der bedeutendsten Epiker behandelt werden. Hieher gehören der »Parcival« und der unvollendete »Titurel« von Wolfram [342] v. Eschenbach, der »Lohengrin«, »Tristan und Isolde« von Gottfried von Straßburg, der »Iwein« von Hartmann von d. Aue u.s.w.; der Parcival ist durch tiefsinnige Mystik ausgezeichnet, Tristan und Isolde dagegen durch eine sinnliche Atmosphäre, die weder ein neuerer Franzose noch Wieland zu schaffen vermochte. An diese epischen Dichtungen schließen sich die Reimchroniken an, z.B. die Ottokars von Horneck, der »Frauendienst« von Ulrich von Lichtenstein u.a.; ferner die poetische Bearbeitung der biblischen und Heiligengeschichte, der Legende. Die didactische Poesie wurde ebenfalls fleißig angebaut, z.B. »Meister Freidanks Bescheidenheit«, der »Welsche Gast« von Thomassin von Zircläre aus Friaul, der »Edelstein« von dem Berner Geistlichen Boner, eine Fabelsammlung etc. In der lyrischen Gattung überragt Walter von der Vogelweide alle die zahlreichen Sänger bei weitem; er ist einer der wenigen, die den Leser nicht ermüden, denn es ist unleugbar, daß die meisten Sänger eine Breite und Weitschweifigkeit entwickeln, die nur der Freund der mittelalterlichen Poesie zu überwinden vermag, der natürliche Geschmack aber zurückstößt. Der Ritter Rüdiger Manesse, der um 1350 in Zürich lebte, hat uns eine Sammlung von 150 Minnesängern hinterlassen. (Dietmar v. Aist, Werner v. Tegernsee, Spervogel, Kürenberg, Herm. v. Morungen, Hartmann v. d. Aue, Reimar d. Alte, Nithart, Otto v. Botenlaube, Christian v. Hamle, Gottfr. v. Neifen, Rud. von Rothenburg, Heinrich v. Sax, Ulrich v. Liechtenstein, Konrad v. Würzburg, Otto v. Brandenburg, Herzog Heinrich v. Breslau, Reimann v. Brennenberg, König Heinrich, König Konrad etc.). – Die Prosa entwickelte sich in dieser Zeit immer mehr und verdrängte theilweise die latein. Sprache als Urkundensprache; Denkmäler dieser Zeit sind die Gesetzsammlungen, nämlich der Sachsenspiegel von Eyke von Repgow, der Schwabenspiegel, der Landfrieden Friedrichs II.; unzählige Urkunden, besonders aber die Predigten des Bruders Berthold; auch die Chroniken gebrauchen allmälig die Prosa. Die 4. Periode beginnt ungefähr mit der 2. Hälfte des 14. Jahrh. und reicht bis zu Ende des 16.; sie bildet zunächst die frühere poetische Richtung weiter fort (Heinrich v. Meißen, Regenbogen, Meister Muscatblüt, Peter Suchewirth etc.). Mit dem Ritterthum verschwindet allmälig die ritterliche Poesie; die Poesie zieht sich in die Städte zurück und wird zum eigentlichen Meistersange, handwerksmäßig, langweilig, alltäglich, selbst in der Form den ritterlichen Liedern nicht zu vergleichen; eine Ausnahme macht das Volkslied, z.B. die Kriegslieder Veit Webers aus dem Burgunder Kriege, die Lieder der Landsknechte etc.; sodann das religiöse Lied, das gegen das Ende dieses Zeitraums durch die Reform ation neuen Anstoß erhielt. Gleichzeitig beginnt die dramatische deutsche Literatur mit den Fastnachtspielen und den sogen. geistlichen Spielen oder Mysterien; beides waren zuerst Volksspiele, besonders auf dem Lande, bis die Städte auch ihre ausschließliche Heimath wurden und sie weiter ausbildeten (in Nürnberg Hans Rosenblüt, Hans Folz, Paul Rebhuhn, Hans Sachs, der fruchtbare Meistersänger, Jakob Ayrer etc.). Daneben spielt die Satyre eine Rolle, z.B. die niederdeutsche Bearbeitung der uralten Thiersage »Reineke Fuchs«, der »Froschmeuseler« von Georg Rollenhagen, das »Narrenschiff« v. Sebastian Brandt aus Straßburg, die »Schwänke u. Geschichten« von Hans Sachs u.a. Die erfreulichste Erscheinung ist der Aufschwung der deutschen Prosa; die Einwirkung der klassischen Studien ist in dieser Beziehung unverkennbar, denn obwohl die meisten Gelehrten lateinisch schrieben, so mußten sie doch manchmal deutsch sprechen. Ausgezeichnete Prosaiker sind: der Dominikaner Tauler aus Straßburg (1294 bis 1361), Gailer von Kaisersberg (1445–1510), die Geschichtschreiber Jakob Twinger von Königshofen (gest. 1420), Diebold Schilling aus Bern, Etterlin aus Luzern (um 1480), Joh. Thurmayr, genannt Aventinus (gest. 1534) aus Abensberg etc., vor allen Aegidius Tschudi aus Glarus (1505 bis 1572) durch seine Chronik der »Eidsgenossenschaft in den oberen deutnecke,[343] schen Landen«. Daß durch Luther die Prosa in ihrem Fortschritte mächtig gefördert wurde, ist unleugbar, ihn aber zum Schöpfer der neuhochdeutschen Sprache zu machen und dieser den obersächsischen Dialekt zu Grunde zu legen, vermag nur, wer die Umbildung der ältern Sprache in die neuhochdeutsche nicht beachtet. Die schnelle Feststellung der neuhochdeutschen Sprache hat ihre natürliche Ursache in der neu erfundenen Buchdruckerpresse, die den geistigen Verkehr so unendlich erleichterte, in den Universitäten, als eben so vielen Herden der Wissenschaft, die in der lebhaftesten Wechselwirkung arbeiteten, in dem durch alles dies hervorgerufenen nationalen Drang nach Bildung, der wohl noch bei keinem Volke mit solcher Macht gewirkt hat. – Bald jedoch trat eine wahre Katastrophe ein; der 30jähr. Krieg vernichtete einen großen Theil des Landvolks, brach den Wohlstand der Städte, zerstörte den nationalen Stolz und es fehlte nicht viel, so wäre selbst das nationale Bewußtsein verloren gegangen. Mit Mühe erhielt sich die klassisch-philologische Gelehrsamkeit gegen die überfluthende Pedanterei, doch wandten sich die bedeutendsten Männer in das Ausland, namentlich nach Holland; Mathematik und Physik fanden in den Jesuitenschulen einige Pflege; der bedeutendste philosoph. Geist, Leibnitz, ließ Deutschland gleichsam aus den Augen und schrieb lateinisch oder französisch. Wie in den schönen Künsten wurde auch in der Poesie dem ital.-franz. Geschmacke gehuldigt und derselbe bis zur Caricatur nachgemacht; die Sprache wurde mit latein., franz. und ital. Floskeln durchwoben und erhielt dadurch eine ihrer ganzen Natur widerstrebende Form; sie schien eigentlich nur mehr zu pedantischen Darstellungen geeignet zu sein, so langweilig, so eitel gespreizt schreitet sie daher. Ein eigentliches Deutsch erhielt sich jedoch bei dem gemeinen Volke, besonders auf dem Lande, daher arbeitet sich dasselbe zuweilen auch als Schriftsprache aus dem allgemeinen Wuste empor. Die lyrische Poesie weist einen Friedrich v. Spee (Jesuit, 1592–1635) auf, der jedoch eher der vorangehenden Periode angehört; den besten Dichter auf dem Gebiete des protest. Kirchenlieds, Paul Gerhardt aus Gräfenhainichen (1606–1676), Georg Rudolf Weckherlin a. Stuttgart (1584–1651), den ersten deutschen Sonettendichter; den Schlesier Martin Opitz aus Boberfeld (1597–1639), den Schöpfer der deutschen Metrik; den kath. religiösen Dichter Angelus Silesius (eigentlich Johannes Scheffler) aus Breslau (1624–1677). Erwähnung verdienen ferner Paul Flemming (1609–1640), der Dramatiker Andr. Gryphius (1616–1664); Friedrich v. Logau (1604–1655), der treffliche Epigrammatiker Simon Dach (1605–1659) etc. Das beschämende Gefühl der Abhängigkeit vom Auslande rief nach dem Muster der italien. und franz. Gesellschaften u. Akademien Vereine in Deutschland hervor, welche sich der deutschen Sprache annahmen, z.B. den Palmenorden zu Weimar, die Tannengesellschaft zu Straßburg, die deutsch gesinnte Genossenschaft zu Hamburg, den Blumenorden der Schäfer an der Pegnitz, den Schwanenorden an der Elbe, deren Leistungen aber sehr unbedeutend waren, da sie theilweise einer abgeschmackten idyllischen Sentimentalität huldigten. Die 2. schles. Dichterschule (Christian Hofmann von Hofmannswaldau, 1618–1679; Daniel Kaspar v. Lohenstein, 1635–1679 etc.) ist durch ihren Schwulst sprichwörtlich geworden; sie cultivirte besonders die aus Italien herübergekommene Novellistik. Die Geschichte fand ziemlich viele Bearbeiter, aber so sehr der Fleiß einzelner Männer zu achten ist, so wenig können Sprache und Styl auf die gleiche Anerkennung Anspruch machen (Mascov, Graf Bünau, Sigmund von Birken, Arnold etc.). Nicht zu vergessen sind die geistlichen Schriftsteller: Philipp Jakob Spener (1635–1701), Aug. Herm. Franke (1663–1727), Johann Arnd (1555–1621), sodann Ulrich Megerle, bekannt als Abraham a St. Clara (1642–1709). Der erste Philosoph, der in deutscher Sprache schrieb, war Jakob Böhme, der Schuster aus Görlitz (1575–1624). – Unterdessen bildete sich der deutsche Buchhandel aus, den [344] man gerne oder ungerne als einen der wichtigsten Hebel der d. L. anerkennen muß; der d. L. blühte seit der Zeit der Hohenstaufen nie mehr ein »augusteisch Zeitalter«, es schützte sie niemals »eines Mediceers Güte«; das Mäcenat übte in Deutschland mit geringen Ausnahmen der Buchhandel, also im Grunde das große Publikum. Buchhändler gründeten die Zeitschriften, und in die Neige der besprochenen traurigen Periode fällt der Anfang der kritischen Zeitschriften, welche von so großem Einflusse auf den Gang der d. L. sein sollten. Dies zeigt sich alsbald bei dem Beginne der 6. Periode; Joh. Christoph Gottsched (1700 bis 1766), Professor in Leipzig, wirkte durch verschiedene Schriften (z.B. Kritische Dichtkunst, Redekunst, Deutsche Sprachkunst) offenbar wohlthätig, indem er auf Reinheit der Sprache drang und gegen den Lohensteinischen Schwulst eiferte. Es fehlte ihm jedoch das tiefere Verständniß der Sprache, außerdem alle poetische Anlage und da er nichtsdestoweniger seine Autorität nach allen Seiten hin geltend machen wollte, verwickelte er sich mit den Schweizern J. J. Bodmer u. J. J. Breitinger, welche die englische Poesie hervorhoben und mehr auf den Gehalt als die Norm der Poesie Rücksicht nehmen wollten, in einen sehr erbitterten Streit, der immer mehr Kämpfer gewann und zuletzt mit der Vernichtung der Gottschedschen Schule endigte; die kritische Zeitschrift »Bremer Beiträge« diente als Hauptbatterie gegen die Gottschedianer. Dieser Kampf war das Signal zu einer allgemeinen Thätigkeit; es erwachte ein poetisches Leben voll Frische, das um so mehr Anerkennung verdient, als dasselbe zum eigentlichen Herolde des wieder erwachten deutschen Selbstbewußtseins wurde. Damals dichteten Hagedorn, Haller, Liscow, Gellert, Rabener, J. Elias und J. A. Schlegel, Kästner, Kronegk, Gärtner, Cramer, Zachariä, Ebert, Schmidt, Giseke, Kreuz, Withof, Kleist, Gleim, Utz, Götz, Ramler, die Karschin, Weiße, J. G. Jakobi, S. Geßner. Die entscheidende Wendung erfolgte endlich durch 3 Männer: Klopstock, Wieland und Lessing. Der erste, ein hochbegabter poetischer Geist, zeigte den Deutschen die Bildungsfähigkeit ihrer Sprache für die strenge Form der ernstesten Gedankenrichtung und ihre Fähigkeit, das antike Metrum in seiner Mannigfaltigkeit anzunehmen; Wieland bewies, daß der deutschen Sprache möglich sei, die franz. leichte Bildung und Eleganz aus der Zeit Ludwigs XIV. wieder zu geben, ebenso gab er durch seinen »Oberon«, durch seinen »Ritt ins alte romantische Land« die Anregung zu der neuen Romantik. Beide, Klopstock und Wieland, hatten viele Nachahmer; der eigentliche Befreier der d. L. von allen pedantischen Beschränkungen und Formen, so wie von der Sucht das Fremde nachzuahmen, war Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781). Er läuterte den Geschmack und bildete das Urtheil der Deutschen durch seine unübertreffliche Kritik, und lehrte sie dadurch, so wie durch seine dramatischen Arbeiten, die eigene geistige Kraft und die ihrer Sprache in ihrem ganzen Umfange kennen. Lessings Kritik wurde durch die kantische Philosophie unterstützt, welche zu gleicher Zeit die verschiedenen Systeme des In- und Auslandes niederwarf, während I. Gottfr. Herder bereits anfing auf den tiefen Gehalt der Volkspoesie hinzuweisen. Einen weiteren Fortschritt bezeichnet der Göttinger Dichterbund, von Heinrich Christ. Boje 1770 durch die Herausgabe des deutschen Musenalmanachs gestiftet; zu ihm gehörten: Boje, Hölty, Miller, Voß, die beiden Grafen Christian und Leopold v. Stolberg, Leisewitz, Gökingk, Gottfr. August Bürger, der Schöpfer der deutschen Ballade. Sie eröffneten die sog. Sturm- und Drangperiode, die ihren Gipfel und Abschluß in Göthe und Schiller erreichte; denn diese beiden großen Geister gelangten zu jener erhabenen Ruhe, welche den Werken der schöpferischen Kraft das Gepräge harmonischer Vollendung aufdrückt. An sie reihen sich die Humanitätsapostel J. Gottf. Herder und J. Paul Richter (Jean Paul) an, welchem letztern jedoch manche Nachläßigkeit und mancher mißlungene humoristische Versuch verziehen werden muß. In jeder Gattung der Poesie sind Meisterwerke [345] geschaffen worden und die Sprache hat eine früher kaum geahnte Vollendung erreicht; dies zeigt sich auch besonders in den Uebersetzungen aus fremden Sprachen, alten und neuen (Gries, W. A. Schlegel, Voß, Tieck etc.), denen keine andere Nation etwas Gleiches an die Seite stellen kann. Die andern Wissenschaften nahmen an der geistigen Erhebung der Nation naturgemäß Antheil, jedoch nicht alle in gleichem Maße; die deutsche Philosophie (s. d.) entwickelte sich in einer Allseitigkeit, wie es nach der griech. Philosophie bei keiner Nation mehr der Fall gewesen, sie äußerte auch in ihrer jedesmal vorherrschenden Richtung einen unverkennbaren und nicht immer wohlthätigen Einfluß auf die andern Wissenschaften. Voran auf die protest. Theologie, welche von der kantischen kritischen Schule durchdrungen das rationalistische System erzeugte (Semler, Bretschneider, Paulus etc.), so wie sie später das Schellingsche und Hegelsche System aufnahm. Ebenso bedeutend war ihr Einfluß auf die Naturwissenschaften; die Naturphilosophie indessen, welche von der Schellingschen Schule ausging, mag wohl eine tiefsinnigere Naturanschauung befördert haben, andererseits aber hat sie der wissenschaftlichen Forschung Eintrag gethan und durch ihre Keckheit der philosophischen Behandlung der Naturwissenschaften viel geschadet. Wir haben auf dem Gebiete der Naturwissenschaften zwar Namen wie Haller, Sömmering, Blumenbach, Euler, Bernoulli, Olbers etc., müssen aber den Franzosen und Engländern für diesen Zeitraum den Vorrang unbestritten lassen, während wir ihnen heute wenigstens gleichstehen. Ein Ausläufer der deutschen Philosophie war die Pädagogik, denn Rousseau, der durch seinen Emil den Anstoß gab, ist seinem Charakter nach mehr Deutscher als Franzose und seine Weltanschauung stimmt ganz mit der Kantischen überein. Diese Pädagogik vergaß, daß die Entwicklung des einzelnen Menschen bedingt ist durch die angebornen Anlagen, die Familienverhältnisse, die Einwirkung der Kirche und der bürgerlichen Gesellschaft; sie nahm den Menschen als ein isolirtes Wesen an, aus dem der Pädagog, wenn er ungestört walten darf, einen idealen Menschen erzieht. Basedow bezeichnet das Extrem in dieser Richtung, aber auch Campe, Salzmann u. Pestalozzi konnten sich nicht über die rationalistische Ansicht vom Wesen der Erziehung erheben, daher die Leistungen der neuen Pädagogik trotz alles Aufhebens keine bedeutenden sind, was jeder anerkennt, der sie mit denen anderer Institute, Zeiten und Länder vergleicht. – Die Geschichtschreibung arbeitete sich langsam empor und überschritt erst mit dem trefflichen Justus Möser die Stufe, die sie vor dem 30jähr. Kriege in Aeg. Tschudi bereits erstiegen hatte; einen mächtigen Einfluß übte Johannes v. Müller durch seine eidsgenössische Geschichte, schadete jedoch hinwieder durch seinen Hang zur Phraseologie und die ritterliche Manier, wie er über schwierige Stellen hinwegsetzt, deßwegen ist das Verdienst des besonnenen Heeren ein ungetrübteres. Die Blüte der deutschen Geschichtschreibung fällt jedoch erst in die folgende Periode. Dasselbe ist der Fall mit der Länder- und Völkerkunde; Büsching schrieb die erste Geographie, die nicht bloß Namen und Zahlen, sondern ein deutliches und allseitiges Bild von einem Lande geben will, G. Forster dagegen und Alexander v. Humboldt erscheinen bereits als Meister in der Darstellung der großen Naturverhältnisse und des dadurch so vielfach bedingten Völkerlebens. Dagegen ist von den Staatswissenschaften kaum ein Anfang vorhanden, wenn man von den philosophischen Construktionen, welche nirgends den Erdboden berühren, wie billig absieht; von Nationalökonomie z.B. findet man mit Mühe einige Spuren. In der Philologie gewannen die Deutschen den Vorrang vor allen andern Nationen; die von deutschen Gelehrten entworfenen grammatischen Systeme sind so vollständig und genau ausgearbeitet, daß die deutschen Handbücher auch im Auslande allgemein im Gebrauche sind, nicht minder die von Deutschen besorgten Ausgaben der alten Klassiker; eben so hat die grammatische Schule die rhytmische Form der antiken Poesie in [346] ein System gebracht (Metrik). Mit dem gleichen Eifer und Erfolge wurde die Archäologie in allen ihren Zweigen angebaut; es genügt, die Namen Heyne, Hermann, Creuzer, Böth etc. zu nennen. – Hatte sich die d. L. in der letzten Zeit so ausgebildet, daß sich der Deutsche keinem Ausländer gegenüber mehr zu schämen brauchte, so halfen Druck und Schmach, welche die Franzosen im Unmaße auf Deutschland häuften, trefflich mitwirken, um das deutsche Nationalbewußtsein zum Durchbruche zu bringen. Die Befreiungskriege von 1813–1815 waren davon die Frucht; während derselben und unmittelbar nachher erklangen die patriotischen Lieder von Th. Körner, Max v. Schenkendorf, Ernst Mor. Arndt, Fr. August Stägemann, Friedr. Rückert, Ludw. Uhland u.a., das erste Beispiel, daß sich die deutsche Poesie den nationalen Zeitinteressen anschloß oder vielmehr eine Stimme derselben wurde; Gleim u.a. hatten wohl Friedrichs d. Gr. Thaten zu besingen gesucht, aber diese Lieder fanden den allgemeinen Anklang nicht, weil sie einen Bruderkrieg feierten, und das süddeutsche Volkslied, z.B. auf den Sieg Prinz Eugens über die Türken bei Belgrad, war zu beschränkt. Diese Richtung der Poesie auf die Zeitinteressen dauerte nach 1815 fort; ein Theil der Romantiker (z.B. Tieck, die beiden Schlegel, de la Motte Fouqué, Achim v. Arnim, Clemens Brentano, Heinrich Kleist etc.) wandte sich zwar zur Behandlung mittelalterlicher und sagenhafter Stoffe, errang aber keinen dauernden Einfluß auf die Stimmung der Nation, und andere Romantiker wurden um so lautere Herolde der Zeitfragen; im Allgemeinen war die deutsche Poesie von 1815–1830, der auf die klassische Zeit folgenden 6. Periode, eine oppositionelle, nicht gegen eine poetische Schule od. gottschedische Auctorität, sondern gegen den politischen Gang der Zeit. Am bedeutendsten tritt die Lyrik hervor, z.B. in der sog. schwäb. Schule: Uhland, Schwab, Mayer, Pfitzer, Kerner, Hebel, Mörike, Hauff u.s.w.; in der österreichischen: Castelli, Lenau, Zedlitz, Anast. Grün, Seidl, Vogl, Manfred, Ebert; auch die episch-lyrische Dichtkunst wetteiferte in der Ballade mit der klassischen Zeit; ziemlich einsam stehen Lad. v. Pyrker und Immermann mit ihren epischen Versuchen (Tunisias, Perlen der Vorzeit, Merlin) da. An dramatischen Arbeiten aller Gattungen wurde eine große Menge zu Tage gefördert, es ist aber sehr zu bezweifeln, ob in 25 Jahren auch nur noch ein einziges jener Trauerspiele von Raupach, Müllner, Grillparzer etc., selbst von Uhland und Immermann, Tieck, Kleist, Zach. Werner etc. noch im Gedächtnisse der Nation fortleben wird, noch weniger die Lustspiele vom aristophanischen Zuschnitt, wie z.B. der sonst treffliche Lyriker Platen geschaffen hat. Wo möglich noch üppiger ist das Feld des Romans und der Novelle angebaut worden; unseres Erachtens ist aber der Roman nach dem Lustspiele die schwächste Seite der deutschen Poesie. Abgesehen von den lüsternen und schlüpfrigen Romanen, Novellen etc., die auf den Reiz einer verdorbenen Phantasie berechnet sind, ist eine große Anzahl anderer von hausbackener Tendenz und Form, ob nun z.B. de Wette und Bretschneider den Protestantismus in dieser Manier empfehlen, oder Pädagogen wie z.B. Salzmann die Folgen des alten und neuen Systems in warnenden Exempeln vorführen; selbst der historische Roman verkümmert sich seine Ansprüche auf längere Dauer durch seine Eingriffe in das eigentlich historische Gebiet; der humoristische z.B. Peter Schlemihl von A. v. Chamisso wird in der Regel nicht verstanden; die gewöhnliche Ableierung der Liebes- und Heirathsgeschichten interessirt niemanden für die Länge, und so bleibt unserem Dafürhalten nach nur eine sehr kleine Zahl übrig, welche zu der Nachwelt übergehen werden, z.B. Immermanns Münchhausen, der eine treue Zeichnung von dem deutschen Leben in dem Uebergange zur Revolutionszeit gibt. Wenn wir in der Poesie einen Nachlaß der genialen Kraft anerkennen müssen, so entwickelte sich diese um so thätiger und erfolgreicher auf dem Gebiete der Wissenschaft. Die Philosophie culminirte in Hegel und Herbart, die protest. Theologie weist Männer auf wie Marhei- [347] Schleiermacher, Tholuck etc., die kathol. aber entwickelte eine Blüte, die noch fortdauert (Hug, Drey, Möhler, Hirscher, Döllinger etc.), und bewirkte namentlich, daß die Kirchengeschichte wieder als Geschichte behandelt, d.h. daß der Wahrheit wieder die Ehre gegeben wird. In allen theologischen Wissenschaften wurde Ausgezeichnetes geleistet, den großen katholischen Theologen dieser Zeit aber bleibt der Ruhm, die protest. Theologie auf dem positiven Boden überwunden zu haben, insofern dieselbe in der Mehrzahl ihrer Vertreter denselben aufgab und die Theologie in das Gebiet der Philosophie übertrug, oder mit andern Worten eine Fortentwicklung des Glaubens lehrt, und dadurch auf die unerschütterliche Grundlage einer Kirche verzichtet. Denselben Aufschwung nahm die Geschichtschreibung; Quellenstudium, Kritik und Darstellung haben gleichmäßig gewonnen und einzelne Meister dürfen getrost denen aller Zeiten und Nationen zur Seite gestellt werden; wäre die Enthüllung der geschichtlichen Wahrheit im Stande ein Volk zu regeneriren, d.h. die Erkenntniß der Wahrheit und die Liebe zum Guten wieder allgemein zu verbreiten, so müßte dieses bei dem Deutschen der Fall sein. (Heeren, Schlosser, Ranke, Raumer, K. A. und W. Menzel, Barthold, Hurter, Voigt, Droysen, Buchholz, Kopp, Dahlmann, Aschbach etc.) Eben so glänzend ist die Erd- und Völkerkunde vertreten; es genügt A. v. Humboldt, Karl Ritter, Berghaus, Zeune, Völter etc. zu nennen. In dem weiten Reich der Naturwissenschaften haben deutsche Männer neben denen anderer Nationen die Geltung des ersten Ranges erkämpft; ebenso in der Arzneikunde, Agricultur u.s.w. In der Mathematik und Astronomie glänzen Gauß, Bessel, Struve, Schumacher, Littrow etc. als Sterne erster Größe. In der Philologie, die sich zur Sprachwissenschaft erweitert hat, so wie in der Archäologie haben die Deutschen entschieden den Vorrang; Namen wie Bökh, J. und K. Grimm, Bopp, Lachmann, Hagen, Lassen, Lepsius, Movers, Otfr. Müller, Friedr. Wolf, Benecke, Hermann, Wilh. v. Humboldt etc. hat keine andere Nation in ähnlicher Anzahl aufzuweisen. – Dieses wahrhaft großartige wissenschaftliche Leben dauert auch seit 1830 ungeschwächt fort, was uns jedoch die Abnahme und theilweise Entartung der Poesie kaum weniger fühlbar macht. Dieser Umschlag aus der bittern Stimmung, welche die unerfüllten Hoffnungen von 1815–22 erzeugt hatte, zu einer förmlichen Feindschaft gegen Religion, Staat und zuletzt gegen das sociale Leben der Gegenwart gab sich in der deutschen Poesie alsbald nach der Juliusrevolution von 1830 kund. (Bessere Ausnahmen bestehen allerdings, theils in Dichtern, die aus der vorangegangenen Periode in diese herüberreichen, theils in jüngeren Dichtern, z.B. Geibel, Redwitz etc.) Diese Poesie ist besonders durch Norddeutsche vertreten; ihr Chorführer ist Heinrich Heine aus Hamburg, israelitischer Abkunft, hoch begabt, aber ohne sittliches Ideal, daher zu Grunde gegangen; Laube, Gutzkow, Kühne, Mundt etc. haben sich von dieser Richtung wieder abgewandt, für die jedoch von 1847 an zahlreicher Nachwuchs emporschoß, der 1848 und 1849 seine ritterlichen Sporen verdiente, indem er revolutioniren half, möglich zeitig ausriß und in der Fremde nun die Heimath verlästert oder sich bekehrt hat und bedienstet ist. Diese Poesie hat eine Schwester an der des modernen Weltschmerzes, deren Koryphäe der bemitleidenswerthe Nik. Lenau ist; sie ist nicht durch die sittliche Verkommenheit und das wilde Gebahren »des jungen Deutschlands« charakterisirt, sondern durch krankhafte Ueberreizung des Gemüthes, also durch Schwäche, durch Scheue vor der Thätigkeit, welche das Schicksal Jedem zuweist, seitdem Kampf und Arbeit das menschliche Loos ist. Beide Poesien, die revolutionäre wie die des Weltschmerzes, sind Bruchstücke der klassischen Periode; Göthe und Schiller mußten diese Stimmungen durchleben (Zeuge sind die Räuber, Berlichingen, Werther etc.), aber sie überwanden dieselbe, während das heutige Geschlecht in ihnen gefangen bleibt und für seine Unreife und Machtlosigkeit Bewunderung verlangt. Dieser [348] Poesie reicht eine Philosophie die Hand, die sog. junghegelische, die alles begreift, was auf der Welt ist und alles Ideale und Höhere verneint, daher allen Glauben befehdet; sie ist die deutsche Auflage der dʼAlembert, de la Mettrie etc., jener Franzosen, welche der ersten Revolution als Propheten vorangingen, Propheten der Herrschaft des Fleisches, während sonst frühere Propheten die Menschheit durch die Predigt der Herrschaft des Geistes über das Fleisch emporhoben und zu Großthaten stärkten, die der Segen späterer Geschlechter wurden. Der Bankerott der absoluten deutschen Philosophie, im Untergange des hegelischen Systems offen daliegend, hat theilweise auch die Behandlung der Naturwissenschaften berührt, indem einzelne naturhistorische und physiologische Arbeiten, z.B. von Karl Vogt, den Materialismus unverblümt predigen.

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Herders Conversations-Lexikon. Freiburg im Breisgau 1854, Band 2, S. 341-349.
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