Humboldt [2]

[630] Humboldt, 1) Karl Wilhelm, Freiherr von, einer der geistreichsten Gelehrten und bedeutendsten Staatsmänner Deutschlands, geb. 22. Juni 1767 in Potsdam, gest. 8. April 1835 in Tegel bei Berlin, erhielt nach dem frühzeitigen Tode seines Vaters, der im Siebenjährigen Kriege Major und Adjutant des Herzogs Ferdinand von Braunschweig, nachher königlicher Kammerherr gewesen war, mit seinem Bruder Alexander auf dem elterlichen Schloß Tegel und in Berlin eine treffliche Erziehung und studierte 1787–1788 in Frankfurt a. O., dann in Göttingen Rechts- und Staatswissenschaften sowie unter Heyne auch Altertumswissenschaft und auf Grund eigner Lektüre Kantsche Philosophie. 1789 reiste er mit seinem ehemaligen Lehrer Campe nach Paris und Versailles, wo er einigen Sitzungen der Nationalversammlung beiwohnte, und begab sich dann nach Weimar, wo er den Winter 1789–90 verbrachte. Hier lebte er in lebhaftem Verkehr mit dem Koadjutor v. Dalberg, dem spätern Fürsten-Primas, machte die Bekanntschaft von Karoline v. Dachröden, seiner spätern Gemahlin (s. unten, Literatur), und trat durch deren Vermittelung auch in Beziehungen zu Schiller. Im Sommer 1790 wurde er zu Berlin als Legationsrat und Assessor beim Kammergericht angestellt; doch gab er die neue Stellung im Frühling 1791 wieder auf und verlebte die folgenden Jahre auf seinen Gütern im Mansfeldischen und Thüringischen sowie in Erfurt, wo er sich im Geiste des mit ihm persönlich befreundeten F. A. Wolf mit Altertumsstudien beschäftigte. Auch schrieb er freisinnige »Ideen über Staatsverfassungen, durch die französische Revolution veranlaßt« (»Berliner Monatsschrift«, 1792) und gleich nachher »Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit eines Staates zu bestimmen«, die damals wegen Zensurschwierigkeiten bloß bruchstückweise in Zeitschriften erschienen (als Ganzes zuerst Bresl. 1851); als einzige Aufgabe des Staates betrachtet er hier, im Gegensatz zum Verfahren des aufgeklärten Despotismus, die Sicherung der persönlichen Freiheit. Seit 1794 lebte er in Jena in vertrautem Umgang mit Schiller und einem engen Kreis von gleichgesinnten Freunden in reger Geistestätigkeit. Ein schönes Denkmal dieser bis zu Schillers Tod dauernden Freundschaft bildet der später von H. veröffentlichte »Briefwechsel zwischen Schiller und W. v. H.« (Stuttg. 1830; 3. Ausg., besorgt von Leitzmann, 1899). Auch zu Goethe trat er in innige persönliche Beziehungen und erfreute ihn durch eine liebevolle Beurteilung des damals erschienenen Epos »Hermann und Dorothea«. Nach mehrfachen Reisen verweilte H. von 1797 bis 1799 mit seiner Familie in Paris, um dann einen längern Aufenthalt in Spanien zu nehmen, wo er sich mit dem Studium des Baskischen beschäftigte und mit reicher wissenschaftlicher Ausbeute heimkehrte. 1801 nahm er auf den Wunsch der preußischen Regierung die Stelle eines Ministerresidenten in Rom an und blieb hier bis 1808, seit 1806 als bevollmächtigter Minister. Rom war für ihn ein geeignetes Feld zu seinen wissenschaftlichen Studien, die er hier, im lebendigen Verkehr mit Gelehrten und Künstlern, wie Thorwaldsen und Rauch, auch über philosophische, ästhetische, philologische und archäologische Gegenstände ausdehnte. 1809 mit der Leitung des preußischen Ministeriums des Kultus und des öffentlichen Unterrichts betraut, war er der eigentliche Gründer der Berliner Universität, die er nicht bloß mit tüchtigen Lehrern, sondern auch mit der umfassendsten Hör- und Lehrfreiheit auszustatten suchte 1810 ward er Geheimer Staatsminister, begleitete 1813–14 das königliche Hauptquartier, leitete im Sommer 1813 als preußischer Bevollmächtigter die Verhandlungen in Prag, die zum Anschluß Österreichs an die Alliierten führten, nahm vom 3. Febr. bis 15. März 1814 an dem erfolglosen Friedenskongreß von Châtillon teil und war in Paris bei den Verhandlungen des ersten Pariser Friedens tätig. In Gemeinschaft mit dem Staatskanzler Hardenberg, der ihm aber völlig freie Hand ließ, lag ihm auf dem Wiener Kongreß 1814–15 hauptsächlich die Behandlung der deutschen Frage ob; aber all sein Bemühen zur Erringung einer einheitlichen Verfassung und freier Institutionen für Deutschland scheiterte an den Gegenwirkungen namentlich der österreichischen Diplomatie. Nicht glücklicher war er bei den nach Napoleons zweitem Sturz 1815 eröffneten neuen Friedensunterhandlungen zu Paris, wo es ihm nicht gelang, die Abtretung des Elsaß zu erreichen. Am 25. Nov. reiste H. von Paris ab, um als Mitglied der Territorialkommission zu Frankfurt a. M. die deutschen Gebietsverhandlungen ihrem Ende zuführen zu helfen. Als Ersatzmann des preußischen Bundestagsgesandten, des Grafen von der Goltz, war er bei der feierlichen Eröffnung des Bundestags 25. Nov. 1816 zugegen und trug viel zur Regelung von dessen Geschäftsordnung bei. Im Frühling 1817 ging er nach Berlin, ward hier unter die Mitglieder des neugebildeten Staatsrats aufgenommen sowie in den zur Entwerfung der verheißenen Verfassung niedergesetzten Ausschuß; berufen und zum Vorsitzenden der zur Beratung des Bülowschen Steuerverfassungs-Gesetzentwurfs niedergesetzten Kommission ernannt. Auch im Staatsrat tat er sich durch seine Freisinnigkeit hervor. 1817 wurde er als außerordentlicher Gesandter nach London und im Oktober 1818 nach Aachen geschickt. Nachdem durch die Kabinettsorder vom 11. Jan. 1819 das Ministerium des Innern eine neue Organisation erhalten hatte, übernahm er die Leitung der ständischen und[630] Kommunalangelegenheiten mit einer Reihe andrer Verwaltungsgegenstände als eine eigne Branche mit Sitz und Stimme im Staatsministerium. Sein Drängen nach endlicher Durchführung des Verfassungswerks, sein Auftreten gegen die Karlsbader Beschlüsse, die er für »schändlich, unnational, ein denkendes Volk aufregend« erklärte, und seine Opposition gegen Hardenberg zogen ihm endlich die Ungnade des Königs zu und bewirkten 31. Dez. 1819 seinen Rücktritt ins Privatleben. Mit ihm traten Boyen und Beyme aus dem Ministerium; erst von 1830 an wurde er wieder zu den Sitzungen des Staatsrats berufen. Seit seinem Rücktritt lebte H. mit geringen Unterbrechungen durch Reisen nach Gastein und 1828 nach Paris und London auf Schloß Tegel, wo er eine auserlesene Sammlung von Meisterwerken der Skulptur besaß. Auf die Entwickelung des Kunstlebens in Preußen, namentlich auf die Organisation des Berliner Museums, hat er noch damals entscheidenden Einfluß ausgeübt. Zur Belohnung seiner Verdienste hatte er 1817 die schlesische Herrschaft Ottmachau erhalten. 1884 wurde ihm, wie seinem Bruder, vor der Universität in Berlin ein Denkmal (sitzende Marmorstatue von Paul Otto) errichtet.

Was Humboldts literarisch-kritische Arbeiten betrifft, so erschienen die frühesten in den »Ästhetischen Versuchen« (Braunschw. 1799, Bd. 1) gesammelt. Es sind Kritiken über Goethes »Hermann und Dorothea« und »Reineke Fuchs« sowie Schillers »Spaziergang«, von denen erstere auch separat (4. Aufl. mit Einleitung von Hettner, Braunschw. 1882) erschien. In das Gebiet der Ästhetik gehören ferner seine Rezension über Jacobis »Woldemar«, worin er sein philosophisches Ideal aufstellt, und die die Schellingsche Natur- und Identitätsphilosophie gleichsam antizipierenden Abhandlungen: »Über den Geschlechtsunterschied« und »Über männliche und weibliche Form«. Wichtige Beiträge zur Kenntnis der griechischen Sprache und Verskunst gibt. seine metrische Übersetzung des »Agamemnon« von Äschylos (Leipz. 1816, neue Ausg. 1857), der sich die Übertragung der zweiten olympischen Ode des Pindar, ferner des Simonidis und mehrerer Chöre aus den »Eumeniden« anschließt. Die gründlichsten und umfassendsten Studien wendete aber H. der vergleichenden Sprachforschung zu. Als Früchte seiner Forschungen über die baskische Sprache sind seine »Berichtigungen und Zusätze zu Adelungs Mithridates über die kantabrische oder baskische Sprache« (Berl. 1817) und die mustergültige »Prüfung der Untersuchungen über die Urbewohner Hispaniens vermittelst der vaskischen Sprache« (das. 1821) zu nennen. Seine erfolgreiche Beteiligung an den in Deutschland mit Eifer aufgenommenen altindischen Studien bewiesen seine größern in der Berliner Akademie gelesenen Abhandlungen: »Über die unter dem Namen Bhagavad-Gita bekannte Episode des Maha Bharata« (Berl. 1826); »Über den Dualis« (das. 1828) und »Über die Verwandtschaft der Ortsadverbien mit dem Pronomen in einigen Sprachen« (das. 1830). Sein Hauptwerk aber auf diesem Gebiet: »Über die Kawisprache auf der Insel Java« (Berl. 1836–40, 3 Bde.), ward erst nach seinem Tode von Buschmann (s. d.) herausgegeben. Die Einleitung zu diesem Werk, die u. d. T.: »Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwickelung des Menschengeschlechts« (Berl. 1836; 2. u. 3. Ausg. von Pott, mit einer Einleitung: »W. v. H. und die Sprachwissenschaft«, das. 1876 u. 1883) auch besonders erschien, machte in der Geschichte der neuern Sprachforschung Epoche (vgl. Schasler, »Die Elemente der philosophischen Sprachwissenschaft W. v. Humboldts«, Berl. 1847). Humboldts »Vocabulaire inédit de la langue taïtienne« ward ebenfalls von Buschmann in dessen »Aperçu de la langue des îles Marquises et la langue taïtienne« (Berl. 1843) veröffentlicht. Eine neue Ausgabe von »Humboldts sprachphilosophischen Werken«, mit Kommentar, veranstaltete Steinthal (Berl. 1883). Seine die Sprachwissenschaft betreffende handschriftliche Sammlung ging an die königliche Bibliothek in Berlin über. Daß H. unter seinen tiefen Studien und diplomatischen Geschäften sich den edel menschlichen Zartsinn für Freundschaft und Liebe zu bewahren gewußt, beweisen die an Charlotte Diede (s. d.) gerichteten »Briefe an eine Freundin« (Leipz. 1847, 13. Aufl. 1898; vgl. Berdrow, »Frauenbilder aus der neuen deutschen Literaturgeschichte«, 2. Aufl., Stuttg. 1900). Seine »Gesammelten Werke« erschienen zuerst nach seinem Tode in 7 Bänden (Berl. 1841–52); eine große kritische Ausgabe der »Gesammelten Schriften« wird von der königlich preußischen Akademie der Wissenschaften (das. 1903 ff.) veranstaltet. Die Werke enthalten auch einen Teil der zahlreichen Gedichte Humboldts, unter denen besonders die Elegie »Rom« (1806) und die durch tiefe Sinnigkeit ausgezeichneten »Sonette« (separat, Berl. 1853) hervorzuheben sind. Eine neue Ausgabe seiner »Abhandlungen über Geschichte und Politik« erschien Berlin 1870. Das »Tagebuch W. v. Humboldts von seiner Reise nach Norddeutschland im J. 1796« (Weim. 1894) und »Sechs ungedruckte Aufsätze über das klassische Altertum« (Leipz. 1896) gab Leitzmann heraus. Sein Briefwechsel mit Goethe wurde herausgegeben von Bratranek (Leipz. 1876), seine Briefe an den Philologen Schweighäuser in französischer Übersetzung von Laquiante (Par. u. Nancy 1893), an F. G. Welcker von Haym (Berl. 1859), die Briefe an Chr. G. Körner von JonasAnsichten über Ästhetik und Literatur«, das. 1879), die Briefe an J. R. Forster von demselben (das. 1889), die Briefe an F. H. Jacobi von Leitzmann (Halle 1892), die Briefe an G. H. L. Nicolovius von R. Haym (Berl. 1894); »Lichtstrahlen aus seinen Briefen« veröffentlichte Elise Maier (6. Aufl., Leipz. 1881). Vgl. Schlesier, Erinnerungen an W. v. H. (Stuttg. 1843–45, 2 Bde.); Haym, Wilh. v. H., Lebensbild und Charakteristik (Berl. 1856); Distel, Aus W. v. Humboldts letz'en Lebensjahren (Briefe, Leipz. 1884); Cherbuliez, Profils littéraires (Par. 1889); Gebhardt, W. v. H. als Staatsmann (Stuttg. 1896 bis 1899, 2 Bde.); Kittel, W. v. Humboldts geschichtliche Weltanschauung im Lich'e des klassischen Subjektivismus der Denker und Dichter von Königsberg, Jena und Weimar (Leipz. 1901); ferner: »Briefwechsel zwischen Karoline von H., Rahel und Varnhagen« (Weim. 1896) und »Neue Briefe von Karoline von H.« (Halle 1901, beide hrsg. von Leitzmann); A. Stauffer, Karoline von H. in ihren Briefen an Alexander von Rennenkampff (Berl. 1904).

2) Friedrich Heinrich Alexander, Freiherr von, Naturforscher, Bruder des vorigen, geb. 14. Sept. 1769 in Berlin, gest. daselbst 6. Mai 1859, erhielt gemeinschaftlich mit seinem Bruder Privatunterricht, studierte im Wintersemester 1787/88 in Frankfurt a. O., dann in Berlin, wo er Thunbergs Abhandlung »De arbore macassariensi« ins Französische übersetzte (seine erste literarische Arbeit, anonym u. d. T.: »Sur le Bohon-Upas«), und ging 1789 nach Göttingen. Hier besuchte[631] er mit seinem Bruder Heynes philologisches Seminar, hörte aber auch Vorträge von Blumenbach, Kästner, Beckmann, Gmelin, Lichtenberg, Link sowie des Historikers Spittler und machte Ausflüge in den Harz und an den Rhein. Eine Frucht jener Exkursionen und seiner Studien war die Druckschrift: »Über die Basalte am Rhein, nebst Untersuchungen über Syenit und Basanit der Alten« (Braunschw. 1790). 1790 ging er mit Georg Forster durch Belgien, Holland, England und Frankreich, und durch diesen Reisebegleiter wurden seine Blicke zuerst auf die tropischen Länder hingelenkt. Er besuchte dann Büsch' Handelsschule in Hamburg und bezog 1791 die Bergakademie zu Freiberg, wo er Werners Unterricht genoß und mit Leopold v. Buch, Freiesleben und Andrea del Rio in engen Verkehr trat. Die Frucht eines achtmonatigen Aufenthalts im Erzgebirge war die »Flora subterranea Fribergensis et aphorismi ex physiologia chemica plantarum« (Berl. 1793; deutsch mit Zusätzen von Hedwig, Leipz. 1794). 1792 ward H. Assessor im Bergdepartement und bald darauf Oberbergmeister in den fränkischen Fürstentümern. Er sammelte hier die Materialien zu den beiden 1799 erschienenen Arbeiten: »Über die chemische Zerlegung des Luftkreises« und »Über die unterirdischen Gasarten« und konstruierte eine unauslöschliche Lampe sowie eine nach Beddoes' Prinzipien hergestellte Respirationsmaschine für Grubenarbeiten. Auch sammelte er seit 1792 das Material zu seinem größern Werk: »Über die gereizte Muskel- und Nervenfaser, nebst Vermutungen über den chemischen Prozeß des Lebens in der Tier- und Pflanzenwelt« (Berl. 1797–99, 2 Bde.). 1797 gab er seine Stelle auf, um sich dem Studium der Naturwissenschaft zu widmen. Drei Monate weilte er in Jena, mit Goethe und Schiller in Verkehr, und hörte Loders anatomische Vorträge. Größere Reisepläne, die indes infolge der politischen Wirren nicht zur Ausführung gelangten, führten ihn nach Paris. Er machte hier die Bekanntschaft des Botanikers Aimé Bonpland (s. d.), verlebte mit diesem den Winter von 1797/98 in Spanien und erhielt die Erlaubnis zur Bereisung des spanischen Amerika. Er schiffte sich 5. Juni 1799 mit Bonpland in Coruña auf der Fregatte Pizarro ein, langte 19. Juni in Teneriffa an, bestieg dort den Pic und landete 16. Juli in Amerika bei Cumana. Von hier aus durchforschte er Venezuela und das Orinokogebiet und lieferte zuerst die auf astronomische Bestimmungen gegründete Bestätigung der Bifurkation des Orinoko. 1800 wendete er sich mit Bonpland nach Cuba, 1801 gingen sie nach Cartagena und nach dem Plateau von Bogota. Im September brachen sie nach Quito auf, und 23. Juni 1802 bestieg H. den Chimborazo und erklomm die absolut größte bis dahin von Menschen erreichte Höhe (5810 m), obwohl nicht den Gipfel selbst; endlich erreichte er die Westküste bei Trujillo und nach beschwerlicher Fahrt im März 1803 Acapulco. In Mexiko weilte H. etwa ein Jahr, um die Provinzen zu bereisen, begab sich dann nach einem zu statistisch-politischen Studien benutzten kürzern Aufenthalt in Havana nach Philadelphia und Washington und schiffte sich 9. Juli 1804 in der Mündung des Delaware nach Europa ein, wo er mit Bonpland 3. Aug. in Bordeaux landete. Arbeiten in Paris, besonders gasanalytische, in Verbindung mit Gay-Lussac, Reisen mit diesem und L. v. Buch nach Italien beschäftigten ihn zunächst. Gegen Ende 1805 kehrte er nach Berlin zurück, begleitete 1807 den Prinzen Wilhelm nach Paris, blieb aber auch nach dessen Rückberufung in Frankreich, um dort die Herausgabe seiner Werke zu besorgen. 1818 wohnte er dem Kongreß zu Aachen bei, später dem von Verona, von wo er den König nach Rom und Neapel begleitete. Definitiv kehrte er 1827 nach Berlin zurück. wo er, der königliche Kammerherr, in der Universität und in der Singakademie die berühmten Vorlesungen über physische Weltbeschreibung hielt. Aber schon 1829 unternahm er in Begleitung von Ehrenberg und G. Rose eine auf Befehl des Kaisers Nikolaus reich ausgestattete Expedition nach dem Ural und Altai, der chinesischen Dsungarei und dem Kaspischen Meer. Nach der Thronbesteigung Ludwig Philipps ward H. beauftragt, demselben die Anerkennung von seiten des preußischen Thrones zu überbringen und dann von Paris aus politische Berichte, zuerst vom September 1830 bis Mai 1832 und dann wieder 1834 und 1835, nach Berlin einzusenden. Die gleiche Mission wiederholte sich in den nächsten zwölf Jahren noch fünfmal und nahm allemal 4–5 Monate in Anspruch. In diese Zeit fallen die in Verbindung mit Gauß geschaffene Organisation der magnetischen Beobachtungsstationen, der Vorläufer unsrer meteorologischen Observatorien, die damals nur durch Humboldts großes Ansehen im In- und Ausland ermöglicht wurde, und die Vollendung und Herausgabe eines gelehrten historischen Werkes, des »Examen critique«. Außer einem abermaligen Besuch in Paris 1847 ging H. mit König Friedrich Wilhelm IV. 1841 nach England und 1845 nach Dänemark. Sein ständiger Aufenthalt blieb Berlin, wo er seinen Studien lebte und den »Kosmos, Entwurf einer physischen Weltbeschreibung« schrieb.

Schon die ersten Arbeiten Humboldts geben Zeugnis von seiner großen wissenschaftlichen Befähigung. Eine Jugendschrift, mehr poetischen als wissenschaftlichen Inhalts, zeigt, wie auch ihn die dichterisch symbolisch-spekulative Anschauung der Zeit gefesselt hielt; aber der Geist der Spezialforschung, der ihn beherrschte, bewahrte ihn vor dem Abgrund, in den später die Naturphilosophie versank. Wir sehen ihn beschäftigt mit gründlichen Experimenten, die ihn notwendig auf die Bahn der exakten Wissenschaften leiten mußten. Auf vielen und sehr verschiedenen Gebieten führten ihn seine ersten Forschungen zu bedeutsamen Resultaten, aber so groß war sein Streben nach universalem, umfassendem Wissen, daß die einzelnen Disziplinen der Naturwissenschaft ihm nur als Vorstufen zur tiefern Erkenntnis der Physik des Erdballes galten. Sein Drang nach Erkenntnis des Ganzen führte ihn in die Tropen, wo er für seine Zwecke ein reicheres Material zu erwerben hoffte. Humboldts große Reise ist das Vorbild für alle spätern wissenschaftlichen Reisen geworden; ihn selbst hob sie auf jene hohe Stufe, auf der er als der erste Naturforscher seiner Zeit so großen Einfluß ausgeübt hat. H. wurde der Begründer der klimatologischen und plastischen Geographie, der Physik des Meeres und der Pflanzengeographie; er hatte die reihenweise Anordnung der Vulkane und die örtlich verschiedene Intensität der Magnetkraft erkannt; Geologie und Astronomie, Zoologie, Botanik und Mineralogie hatten durch ihn wie kaum durch einen andern Forscher vor ihm Bereicherung erfahren. Aber auch die Bewohner der durchreisten Länder hatten sein Interesse gefesselt, und er lieferte die bedeutsamsten Arbeiten über die Abstammung, die Sprachen, die Kulturzustände, die Wanderungen und die Zeitrechnung der alten Peruaner und Mexikaner. Für die Statistik, die damals kaum im Entstehen war, und für die Staatsökonomie wurden seine Untersuchungen von großer Wichtigkeit. Die staunenswerte Universalität[632] seines Wissens wurde für ihn die Basis zu weitern Leistungen. Er war nicht ein Polyhistor, der sich nur an die Einzelheiten, an die nackten Tatsachen hält; ihm diente alles nur als Mittel seines großen Zweckes, die Erscheinungen der körperlichen Dinge in ihrem allgemeinen Zusammenhang, die Natur als ein durch innere Kräfte bewegtes und belebtes Ganze aufzufassen. Das große Zeugnis dieser Anschauungsweise ist sein »Kosmos«, ein Werk, das einzig dasteht in der Literatur aller Völker. Es ist ein säkularer Abschluß des gesamten Naturwissens der Humboldtschen Zeit, ausgezeichnet durch eine vollendete Darstellung, durch die geistreiche Art und Weise der Benutzung und Verknüpfung eigner und fremder Beobachtungen, durch die Zuverlässigkeit der Angaben, vor allem durch die Fülle fruchtbarer Gedanken. Aber über diese Grenze hinaus hat die gesamte Arbeit Humboldts eine eminente Bedeutung durch die beständige Hervorhebung der Beziehungen zwischen der tiefern Einsicht in die Erscheinungen der Kräfte der Natur und der geistigen Bildung wie dem materiellen Wohlstand der Völker. Das Erheben der Menschen zu einer höhern, umfassendern, den Geist veredelnden Weltanschauung, die Erweckung eines geläuterten Naturgefühls hat er in allen seinen Schriften überall auch da betont, wo er von scheinbar ferner liegenden Gegenständen redet. Er verschmähte es nicht, in einer Zeit, wo die Gelehrten sich streng abschlossen, seine Forschungen durch allgemein verständliche Vorlesungen und Schriften zu einem Gemeingut aller zu machen, und wurde dadurch ein Mann des Volkes im höchsten Sinne und der Urheber einer populär-wissenschaftlichen Literatur in klassischer Form. Seine wissenschaftliche Bedeutung und seine Stellung zum König verschafften H. einen weitreichenden Einfluß. Durch persönlichen Verkehr mit fast allen Gelehrten, durch eine großartige Korrespondenz, durch Förderung jüngerer Talente und besonders auch durch Bekämpfung oder doch Milderung von Einflüssen, die den Staat seiner Mission der Förderung der Wissenschaft untreu zu machen trachteten, wirkte er fruchtbar in hohem Grade.

H. galt zuletzt als der Nestor der Naturforschung in Deutschland, ja in Europa, seine Autorität war so groß, daß sie sogar in mancher Beziehung die Entwickelung reformierender Ansichten auf verschiedenen Gebieten eine Zeit hin durch verhindert hat. Dies gilt besonders für die Geologie, die sich bald in entschiedenem Gegensatz zu den im »Kosmos« vorgetragenen Ideen entwickelte. Man hat auch daran erinnert, daß H. in jeder einzelnen Disziplin von Spezialforschern übertroffen worden ist, daß er als Entdecker nicht an Galvani, Kopernikus, Kepler oder Newton heranreicht; doch mit Unrecht, denn Humboldts Bedeutung liegt gerade darin, daß er nicht einer einzelnen Disziplin, nicht der Naturwissenschaft allein, sondern der gesamten Förderung der Menschheit diente. Bereits 1804 wurde ihm eine von Loos geschnittene Medaille mit der Inschrift »Novi orbis Democritus« gewidmet, der manche andre Medaillen folgten, während beinahe alle Akademien der Welt ihn zu ihrem Mitglied ernannten. Im Fairmount-Park zu Philadelphia wurde ihm 1876 eine kolossale Bronzestatue von Drake, in St. Louis 1878 eine Statue von Ferd. v. Miller dem jüngern, in Berlin 1883 ein von R. Begas gearbeitetes Standbild neben dem seines Bruders vor der Universität errichtet und zu seinem Andenken die Humboldt-Stiftung unter dem Kuratorium der königl [chen Akademie der Wissenschaften begründet, besonders zur Unterstützung von Forschungsreisenden.

Der fast 20jährige Aufenthalt in Paris ward zur Bearbeitung des amerikanischen Reisewerks verwendet, und die tüchtigsten Fachmänner (Oltmanns, Kunth, Cuvier, Latreille, Valenciennes, Gay-Lussac, Thénard, Vauquelin u. a.) und Künstler wurden für die Bearbeitung und künstlerische Ausstattung einzelner Teile gewonnen. Die Gesamtausgabe (die sogen. große) in 30 Bänden (20 in Folio, 10 in Quart) enthält die Atlanten und Kupferwerke und wird gewöhnlich in 6 Abteilungen gruppiert, während die sogen. kleine Oktavausgabe nur den Text einiger Werke daraus, oft mit Auslassungen und Zusätzen, enthält. Hiernach hat das amerikanische Reisewerk den Gesamttitel: »Voyage aux régions équinoxiales du nouveau continent, fait en 1799–1804« und bildet folgende 6 Abteilungen: 1) »Relation historique«, unvollendet, reicht nur bis zur Reise nach Peru, April 1801 (Par. 1811–29, 3 Bde. in Quart, oder das. 1816–32, 13 Bde. in Oktav; deutsch, Stuttg. 1815–32, 6 Bde.; besser von Hauff, das. 1859, 4 Bde). Zur »Relation historique« gehören: »Atlas géographique et physique« (39 Blätter in Folio) und »Atlas pittoresque, vues des Cordilléres et des monuments des peuples indigènes de l'Amérique« (1810, 69 Blätter). 2) »Recueil d'observations de zoologie et d'anatomie comparée« (1805–32, 2 Bde., mit 55 Tafeln), mit Cuvier, Latreille, der die Insekten, und Valenciennes, der die Fische und Konchylien bearbeitete. 3) »Essai politique sur le royaume de la Nouvelle Espagne« (Par. 1881, 2 Quartbde. oder 5 Bde. Oktav; 2. Aufl., vermehrt durch den »Essai politique sur l'isle de Cuba«, 1826–27, 6 Bde. in Oktav; deutsch, Stuttg. 1809–14, 5 Bde.); dazu gehört: »Atlas géographique et physique du royaume de la Nouvelle Espagne« (Par. 1812, 21 Tafeln). 4) »Observations astronomiques, opérations trigonometriques et mesures barométriques, rédigées et calculées par Jabbo Oltmanns« (Par. 1808–10, 2 Quartbde.). 5) »Physique générale et géologie: essai sur la géographie des plantes, accomp. d'un tableau« (Par. 1807, Quart; deutsch, Stuttg. 1807, Goethe gewidmet). 6) »Plantes équinoxiales, rédigées par A. Bonpland« (Par. 1809–18, 2 Bde. in Folio, 144 Tafeln); »Melastomes et autres genres du même ordre, rédig. par A. Bonpland« (1806–23, 2 Bde. in Folio, 120 Tafeln); »Nova genera et species plantarum partim adumbraverunt A. Bonpland et Alex. de II., in ordinem digess. C. S. Kunth« (1815–25, 7 Bde. in Folio, 700 Tafeln), hierzu von H. die Einleitung: »De distributione geographica plantarum secundum coeli temperiem et altitudinem montium« (1817); »Mimoses et autres plantes légumincuses, rédig. par C. S. Kunth« (1819–24, Folio, mit 60 Tafeln); »Révision des graminées par C. S. Kunth« (1829–34, 2 Bde. in Folio, 220 Tafeln); »Synopsis plantarum, auct. C. S. Kunth« (1822–26, 4 Bde. in Oktav). – Im Zusammenhang damit stehen: »Ansichten der Natur« (Stuttg. 1808, 2 Bde.); in wiederholten vermehrten Auflagen); »Des ligues isothermes et de la distribution de la chaleur sur le globe«, in den »Mémoires de la Société d'Arcueil« (1817); »Essai géognostique sur le gisement des roches dans les deux hemisphères« (Straßb. 1823); »Examen critique del'histoire de la géographie du nouveau continent et des progrès de l'astronomie nautique aux XV. et XVI. siècles« (Par. 1814–34, 1 Bd. in Folio oder 5 Bde. in Oktav; deutsch von Ideler, Berl. 1835–51, 3 Bde.). Die asiatische Reise behandeln die Werke: »Fragments de géologie et de climatologie [633] asiatiques« (Par. 1832, 2 Bde. in Oktav; deutsch von Löwenberg, Berl. 1832); »Asie centrale. Recherches sur les chaînes de montagnes et la climatologie comparée« (Par. 1843, 3 Bde. in Oktav; deutsch von Mahlmann, Berl. 1843–44, 2 Bde.); »Reise nach dem Ural, dem Altai und dem Kaspischen Meer«, mit Ehrenberg und Rose (das. 1837–42, 2 Bde.). Der »Kosmos« erschien zuerst 1845–58 in 4 Bänden, dann wiederholt und wurde von Professor Buschmann mit 2 Bänden eines ziemlich unbrauchbaren Registers belastet. Unter den erläuternden Werken, welche bezwecken, den »Kosmos« für weitere Kreise verständlich zu machen, verdienen genannt zu werden die »Briefe über Humboldts Kosmos« von B. Cotta, Schaller u. a. (4 Tle., Leipz. 1848–60) Von Humboldts »Kleinern Schriften« ist nur ein Band: »Geognostische und physische Erinnerungen«, mit Atlas (Stuttg. 1853), erschienen. Nach Humboldts Tod erschienen aus seinem Briefwechsel: seine Briefe an Varnhagen von Ense (1.–5. Aufl., Leipz. 1860), »Briefwechsel und Gespräche mit einem jungen Freund« (Althaus, Berl. 1861), der Briefwechsel mit Heinrich Berghaus (Jena 1863, 3 Bde.), seine Briefe an Bunsen (Leipz. 1869), der »Briefwechsel mit dem Grafen Georg von Cancrin« (das. 1869), mit Marc Aug. Pictet (in »Le Globe«, Bd. 7, 1868), »Correspondance inédite scientifique et littéraire« (hrsg. von de la Roquette, Par. 1869), der Briefwechsel mit Friedr. v. Raumer (in dessen »Literarischem Nachlaß«, Bd. 1, Berl. 1869), mit Goethe (hrsg. von Bratranek, Leipz. 1876), mit Gauß (hrsg. von Bruhns, das. 1877), mit Joach. Heinr. Campe in dessen »Lebensbild« von Leyser (Braunschw. 1877), die Briefe an seinen Bruder Wilhelm (hrsg. von der Familie H., Stuttg. 1880) und Jugendbriefe an Wilh. Gabr. Wegener (hrsg. von Leitzmann, Leipz. 1896). »Gesammelte Werke« von H. erschienen zuletzt Stuttg. 1889 in 12 Bänden. Sein Bildnis s. Tafel »Naturforscher II«. Vgl. Bruhns, Alexander v. H., eine wissenschaftliche Biographie (im Verein mit Avé-Lallemant, Carus, A. Dove u. a., Leipz. 1872, 3 Bde.; Bd. 2 enthält auch die vollständige, übersichtlich geordnete Bibliographie von Humboldts Schriften, von Löwenberg); Klencke, A. v. Humboldts Reisen, Leben und Wissen (7. Aufl., das. 1882); Juliette Bauer, Lives of the brothers H. (Lond. 1852); Löwenberg, A. v. Humboldts Reisen in Amerika und Asien (2. Aufl., Berl. 1843, 2 Bde.); Wittwer, Alex. v. H., sein wissenschaftliches Leben und Wirken (Leipz. 1860); Ule, Alex. v. H. (4. Aufl., Berl. 1870). S. Günther, Biographie in der Sammlung »Geisteshelden« (Bd. 39, das. 1900); »Wissenschaftliche Beiträge zum Gedächtnis der 100jährigen Wiederkehr des Antritts von A. v. Humboldts Reise nach Amerika« (hrsg. von der Gesellschaft für Erdkunde in Berlin, das. 1899).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 9. Leipzig 1907, S. 630-634.
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Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

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Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

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