[223] Völkerkunde (Ethnographie, Ethnologie), die Wissenschaft, welche die größern natürlichen Bestände der Menschheit (Stämme, Völker, Rassen) schildert, wobei meist unter Ethnographie nur die Beschreibung und Klassifikation, unter Ethnologie die vergleichende Untersuchung über Kulturbesitz, Sitten u. a. verstanden wird. Die V. findet ihre Grundlagen in der Anthropologie, der Schilderung des Menschen als Einzelwesen, in der Geographie und in einer ihrer Zweigwissenschaften, der Anthropogeographie, die den Einfluß des Wohnorts, seiner Eigenart und natürlichen Ausstattung auf den Menschen untersucht. Aus sich selbst heraus schafft die V. eine Reihe von Hilfswissenschaften, z. B. Völkerpsychologie, welche die rein geistigen Betätigungen größerer Gruppen der Menschheit zu erforschen sucht, und vergleichende Mythologie.
[Geschichtliche Entwickelung.] Schon die alten Ägypter unterschieden auf ihren Denkmälern deutlich vier Menschenrassen, die Ludu, worunter sie sich selbst verstanden, die Aamu (Semiten), Nahasu (Neger) und Tamahu (helle Völker Asiens und Nordafrikas, Berber). Bei den Hebräern finden wir (1. Mos. 10) in der merkwürdigen Völkertafel die erste Übersicht über die Ausbreitung der Menschen nach den drei Söhnen Noahs: Sem, Ham und Japhet über Westasien, Nordostafrika und Südosteuropa. (Vgl. Knobel, Die Völkertafel der Genesis, Gieß, 1850.) Die durch Römer und Griechen überlieferten Nachrichten sind trotz der ausgedehnten Bekanntschaft dieser Völker mit der damaligen Welt für die moderne Wissenschaft schwer verwertbar, weil ihnen die scharfe Beobachtung des eigentlichen ethnologischen Moments abgegangen ist; dagegen wurde der Einfluß der Erdräume auf den Menschen mit großem Scharfsinn[223] untersucht. Auch im Mittelalter gelangte man nicht wesentlich weiter. Eine unbefangene, universelle Auffassung des Menschen wurde erst in der neuern Zeit möglich durch die Entdeckung Amerikas, dann durch die Entdeckungen in der Südsee. Der Name Ethnographie wird zuerst (z. B. in Ehrmanns »Ethnographischer Bildergalerie«, Nürnb. 1791) im Anschluß an die Geographie erwähnt, der Name Anthropologie als Bezeichnung eines bestimmten Wissenszweiges kommt zuerst bei Magnus Hund, »Anthropologia de natura hominis« (Leipz. 1501), vor.
In seinem Werke »Systema naturae« hat Linné 1735 den Menschen zur Ordnung der Primaten gestellt und ihn in vier Gruppen als amerikanischen, europäischen, asiatischen und afrikanischen Menschen gegliedert. Weit höher stand Buffon, der 1749 in seinen »Variétés dans l'espèce humaine« außer der körperlichen Schilderung schon geographische Verbreitung und Sitten der Völker skizziert, aber auch noch bei der geographischen Anordnung stehen bleibt Erst Blumenbach trennte auf anthropologischer Basis das Menschengeschlecht in fünf Abarten (»De generis humani varietate nativa«, Götting. 1776, 4. Aufl. 1795; deutsch von Gruber, Leipz. 1795, und »Decades craniorum diversarum gentium«, 1790): Kaukasier, Mongolen, Neger, Amerikaner und Malaien. Jeder dieser Rassen gab er ihre Merkmale nach Schädelbildung, Hautfarbe, Haar, Augenstellung und Mundform. Neben der Anatomie ermöglichte es die Sprachwissenschaft, durch Vergleich die Völker genealogisch zu vereinigen, und diesen Weg betrat zuerst 1800 der spanische Priester Don Lorenzo Hervás, indem er die Sprachen nach ihrer grammatischen Übereinstimmung in Gruppen ordnete. Es folgten dann Prichard (»Natural history of man«, Lond. 1813), Cuvier (»Le règne animal«, Par. 1817) u. a. Hilfreich wie die Linguistik gesellten sich auch Urgeschichte (Prähistorie) und Anthropologie der V. zu.
Die V. als moderne Wissenschaft datiert aber erst vom Jahre 1829, als Milne-Edwards an Thierry einen Brief richtete, durch den die 1839 erfolgte Begründung der Société ethnologique zu Paris angebahnt wurde. Diese wurde 1859 überholt durch die Société d'Anthropologie, die in ihren »Bulletins« eine Fülle neuen Materials veröffentlicht. Wichtige Zeitschriften sind ferner die »Revue d'Anthropologie« (seit 1871) und die »Revue d'Ethnographie« (seit 1882). In Amerika wurde 1842 eine Ethnological Society ins Leben gerufen, die seit 1845 »Transactions« veröffentlichte, aber später einging, als ihr in der Smithsonian Institution ein überwältigender Wettbewerb entstand. In England war seit 1848 unter Prichards Vorsitz die Ethnological Society in London begründet worden, die 184870 ein »Journal« und daneben höchst wertvolle »Transactions« (186169. 7 Bde.) veröffentlichte. 1863 entstand die Anthropological Society unter James Hunts Leitung, welche die »Anthropological Review« (186370, 8 Bde.) und »Memoirs« (3 Bde.) publizierte. Beide Gesellschaften vereinigten sich 1871 als Anthropological Institute of Great Britain and Ireland, ihr Organ ist ein »Journal«. In Deutschland fand die V. ihre gesellschaftliche Vertretung auf der Anthropologenversammlung in Göttingen 1861. Im weitern Verlauf entwickelte sich daraus das »Archiv für Anthropologie«, in dem auch die V. eine reiche Vertretung findet. Zur Gründung einer Deutschen Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte kam es jedoch erst im April 1870 unter R. Virchow. Als Organ derselben erscheint ein »Korrespondenzblatt«. Gegenwärtig zählt sie 25 Lokalvereine, die, über ganz Deutschland verbreitet, eine rührige Tätigkeit entwickeln, vor allen der Berliner Verein, der in der »Zeitschrift für Ethnologie« (seit 1869) ein ausgezeichnetes Organ besitzt. Gleichzeitig entstand in Wien eine Anthropologische Gesellschaft; auch Rußland, Italien, Spanien, Schweden und Belgien blieben mit der Stiftung ähnlicher Gesellschaften nicht zurück. Seit dem 1867 in Paris abgehaltenen Internationalen anthropologischen Kongreß umfaßt alle diese Vereine ein gemeinsames Band, wie die späterhin gehaltenen Kongresse beweisen.
Wie durch die Vereine und Zeitschriften, erhielt die V. durch Museen und Sammlungen, die eigens in ihren Dienst gestellt wurden, einen neuen Antrieb. Joma rd hob 1843 in Paris zuerst deren Wichtigkeit hervor und nahm den ethnographischen Sammlungen den Charakter von Kuriositäten, der ihnen bis dahin zumeist angehaftet hatte. Jetzt bestehen in den meisten Hauptstädten Europas solche Museen; in Deutschland z. B. in Berlin, Leipzig, Hamburg, Dresden, Bremen, Köln, Stuttgart, München.
[Gebiet der Völkerkunde.] Da die V. zu ihrer Unterstützung und zu ihrem Ausbau der meisten andern Wissenschaften bedarf, wird sie zu einer der umfassendsten und schwierigsten Wissenschaften. Sie hot zunächst die geographische und rassenweise Verteilung der Völker sowie deren Ursitze und Wanderungen in Betracht zu ziehen und den Rassencharakter zu bestimmen. Neben den zunächst ins Auge fallenden Unterschieden der Hautfarbe, Kopfform, Art der Haare, des Wuchses gibt es feinere Nuancen, die, wie die Mongolenfalte des Augenlides (Epicanthus) oder das Inkabein (Os Incae) des Schädels, zu Rassenmerkmalen werden können. Einteilungen in Rassen sind vielfach neben den oben erwähnten ältern in neuer Zeit aufgestellt worden, doch ist man meist zu einer geographischen Klassifizierung zurückgekehrt. Oskar Peschel unterschied sieben Menschenrassen: 1) Australier, 2) Papua (Melanesier, Negritos, Minkopie), 3) mongolenähnliche Völker, zu denen er außer den asiatischen hierher gehörigen Völkern auch Malaien, Polynesier, Eskimo und Amerikaner rechnete, 4) Drawida in Vorderindien, 5) Hottentotten und Buschmänner, 6) Neger, 7) die mittelländische Rasse (Blumenbachs Kaukasier), zu denen Hamiten, Semiten und Indoeuropäer gestellt wurden. Dagegen teilte Ratzel die Menschen nach ihrer kulturellen Entwickelung in vier große Gruppen: den pazifisch-amerikanischen Völkerkreis, die hellen Stämme Süd- und Innerafrikas, die Neger und die Kulturvölker der Alten Welt. Auf die Beschaffenheit eines einzigen Körpermerkmals, der Haare, basierte Ern st Haeckel seine (von Fr. Müller angenommene) Einteilung der Menschen in zwei große Abl eil ungen. Wollhaarige und Schlichthaarige.
I. Wollhaarige (Ulotrlches);
a) Büschelhaarige (Lphocomi): Hottentotten, Papua;
b) Vlieshaarige (Eriocomi): Neger, Kaffern.
II. Schlichthaarige (Lissotriches);
a) Straffhaarige (Euthycomi): Australier, Hyperboreer (Arktiker), Amerikaner, Malaien, Mongolen;
b) Lockenhaarige (Eupeocomi): Drawida, Nuba, mittelländische Rasse.
Die Merkmale, nach denen das menschliche Geschlecht in Rassen einzuteilen ist, können unterschieden werden in anatomische, physische, physiologische und physiognomische. Hier hat die Anthropologie einzutreten[224] und der V. vorzuarbeiten. Es schließt sich hieran die Beachtung der sprachlichen Merkmale; doch gehört die Sprache nicht zu den natürlichen, einer Rasse, einem Volk oder Individuum anhaftenden Charakteren, da sie nicht ererbt, sondern erlernt wird und bei Völkern wie bei Individuen wechselt. Ähnlich verhält es sich mit der Religion, wogegen die Beobachtung des einem Volke, einer Klasse, einem Stande eignen Typus von Wert ist. Auch die geistige und moralische Begabung, wie Vorzüge, Fehler, Mängel und Gebrechen, gehört hierher und bildet, wenn sie bei der großen Mehrheit der Bewohner eines Landes sich findet, den Nationalcharakter. Ebenso hat die V. zu beachten pathologische Eigentümlichkeiten, die Neigung zu Mißbildungen, Affektionen und Krankheiten, die mit den klimatischen Verhältnissen oder der Rasse zusammenhängen (Kropf, Albinismus, Ophthalmie, Aussatz, Elefantiasis, Fieber, Schwindsucht).
Unter den sprachlichen Erwägungen, die für die V. von Wert sind, hat man zunächst die Frage nach der Verwandtschaft der Sprache zweier Völker ins Auge zu fassen, die aber nur dann als erwiesen erscheint, wenn Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen in ihrem grammatischen Bau und in ihren Grundbestandteilen, den Wurzeln, vorhanden sind. Die V. behandelt ferner die geographische Ausdehnung und Begrenzung der Sprachen (Sprachgebiete) sowie die Frage nach der Koexistenz verschiedener Sprachen; denn in Gebieten mit scharf getrennten Kasten und Klassen können auf demselben Gebiete zwei oder mehr Sprachen vorkommen: das Idiom der Eroberer und dasjenige der Besiegten, oder die Sprache der höhern Kasten und diejenigen der untern Volksklassen. So gibt es Rangsprachen in China; bei den Kariben ist eine Weibersprache neben einer Männersprache bekannt. Im Anschluß hieran hat sich die V. mit der Gebärden- und Zeichensprache (z. B. Trommelsprache in Kamerun), mit den Anfängen und Substituten der Schrift sowie mit dieser selbst, mit den Zahlen-, Maß- und Gewichtssystemen, der Zeitrechnung verschiedener Völker zu befassen. Über die Sprachen der einzelnen Völker haben wir jetzt eine außerordentlich reiche Literatur. Ein zusammenfassendes Werk lieferte Friedr. Müller in seinem »Grundriß der Sprachwissenschaft« (Wien 187688, Bd. 14,1. Abt.).
Aus den Sitten und Gebräuchen eines Volkes kann auf Ursprung und Vergangenheit desselben geschlossen werden. Eingelebte Gebräuche bleiben lange erhalten, und alle haben oder hatten einmal Sinn und Berechtigung. Zu unterscheiden ist zwischen natürlichen Gewohnheiten und Nachahmungen. Die erstern sind die Folgen gegebener Verhältnisse, finden sich daher bei allen Völkern auf gleicher Kulturstufe oder unter den nämlichen Lebensbedingungen. Diese Sitten haben den Wert eines charakteristischen Bestandteils der Volksbeschreibung. während den Nachahmungen lediglich historische Bedeutung zukommt. Es ist aber ein großer Fehlschluß, aus Übereinstimmung und Ähnlichkeit in den Anschauungen und Gebräuchen räumlich weit voneinander getrennter und ethnisch verschiedener Völker sofort auf Verwandtschaft derselben oder Entlehnung solcher Sitten und Vorstellungen schließen zu wollen. Sie sind sehr häufig ganz selbständig entstanden, da Menschen wie Völker. wenn sie auf derselben gleichartigen Entwickelungsstufe angelangt sind, unabhängig voneinander gleiche Vorstellungen und technische Fertigkeiten erlangen können. Überall ist der zugehauene Feuerstein oder Obsidian die ursprüngliche Waffe oder das erste Gerät; die Anfänge der Töpferei sind überall gleich; der Tumulus hat in Europa die gleiche Form wie in Nordamerika; der Glaube an gute und böse Tage (Tagewählerei) ist über die ganze Erde verbreitet, wie die Vorstellung, daß Menschen sich zeitweilig in Tiere verwandeln können (Werwolf); überall kommt der Vampiraberglaube vor; Speiseverbote finden sich bei den meisten Völkern.
Die V. untersucht auch zahlreiche Einzelerscheinungen, z. B. Begrüßungen verschiedener Art, wie das Nasenreiben mancher nordischer und Südseevölker; die Eidesformen (Schwören bei Steinen, beim Bären in Sibirien); die Gastfreundschaft, die bei verschiedenen Völkern bis zum Mitgenuß der Frau durch den Gastfreund ausgedehnt wird; das Tabu, einen religiösen Bann, namentlich in der Südsee, der auf Menschen und Dinge sich erstreckt; die Blutrache, noch in Albanien und auf Korsika, bei Arabern und vielen andern Völkern vorhanden, aber oft ablösbar durch Buße (Wergeld der Germanen); den Zweikampf, selbst unter den Naturvölkern vorkommend, und die Gottesgerichte oder Ordalien, die im Trinken des giftigen Tangina auf Madagaskar oder des Nkassa (einer Strychnos) in Westafrika viele Opfer fordern; die Geschlechtsgenossenschaft in ihren verschiedenen Stadien: von der Promiskuität und Polygamie bis zur Monogamie, die Exogamie (Wahl der Frauen aus fremdem Stamm), die Endogamie (Wahl der Frau aus dem eignen Stamm), die Polyandrie (Vielmännerei in Tibet, Indien), den Frauenkauf und Frauenraub, die Mitgift, die Verlobungs- und Hochzeitsgebräuche. Bei vielen Völkern ist das Mädchen vor der Verheiratung im geschlechtlichen Verkehr völlig ungebunden, während von der Frau, sobald sie Eigentum des Mannes ist, die strengste Treue verlangt wird. Die Gebräuche bei Schwangerschaft und Niederkunft, Abortus und Kindermord, die wunderbare Sitte der Convade oder des Männerkindbettes (s. d.), die Taufe oder deren Substitute, die sehr weit verbreitete und in verschiedenen Formen vorkommende Beschneidung, der Kannibalismus, die Behandlung der Geisteskranken, die Kriegsgebräuche, die Leichenzeremonien und Bestattungsgebräuche, die Trauer und der Totenkultus sind ferner von der V. zu berücksichtigen.
Auch Ideenwelt, Glaube und Religion eines Volkes gehören in den Rahmen der V. Die Auffassung der Dinge, die ihnen beigelegten Eigenschaften und Kräfte, Glaube und Aberglaube bestimmen die Handlungen eines Volkes, und nur eine genaue Kenntnis der Anschauungen eines solchen gibt der V. die Mittel zum Verständnis seiner Entschließungen und läßt den Geist seiner Institutionen erfassen. Sie hat hier unter anderm zu berücksichtigen die kosmogonischen Vorstellungen und Systeme der Völker, ihre Erklärung der Naturerscheinungen, ihren Glauben an Geister und Götter, die Vorstellungen von der Seele und einem künftigen Leben, die Anbetung der Naturkräfte, den Fetisch-, Reliquien- und Götzendienst, den Schamanismus, Polytheismus, Dualismus und Monotheismus, die Konfessionen, Sekten und kirchlichen Gebäude, die Priester, den Kultus, Ritus und die Zeremonien, den Aberglauben in seinen mannigfachen Formen. Schmuck, Kleidung, Tätowierung, Abzeichen, Bemalung, Waffen, Geräte, Haar- und Barttracht, künstliche Verunstaltungen (Verlängerung des Ohrläppchens, Flachdrücken der Nase und des Schädels, Feilen der Zähne, Verkrüppelung der Füße) aus angeblichem Schönheitsgefühl, die Nahrungsweise, die Zubereitung der Speisen, das Feuer und dessen Unterhaltung, die Mahlzeiten, die [225] Getränke, die oft heiliger Natur sind, die Anwendung von Reizmitteln (Fliegenschwamm, Betel, Haschisch, Opium), die Art der Wohnungen vom Blätterschirmdach des Australiers bis zu den Bauten der Kulturvölker, die Lebensweise in geselliger und politischer Beziehung, die Organisation der Familie, der Gesellschaft und des Staates, endlich die Verhältnisse des Rechts und Eigentums sind in das Gebiet der V. einzubeziehen und dabei stets vergleichend zu behandeln. Vgl. hierzu auch die Tafeln »Wohnungen, Geräte, Kunst, Schiffsfahrzeuge, Totenbestattung der Naturvölker« und zahlreiche andre ethnographische Tafeln bei den betreffenden Artikeln.
Erst nach solchen langen Vorbereitungen konnte die V. unsrer Tage als Wissenschaft hervortreten. Auf induktiver Grundlage vorwärts schreitend, geriet sie mit der Philosophie in Streit. Beneke und Waitz trachteten die Psychologie als Naturwissenschaft auszubilden, sie aber und andre mußten an dem noch mangelnden Material scheitern. Ba sti an (»Der Völkergedanke im Aufbau einer Wissenschaft vom Menschen«, Berl. 1881) zeigte zuerst, daß es sich nicht um den Gedanken des einzelnen handle, sondern um den Völkergedanken, um den Gedanken der Gesellschaft, indem er ausführte, daß für die V. der Mensch nicht mehr der individuelle anthropos, jenes zoon politikon, sei, das den Gesellschaftszustand als notwendige Vorbedingung seiner Existenz fordert, sondern daß das Primäre der Völkergedanke sei, in dem die ganze Welt geistiger Schöpfung sich reflektiere. Und dieser Gesellschaftsgedanke führt zur Erkenntnis der geistigen Schöpfungen, der psychischen Taten des Menschengeistes, in den religiösen Vorstellungen, in den Grundideen rechtlicher Institutionen und in allen Bedingungen des sozialen Lebens. Aufklärung für den Begriff des Gesellschaftsorganismus hat man aber nur durch ein systematisches Studium der Naturvölker zu erwarten. Sobald es daher gelungen sein wird, in den Naturvölkern den Gang der Entwickelung zu durchschauen, hat man einen Schlüssel gewonnen, um mit seiner Hilfe auch die kompliziertern Gestaltungen höherer Gebilde auszuschließen. Vgl. Völkerpsychologie.
[Literatur.] Zusammenfassende Darstellungen: Peschel, Völkerkunde (Leipz. 1873, 6. Aufl. von Kirchhoff 1885; 7. Aufl., Abdruck des Urtextes, 1897); Friedr. Müller, Allgemeine Ethnographie (2. Aufl., Wien 1879); Ratzel, Völkerkunde (2. Aufl., Leipz. 1894, 2 Bde.) und Die Menschheit als Lebenserscheinung der Erde (in Helmolts »Weltgeschichte«, 1. Bd., das. 1899); Schurtz, Katechismus der V. (das. 1873) und Völkerkunde (in dem Sammelwerk »Die Erdkunde«, hrsg. von Klar, Wien 1903); Achelis, Moderne V., deren Entwickelung und Aufgaben (Stuttg. 1896); Lampert, Die Völker der Erde (das. 1902); Knox, The races of men (2. Aufl., Lond. 1862); Wood, Natural history of man (das. 1870, 2 Bde.); A. Maury, La terre et l'homme (5. Aufl., Par. 1891); Keane, Ethnology (2. Aufl., Cambridge 1901) und The world's peoples (das. 1908); Deniker, The races of men (Lond. 1900).
Außer den bereits angeführten Schriften und der Literatur bei den Artikeln Anthropologie und Menschenrassen vgl. ferner Gobineau, Essai sur l'inégalité des races humaines (2. Aufl., Par. 1884, 2 Bde.; deutsch von Schemann, Stuttg. 1898 bis 1901, 4 Bde.); H. Spencer, Prinzipien der Soziologie (deutsch von Vetter, Stuttg. 1877 ff.); R. Andree, Ethnographische Parallelen und Vergleiche (das. 1878; neue Folge, Leipz. 1889); zahlreiche Schriften von A. Bastian (s. d. 1); Le Bon, Les premières civilisations (Par. 1888); Featherman, Social history of the races of mankind (Lond. 1881 ff.); Petri, Verkehr und Handel in ihren Uranfängen (St Gallen 1888); Post, Studien zur Entwickelungsgeschichte des Familienrechts (Oldenb. 1889) und Grundriß der ethnologischen Jurisprudenz (das. 189495, 2 Bde.); J. Taylor, The origin of the Aryans (Lond. 1889); Letourneau, L'évolution politique dans les diverses races humaines (Par. 1890); Buckland, Anthropological studies (Lond. 1891); E. Reclus, Primitive folk studies in comparative ethnology (das. 1891); Schurtz, Grundzüge einer Philosophie der Tracht (Stuttg. 1891) und Urgeschichte der Kultur (Leipz. 1900); Hörnes, Die Urgeschichte des Menschen (Wien 1892); Garnier und Ammann, L'habitation humaine (Par. 1892); A. Lefèvre, Les races et les langues (das. 1893); Stokvis, Manuel d'histoire de généalogie et de chronologie de tous les Etats du globe (Leiden 188893, 3 Bde.); Bartels, Die Medizin der Naturvölker (Leipz. 1893); J. Müller, Über Ursprung und Heimat des Urmenschen (Stuttg. 1894); F. v. Schwarz, Sintflut und Völkerwanderungen (das. 1894); Steinmetz, Ethnologische Studien zur ersten Entwickelung der Strafe (Leiden 1894, 2 Bde.); Mucke, Horde und Familie in ihrer urgeschichtlichen Entwickelung (Stuttg. 1895); Vierkandt, Naturvölker und Kulturvölker (Leipz. 1896); L. Frobenius, Ursprung der Kultur (Berl. 1898, Bd. 1) und Völkerkunde in Charakterbildern etc. (Hannov. 1902, 2 Bde.). Fortlaufende Berichte über V. bietet H. Wagners »Geographisches Jahrbuch« (Gotha). Ein »Internationales Archiv für Ethnographie«, herausgegeben von J. D. E. Schmeltz, erscheint feil 1888 in Leiden. Eine ethnographische Weltkarte ist dem Artikel »Menschenrassen« (Bd. 13) beigegeben.
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