Lungenschwindsucht

[852] Lungenschwindsucht (Phthisis pulmonum), mit Zerstörung von Lungengewebe einhergehende Lungenerkrankungen, im engen Sinne die Tuberkulose[852] der Lungen, besonders die schweren Fälle und vorgeschrittenern Stadien dieses Leidens. Die L. beruht, wie die Tuberkulose andrer Organe, auf der Anwesenheit des von Koch 1882 entdeckten Tuberkelbazillus. Die von diesem ausgeschiedenen giftigen Stoffe wirken als Reiz auf die Gewebszellen, die sich in unmittelbarer Nähe der Bazillen lebhaft vermehren und mit den gleichzeitig sich ansammelnden, aus dem Blut stammenden Lymphzellen ein mikroskopisch kleines, zellreiches Häuschen oder Knötchen (tuberculum) bilden. Dies vergrößert sich allmählich, wird dem bloßen Auge deutlich sichtbar, verschmilzt mit benachbarten Knötchen zu größern Herden, die unter der Giftwirkung der Bazillen in der Mitte absterben, wobei sich eine gleichförmige schmierige oder krümelige, manchmal trockne käsige Masse bildet (Verkäsung). Sehr häufig gelangen nun gerade in der Lunge andre Bakterien, namentlich Streptokokken, in dieses kranke oder abgestorbene Gewebe (Mischinfektion) und beschleunigen oder verstärken den Zerfall der kranken Teile. Da diese bei einigermaßen größerer Ausdehnung mit den Bronchien stets in Verbindung stehen, so wird das zerfallende Material ausgehustet, und zuletzt entstehen größere Hohlräume (Kavernen), deren Wände von zerfallenden, eiterabsondernden Tuberkelmassen gebildet werden. Die L. beginnt aus nicht hinreichend erklärten Gründen fast immer in den Lungenspitzen als Lungenspitzenkatarrh (s. Lungenkatarrh).

Wie der Tuberkelbazillus in den Körper, speziell in die Lungen gelangt, ist eine vielumstrittene Frage. Man nimmt an, daß es durch Einatmung geschieht, z. B. von Staub, in dem sich getrockneter, bazillenführender Auswurf von an L. leidenden Individuen befindet. Namentlich in schlecht gehaltenen Wohnungen lungenkranker Menschen ist dies oft der Fall. Auch der feinversprühte Auswurf hustender Kranker kann in die Lunge eingeatmet werden (Tröpfcheninfektion). Selten erfolgt die Aufnahme der Bazillen durch die Haut (bei Verletzungen); nach Behring ist vielleicht der häufigste Weg der Übertragung der durch die Schleimhäute des Magendarmkanals. Es können im Rachen von den Mandeln die Bazillen aufgenommen und den Lymphwegen zugeführt werden, besonders leicht aber soll die Infektion vom Darm aus erfolgen, da die Darmschleimhaut kleiner Kinder für Tuberkelbazillen sehr leicht durchdringbar sein soll, viel leichter als die der erwachsenen Menschen, und Behring nimmt daher an, daß die meisten Erkrankungen an L. auf Einwanderung von Tuberkelbazillen aus der Kuhmilch durch die Darmschleimhaut im kindlichen Lebensalter zurückzuführen sind. Kuhmilch enthält sehr häufig Tuberkelbazillen, da die Tuberkulose (Perlsucht) eine beim Rind sehr häufige Erkrankung ist. Behrings Ansicht steht gegenüber die Behauptung R. Kochs, daß die Tuberkulose des Rindes und die des Menschen zwei verschiedene, von der einen Gattung auf die andre nicht übertragbare Krankheiten sind, so daß der Genuß der Kuhmilch nicht geeignet ist, den Menschen, speziell das Kind zu infizieren. In die Lungen gelangen die Tuberkelbazillen schließlich auch durch Verschleppung von den Eintrittspforten mittels des Blut- oder des Lymphstromes.

Ob bei der Entwickelung der L. eine angeborne Disposition begünstigend einwirkt, ist viel besprochen worden. Es hat sich eine solche bis jetzt nicht nachweisen lassen. Jedoch sind geschwächte Organismen (bei zehrenden Krankheiten, Zuckerharnruhr, chronischem Alkoholismus) sicher widerstandsunfähiger gegen die Infektion (erworbene Disposition), und Kinder tuberkulöser Eltern sind häufig von Geburt an schwächlich, so daß sie unter Umständen durch ihre angeborne Schwächlichkeit wie andern Krankheiten, so auch der L. leichter verfallen. Daß so häufig Kinder lungenkranker Eltern an L. erkranken, kommt daher, daß sie durch den Verkehr mit ihren kranken Eltern der Gefahr der Übertragung besonders ausgesetzt sind (Exposition im Gegensatz zu Disposition). Angeborne, d.h. auf die Welt mitgebrachte Tuberkulose ist äußerst selten, praktisch bedeutungslos.

Die ersten Krankheitserscheinungen sind vielgestaltig und unbestimmt. Mattigkeit, Appetitlosigkeit sind häufig, Schmerzen fehlen meistens. Bald zeigen sich Husten, anfangs spärlicher, schleimiger oder schon eiterig aussehender Auswurf. In einer kleinern Zahl der Fälle zeigt sich die L. zuerst durch eine Lungenblutung an; kleinere oder größere, durch die Erkrankung angegriffene Blutgefäße bersten, so daß kleine, manchmal aber auch sehr reichliche Blutmengen ausgehustet werden. Die Untersuchung ergibt in diesem Stadium manchmal fast keinen Befund, in andern Fällen zeigt sich eine geringe Abschwächung des Klopfschalles über einer oder beiden Lungenspitzen, beim Behorchen spärliches Rasseln als Ausdruck des Katarrhs und Verschärfung des normalen weichen Atmungsgeräusches. Bei sorgfältiger Temperaturmessung findet man oft geringes abendliches Fieber. Der mikroskopische Nachweis von Tuberkelbazillen im Auswurf stellt das Vorhandensein einer Lungentuberkulose sicher; gelingt der Nachweis nicht, so ist sie damit jedoch keineswegs ausgeschlossen. Im weitern Verlauf nehmen Fieber, Auswurf und die hörbaren Veränderungen des Lungenbefundes zu, nächtliche Schweiße, die auch als Anfangserscheinung häufig sind, treten hinzu, es stellt sich Abmagerung ein. Die Erkrankung ergreift auch die untern Lungenlappen, führt in den obern zu ausgedehnten Verdichtungen, die dann dumpfen Klopfschall geben und scharf hauchendes bronchiales Atemgeräusch hören lassen. Es entstehen hier die oben beschriebenen Kavernen, der Auswurf wird in festen, fast luftleeren, eiterigen Ballen entleert. In diesen spätern Stadien magern die äußerst hinfälligen Kranken unaufhaltsam ab, das Fieber erreicht allnächtlich hohe Grade und sinkt gegen Morgen unter reichlichem erschöpfenden Schweißausbruch ab (hektisches Fieber). Komplikationen sind sehr häufig. Das Rippenfell erkrankt häufig mit (oft ein Frühsymptom); meistens handelt es sich um trockne, manchmal um exsudative (mit Ausschwitzung einer Flüssigkeit verbundene) Rippenfellentzündungen. Bricht bei vorgeschrittener L. eine Kaverne in die Brusthöhle durch, so entsteht durch Eindringen von Luft in diese ein Pneumothorax, wobei die Lunge mehr oder weniger zusammensinken und atmungsunfähig werden kann; oft sammelt sich dann Eiter neben der Luft in der Brusthöhle an (Pyopneumothorax). Sehr häufig begleitet Kehlkopftuberkulose die L., auch Darmtuberkulose. Tritt der Tod nicht durch gänzliche Erschöpfung ein, so macht oft eine Lungenblutung, eine Miliartuberkulose, tuberkulöse Gehirnhautentzündung oder eine andre Komplikation dem Leben ein Ende. Die Dauer des Verlaufs ist sehr verschieden; neben Fällen, die sich über viele Jahre mit zeitweiligem Stillstand oder geringen Besserungen hinziehen, gibt es äußerst rasche, in wenigen Monaten verlaufende (galoppierende L.).

Zur Erkennung der L. dient die physikalische Untersuchung der Lungen. Ergibt diese, wie vielfach[853] im frühesten Stadium der Krankheit, kein klares Resultat, so kann durch mehrmalige Feststellung geringen Fiebers und vor allem durch mikroskopischen Nachweis von Tuberkelbazillen im Auswurf die Diagnose L. gestellt werden. Von großem Wert für die so wichtige Frühdiagnose kann das Tuberkulin (s. d.) sein.

Die Verbreitung der L. in der Menschheit ist eine ungeheure. Fast alle Leichen Erwachsener enthalten Zeichen von abgeheilter oder latenter, d.h. abgekapselter und daher nicht krankmachender, Tuberkulose, soweit sie nicht von klinisch bemerkbarer Tuberkulose ergriffen sind. 1903 starben in Preußen 707,950 Personen, davon an L. 70,049. Auf 10,000 Lebende entfallen 19,64 Todesfälle an L. Die Sterblichkeit ist nach dem Lebensalter sehr verschieden. Von je 1000 Gestorbenen erlagen der L. im Alter unter 1 Jahr 10,9, im Alter von 1–5 Jahren 84,3, im Alter von 15–60 Jahren 316 und über 60 Jahren 52,3. Großen Einfluß auf die Tuberkulosesterblichkeit hat auch der Wohnort. Von je 1000 Gestorbenen erlagen der L. im Alter von

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Vgl. Krankheit, S. 592 (nebst Karte). Nach einer Statistik des Reichsversicherungsamtes über die Invaliditätsursachen in der Zeit von 1891–95 leiden von allen männlichen Arbeitern aus dem Bergbau und Hüttenwesen, Industrie und Bauwesen, die bis zum Alter von 30 Jahren invalid wurden, mehr als die Hälfte an L.; ebenso ungünstig ist das Verhältnis bei weiblichen Rentenempfängern der gleichen Berufsklassen im Alter von 20–24 Jahren. Arbeiter der Land- und Forstwirtschaft werden zwar seltener durch L. invalid, doch entfallen auch hier immer noch 354 Tuberkulöse auf 1000 Rentenempfänger im Alter von 20–24 Jahren. In der Gesamtheit der übrigen Berufe entfallen auf 1000 Invaliden im Alter von 20 bis 30 Jahren 450 tuberkulöse Männer und etwa 250 tuberkulöse Frauen. Von einzelnen Berufszweigen liefern besonders diejenigen mit Staubentwickelung in geschlossenen Räumen die meisten Lungenkranken (vgl. Staubeinatmungskrankheiten). Von 1000 Personen starben in Berufen ohne Staubentwickelung 2,39, in solchen mit Staubentwickelung 5,42.

Nach der preußischen Statistik ist in diesem Staate die L. seit 1886 in der Abnahme begriffen. 1885/86 starben in Preußen von je 10,000 Lebenden 31 an Tuberkulose, 1902/03 nur 19. Dabei zeigt die Sterblichkeit an andern Lungenkrankheiten in den genannten Jahren eine Zunahme von 4 auf 10,000, und wenn man die Zahlen über die Abnahme der Tuberkulose wenigstens teilweise aus einer andern Registrierung der Todesfälle in neuester Zeit erklären möchte, so bleibt doch eine Abnahme der Tuberkulosesterblichkeit von 8 auf 10,000 unanfechtbar.

Die Behandlung der L. verfügt nicht über spezifische Heilmittel, dagegen gibt es Medikamente, die zweifellos einen Heilungsprozeß günstig beeinflussen können, namentlich indem sie die Nahrungsaufnahme anregen und den Ernährungszustand verbessern. Hierher gehören das Kreosot und verwandte Mittel, Arsenpräparate, Eisen u.a. Die Versuche, durch Einspritzung zimtsaurer Salze (Hetol) in das Blut die natürlichen Heilungsprozesse zu befördern, gestatten noch kein abschließendes Urteil über den Wert dieses Heilverfahrens. In vorgeschrittenen Fällen muß sich die Behandlung auf Bekämpfung des Fiebers, Linderung von Husten, Schmerzen etc. beschränken. Viel Aufsehen hat seit 1890 Kochs Versuch erregt, die L. durch einen aus Tuberkelbazillen mittels Glyzerin ausgezogenen Stoff, das Tuberkulin, zu heilen. Einspritzung dieses Stoffes hat bei an L. erkrankten Individuen eine vorübergehende Fiebersteigerung und vorübergehende, unter Umständen der Heilung dienliche Entzündungserscheinungen in der Umgebung der Krankheitsherde zur Folge. Weder das genannte erste noch neuere Tuberkulinpräparate (T. R.) haben zwar die gehegten Erwartungen erfüllt, doch sind immerhin von mehreren Ärzten mit vorsichtigen und sorgsamen Tuberkulinkuren in mehreren Heilstätten, namentlich auch in hoch gelegenen Kurorten gute Resultate erzielt worden. Jedenfalls hat Kochs Tuberkulin einen ganz neuen Weg zur Heilung der Tuberkulose gewiesen, und man hat sich auch vielfach bemüht, ein spezifisches Serum gegen Tuberkulose zu finden. Diese Bemühungen, die L. durch Schutzimpfung zu bekämpfen, sind noch in den Anfängen begriffen. Möller hat eine spezifische Schutzimpfung versucht, indem er Menschen abgeschwächtes Tuberkelgift einverleibte, das durch Verimpfung von Tuberkelbazillen auf Blindschleichen gewonnen wurde. Behring hofft die L. im großen zu bekämpfen durch Schutzimpfung des tuberkulösen Rindviehes, wodurch er die Hauptquelle der L. anzugreifen glaubt. Auch können in der Milch immunisierter Kühe vielleicht Schutzstoffe für erkrankte Menschen gewonnen werden. Das gegenwärtig beste und allgemein herrschende Heilverfahren ist das von Brehmer (Görbersdorf) eingeführte hygienisch-diätetische. Man beabsichtigt dabei, die natürlichen Heilbestrebungen des Organismus zu unterstützen, indem man ihn unter die ihm zuträglichsten Bedingungen bringt und alle Schädlichkeiten ihm fernzuhalten versucht. Es handelt sich also darum, den Körper so gut wie irgend möglich zu nähren, den Atmungsorganen reine Wald- oder Gebirgsluft in reichem Maße zuzuführen, ferner ihn durch vorsichtige Abhärtung zu kräftigen und alle Anstrengungen fernzuhalten. Dies wird am vollkommensten erreicht in geschlossenen Lungenheilstätten (s. Heilstätten und Krankenhäuser), die man vorteilhaft in waldreicher Gegend im Flachland oder im Hochgebirge einrichtet. Die Anstalten müssen unter Leitung besonders geschulter Ärzte stehen; meistens befinden sich an ihrer vor Wind geschützten Südseite nach vorn offene Liegehallen, in denen die Kranken, je nach Witterung und Jahreszeit, warm gekleidet auf Liegefesseln ruhend, den größten Teil des Tages freie Luft genießen. Zu dieser Kur ist der Winter nicht weniger geeignet als der Sommer. Die geringste Dauer einer Kur beträgt ca. ein Vierteljahr. Deutschland besitzt nach einer Zusammenstellung des Deutschen Zentralkomitees 32 Privatheilanstalten für Lungenkranke. Die Privatanstalten verfügen über etwa 2000 Betten, die Heilstätten Ende 1904 über 6500 Betten (1896: 750 und 1900: 3700). Die Kosten betragen in den Heilstätten etwa 5000 Mk. für ein Bett. In den Heilstätten werden vorzugsweise nur Kranke mit noch nicht zu weit vorgeschrittener L. aufgenommen. Für Sieche sind besondere Pflegeheime und Asyle herzurichten, damit sie nicht auf die noch heilbaren Kranken einen ungünstigen psychischen Einfluß ausüben. Eine Übersicht der Volksheilstätten für Erwachsene und der Kinderheilstätten im Frühjahr 1905 gibt folgende, dem letzten Geschäftsbericht des deutschen Zentralkomitees entnommene Zusammenstellung:[854]

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[855] Zur Unterstützung der Heilstätten dienen Walderholungsstätten (in Deutschland 30), in denen sich die Kranken tagsüber aufhalten. Sie liegen in der Nähe der Städte und werden zum Teil auch im Winter betrieben. Ihnen entsprechen die Waldschulen, in denen tuberkulöse Kinder unterrichtet werden. In den letzten acht Jahren sind 83,213 Personen in Heilstätten behandelt worden. Der erzielte Erfolg läßt nach der Entlassung erheblich nach, aber noch fünf Jahre nach dem Verlassen der Heilstätte sind ungefähr 30 Proz. der Behandelten noch so weit gebessert, daß bei ihnen die Invalidität in absehbarer Zeit nicht zu erwarten ist. Sie sind also sozial geheilt. In den letzten acht Jahren sind etwa 25,000 schwindsüchtige Kassenkranke durch Heilstättenbehandlung sozial geheilt worden.

Während von manchen Seiten gewissen Klimaten, namentlich dem Hochgebirgsklima, dem Seeklima und südlichen Klimaten, besondere, untereinander wesentlich verschiedene Einwirkungen auf die L. zugeschrieben werden, werden solche von andrer Seite bestritten. Allerdings hat ein im allgemeinen günstiges Klima (d.h. günstige Wärme-, Feuchtigkeits-, Niederschlags- und Windverhältnisse, Reinheit der Luft) Vorzüge vor ungeeigneten Gegenden; doch kann eine allgemein gültige Überlegenheit eines bestimmten Klimas nicht behauptet werden. Kaltes Klima bedingt stärkern Appetit, stärkern Stoffwechsel und wirkt, namentlich bei verdünnter trockner Luft, anregend auf kräftige Kranke, auf schwächliche fiebernde Personen dagegen oft nachteilig. Hohe Wärmegrade werden oft schlecht vertragen, jedoch sind im Winter südliche Orte durch größere Wärme und reichere Gelegenheit zum Aufenthalt im Freien vorteilhaft. Namentlich der letztere Umstand bewirkt eine gewisse, aber vielfach überschätzte Überlegenheit südlicher Kurorte bei der Behandlung der L. Feuchtigkeit der Luft erleichtert den Auswurf, Trockenheit soll ihn einschränken, vermehrt aber oft den Hustenreiz. Reichliche Niederschläge und geringere Besonnung beeinträchtigen den Aufenthalt im Freien; jedoch bewirkt Regen Luftreinigung.

Hochgebirgskurorte (über 1400 m) wirken anregend auf Appetit und Stoffwechsel und sind kräftigen Patienten förderlich. Ob die im Hochgebirge eintretende Vermehrung der Blutkörperchen von wesentlichem Vorteil ist, muß noch unentschieden bleiben. Von Hochgebirgskurorten seien hier genannt: Davos und Arosa in Graubünden, St. Moritz, Pontresina[856] im Oberengadin, verschiedene Orte im Berner Oberland und eine Anzahl von Kurorten in den Anden (Südamerika), Rocky Mountains (Nordamerika) und im Himalaja. In den letztgenannten Gebirgen werden Höhen von 2000–3000 m erreicht. Die Statistiken der Heilstätten ergeben für die Kurorte des Mittelgebirges (700–1400 m), des Niedergebirges (unter 700) und des Flachlandes bei sonst günstigen Bedingungen nicht wesentlich geringere Heilungsaussichten wie bei den Hochgebirgskurorten. Den im Vergleich zum Klima wichtigern Forderungen der Luftreinheit, der zweckmäßigen Ernährung und Freiluftbehandlung kann auch hier Genüge geschehen, wenn auch Kälte, Nebel und Winde, namentlich in nördlichen Breiten, die Freiluftkur erschweren können. Im einzelnen sind die Klimate der genannten Höhenlagen sehr verschieden. Durch milde Temperatur und abgeschlossene windstille Lage zeichnen sich Gebirgstäler (Bozen-Gries, Meran, Reichenhall) aus. Bei den zahlreichen Heilstätten der norddeutschen Tiefebene und der deutschen Mittelgebirge ist Windstille durch geeignete Lage im Schutz von Höhenzügen oder ausgedehnten Wäldern ermöglicht, letztere gewährleisten auch Reinheit der Luft. Größere Binnenseen verleihen den an solchen gelegenen Kurorten (Gardone-Riviera, Arco, Lugano) gleichmäßige Temperatur und größere Luftfeuchtigkeit. Das Wüstenklima (Heluan bei Kairo) kennzeichnet sich durch trockne, sehr warme und reine Luft; für die übrigen Heilungsbedingungen ist vielfach noch unzulänglich vorgesorgt. Außer den genannten Kurorten seien noch angeführt: im Mittelgebirge: St. Blasien (Schwarzwald), Reiboldsgrün (sächs. Vogtland), Partenkirchen (Oberbayern), Les Avants-sur-Montreux (Schweiz); im Niedergebirge: Görbersdorf in Schlesien, Falkenstein im Taunus, St. Andreasberg im Harz. Das Küsten- und Inselklima zeichnet sich aus durch geringe Schwankungen der Temperatur, Reinheit der Luft, Beimengung von Kochsalz, gleichmäßige Luftströmungen. Für nicht ganz leicht Erkrankte kommen vorwiegend die südlichen Küstenkurorte in Betracht, oder solche, die wie die Kurorte der Insel Wight und der englischen Südküste höhere Temperaturen aufweisen. Die Kureinrichtungen der meisten Küstenkurorte am Mittelländischen Meer stehen denen der Gebirgskurorte zurzeit noch nach; doch werden hierin Fortschritte angebahnt. Feuchtes Seeklima haben unter anderm: Madeira, Tenerife, die Kanarischen Inseln; mittelfeuchtes die Riviera di Levante (Spezia, Rapallo, Nervi), Ajaccio auf Korsika, Abbazia, Korfu; relativ trocknes die Riviera di Ponente (Cannes, Nizza, Mentone, San Remo), Capri, Malaga, Kapstadt.

Reines Seeklima findet sich nur auf kleinen, von großen Meeresflächen umgebenen Inseln (wie Madeira). Man hat seine Vorzüge, bestehend in äußerst gleichmäßiger Temperatur und Luftfeuchtigkeit, verbunden mit größter Reinheit der Luft, durch längere Seereisen auszunutzen versucht. Jedoch ist nur bei lange dauernden, mit allem Komfort ausgestatteten und darum sehr kostspieligen Reisen ein guter Heilerfolg zu erwarten, wenigstens bei nicht ganz leichten Fällen. Die Verwendung von eignen Schiffsanatorien, d.h. vortrefflich ausgestatteten, nur zur Aufnahme von Kranken dienenden Schiffen, die sich in günstigen Meeresgegenden bewegen, verspricht eine vorteilhafte, aber durch große Kosten erschwerte Behandlungsart der L. zu werden. Vgl. Lehmann-Felskowski, Die hohe See als Luftkurort (Berl. 1901).

Höchst wichtig ist die möglichst frühzeitige Erkennung von Erkrankungsfällen, da das Frühstadium günstigere Heilungsaussichten bietet und durch frühzeitig getroffene hygienische Maßregeln der Weiterverbreitung des Leidens durch Ansteckung am erfolgreichsten entgegengetreten wird. Die Frühdiagnose wird erleichtert durch die in einer Reihe deutscher Städte bereits getroffene Einrichtung besonderer Polikliniken für Lungenkranke (in Frankreich und Belgien unter dem Namen dispensaires antituberculeux), die unentgeltlich mit allen Hilfsmitteln der Wissenschaft die Anfänge der L. zu erkennen ermöglichen.

In der neuesten Zeit ist der Bekämpfung der L. das größte Interesse entgegengebracht worden. In den Bestrebungen, die schon jetzt sehr günstige Erfolge erzielt haben, ging man von der Tatsache aus, daß die L. eine ansteckende Krankheit, und daß sie heilbar ist. Deutschland besitzt 32 Privatheilanstalten, von denen die von Brehmer in Görbersdorf 1854 gegründete und Falkenstein im Taunus (gegründet 1876) durch ihre Erfolge früh Aufsehen erregten. Die erste Volksheilstätte für Lungenkranke wurde auf Anregung Dettweilers 1895 in Ruppertshain bei Falkenstein errichtet, dann entstand hauptsächlich durch Leydens u.a. Tätigkeit eine Bewegung für die Errichtung von Volksheilstätten, die bald alle Kreise und Berufsstände ergriff und sich auch auf die Behörden übertrug. Es wurden zahlreiche Tuberkulosevereine gegründet, und viele andre Vereine stellten ihre Tätigkeit in mehr oder weniger bewußter Weise in den Dienst der Tuberkulosebekämpfung. 1895 bildete sich in Berlin das Deutsche Zentralkomitee zur Errichtung von Heilstätten für Lungenkranke, welches den Zweck verfolgt, im Gebiete des Reiches die für die Bekämpfung der Tuberkulose als Volkskrankheit geeigneten Maßnahmen anzuregen und zu fördern. 1899 trat der erste deutsche Tuberkulosekongreß in Berlin zusammen, und 1902 wurde ein Internationales Zentralbureau zur Bekämpfung der Tuberkulose mit dem Sitz in Berlin ins Leben gerufen, dem bis jetzt 21 Staaten angehören. Im Herbst 1905 wurde in Paris ein Internationaler Tuberkulosekongreß abgehalten.

Die deutsche Heilstättenbewegung zu ihrer jetzigen Höhe zu entwickeln, wäre nicht möglich gewesen ohne das Eintreten der staatlichen Versicherungsanstalten, besonders ohne die von Gebhardt inaugurierte vorbeugende Behandlung durch die Invaliditätsversicherung. Diese sah sich vor die Aufgabe gestellt, den unheilvollen Verwüstungen der Tuberkulose durch geeignete Maßnahmen der Krankenfürsorge ein Ziel zu setzen, und so ist es gekommen, daß die Invaliditätsversicherung seit 1895 die Hauptstütze der Tuberkulosebewegung in Deutschland geworden ist. Es wurden wegen L. in ständige Heilbehandlung genommen:

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In den einzelnen Jahren entfallen auf einen behandelten tuberkulösen Mann durchschnittlich 72–75 und auf eine Frau 79–87 Verpflegtage. Die Gesamtausgabe für Tuberkulöse hat sich in der gleichen Zeit auf mehr als 35 Mill. Mk. belaufen, und zwar berechnet sich der Kostenaufwand im einzelnen wie folgt (in Mark):

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[857] Die Invaliditätsversicherung hat bis Ende 1904 hygienische Wohlfahrtsbestrebungen von Gemeinden u. Vereinen unter Sicherung von Vorteilen für die Versicherten mit 178 Mill. Mk. unterstützt und 33 Mill. Mk. für Errichtung und Betrieb eigner Heilanstalten verwendet.

Die Armee sucht Lungenkranke möglichst fernzuhalten; sie trifft, abgesehen von allgemeinen hygienischen Einrichtungen, Fürsorge zur Verhütung von Lungenerkrankungen namentlich auch durch Benutzung von 13 Genesungsheimen nach dem Ablauf andrer Krankheiten. Unter geeigneten Umständen werden Lungenkranke außergewöhnlichen Heilverfahren unterworfen. Die Armee besitzt eigne Kuranstalten für Offiziere u. Mannschaften in Wiesbaden, Landeck, Teplitz, Driburg, Nauheim und Norderney, sie schickt auch Heeresangehörige in Lungenheilstätten. Im Anschluß an geeignete Garnisonlazarette sind in München und Detmold besondere Stationen für Tuberkulöse eingerichtet, solche Stationen sind in Münden und Saarbrücken im Bau und für andre Orte geplant. Für Offiziere und Sanitätsoffiziere mit beginnender Lungentuberkulose besteht ein Genesungsheim in Arco. Längere Sonderkuren sind zulässig, wenn die Kranken nach Grad und Art ihres Leidens wie nach ihrem Gesamtzustand begründete Hoffnung auf erheblichen und anhaltenden Kurerfolg gewähren. Grundsätzlich sollen an Tuberkulose erkrankte Heeresangehörige aus dem aktiven Dienst ausscheiden.

Am wichtigsten bei der Bekämpfung der L. ist die Verhütung. Vor allem ist für durchgreifende Verbesserung der Wohnungsverhältnisse und für Hebung der allgemeinen Lebenshaltung (gute Ernährung) der ärmern Volksschichten zu sorgen. Unumgänglich nötig ist gemeinverständliche Belehrung weiter Volkskreise über das Wesen und die Entstehung der L., die Erziehung der Massen für den Abwehrgedanken. Es ist von großer Bedeutung, daß die Heilstätten als hygienische Erziehungsanstalten wirken. – Der Auswurf der Kranken erfordert die größte Beachtung. Die Kranken müssen beim Husten die Hand vor den Mund halten, den Auswurf in eine Speiflasche entleeren, sie dürfen die Angehörigen nicht auf den Mund küssen, nicht mit Gesunden in demselben Bett schlafen, eignes Eß- und Trinkgeschirr und eigne, stets gut zu desinfizierende Wäsche benutzen. Am besten werden die Kranken in einem eignen Zimmer möglichst von der Familie isoliert. In dem Zimmer sollen alle Staubfänger vermieden werden. Der gesammelte Auswurf ist mit Sublimat, Karbolsäure oder Lysol zu desinfizieren, besser zu verbrennen (Speigefäße aus Karton, die am Abend ins Feuer geworfen werden). Niemals darf der Auswurf auf den Fußboden gespien werden, weil er eintrocknet, durch die Füße zerrieben und als Staub eingeatmet werden würde. Auch an öffentlichen Orten, in Schulen, Gefängnissen, Eisenbahnwagen ist vor dem Ausspeien auf den Boden zu warnen. Nach Todesfällen sind die Wohnung, Kleidung, Betten gründlich zu desinfizieren. Bei der großen Bedeutung, die der Übertragung von Tuberkulose des Rindes auf den Menschen vermittelst der Milch zuzukommen scheint, muß eine genaue behördliche Kontrolle der Rindviehbestände und der Milch angestrebt werden. Die Zerstörung der Tuberkelbazillen in der Milch durch Kochen ist namentlich für das so empfängliche Kindesalter unumgänglich erforderlich. Zur Feststellung der Diagnose bei Unbemittelten sowie zu ihrer spezifischen Behandlung sind seit 1899 in mehreren Städten besondere Polikliniken (zurzeit etwa 18) eingerichtet worden, auch sind Auskunfts- und Fürsorgestellen geschaffen worden, die besonders den Kranken in der Familie sich widmen, sie durch einen Fürsorgearzt unentgeltlich untersuchen lassen, eine Fürsorgeschwester in die Familie des Kranken schicken, auch ein Zimmer zur Wohnung hinzu mieten, um den Kranken möglichst zu isolieren. Die Tätigkeit der Tuberkulosevereine ist naturgemäß ebenfalls in erster Linie auf die Verhütung der L. gerichtet. Sie gliedert sich dementsprechend in Ermittelung der Kranken (Anzeigepflicht, freiwillige Meldung, Aufsuchen der Kranken), Vernichtung der von ihnen verstreuten Krankheitskeime und Absonderung der Kranken von der gesunden Umgebung, solange sie noch Krankheitskeime nach außen befördern.

Geschichtliches. Wie wir durch Hippokrates wissen, zeigte die L. im Altertum wesentlich denselben Charakter wie heute. Aristoteles spricht von Ansteckung durch den Atem der Kranken, und auch Galen betrachtete die L. als ansteckende Krankheit. Man behandelte sie mit guter Ernährung, reiner Luft und Arzneimitteln, Celsus empfahl Seeluft, Plinius Nadelwald, Galen Gebirgsklima mit Milchkur. Im Mittelalter wurden keinerlei Fortschritte gemacht. Im 17. und 18. Jahrh. wurden in Spanien und Italien die Ärzte durch Gesetze zur Anzeige von Schwindsuchtsfällen bei den Sanitätsbehörden verpflichtet, die weitere Benutzung der Sachen an L. Verstorbener wurde verboten, und die Beseitigung des Auswurfs und Desinfektion der Wohnungen empfohlen. 1761 veröffentlichte Auenbrugger seine Arbeit über die Perkussion, und 1819 fügte Laennec die Auskultation hinzu. Über die Natur der Tuberkeln und über die Verkäsung gab Virchow Aufschlüsse, und Villemin zeigte 1865, daß die Tuberkulose durch Impfung mit Auswurf etc. übertragen werden kann. 1882 entdeckte Koch den Tuberkelbazillus und stellte damit die Lehre von der L. auf sichern Boden. Sein Tuberkulin zeigte den Weg, auf dem bessere Erfolge als bisher zu erzielen sein mögen. Für die Behandlung der L. war Brehmers hygienisch-diätetische Anstaltsbehandlung, die Dettweiler durch die Einführung der Liegekur erweiterte, dann aber auch die deutsche soziale Gesetzgebung epochemachend.

Vgl. Brehmer, Die Ätiologie der chronischen L. (Berl. 1885) und Die Therapie der chronischen L. (2. Aufl., Wiesbad. 1889), beide Werke in verkürzter Form mit Anmerkungen in einem Band herausgegeben von Petri (Berl. 1902); Fromm, Die klimatische Behandlung der L. (Braunschw. 1887); Rühle, Die L. und die akute Miliartuberkulose (in Ziemssens »Handbuch der speziellen Pathologie und Therapie«, 3. Aufl., Leipz. 1887); Cornet, Wie schützt man sich gegen Schwindsucht? (2. Aufl., Hamb. 1890) u. Die Tuberkulose (in Nothnagels »Spezieller Pathologie und Therapie«, Wien 1896); R. Koch, Heilmittel gegen die Tuberkulose (Leipz. 1891), Über neue Tuberkulinpräparate (das. 1897); »Die Bekämpfung der Schwindsucht durch Heilstätten für Lungenkranke«, Denkschrift (Berl. 1899); Kley, Die Schwindsucht im Lichte der Statistik und Sozialpolitik (Leipz. 1898); Behring, Römer und Ruppel, Tuberkulose (Marb. 1902); »Tuberkulose-Arbeiten aus dem Kaiserlichen Gesundheitsamt« (Berl., seit 1904); »Bericht über den Kongreß zur Bekämpfung der Tuberkulose als Volkskrankheit« (das. 1899); »Verhandlungen der ständigen Tuberkulosekommission der Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte« (hrsg. von Hüppe, das., seit 1900); »Zeitschrift für [858] Tuberkulose und Heilstättenwesen« (Leipz., seit 1900); »Tuberculosis. Monatsschrift des internationalen Zentralbureaus zur Bekämpfung der Tuberkulose« (das., seit 1903); »Geschäftsberichte für die Generalversammlung des Zentralkomitees zur Errichtung von Heilstätten für Lungenkranke« (Berl.).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 12. Leipzig 1908, S. 852-859.
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