Finnische Mythologie

[287] Finnische Mythologie. Die Religion der heidnischen Finnen, sowie überhaupt aller Völker Altaischen Stammes, war eine Naturreligion. Der Gott des Himmels hieß bei den Finnen anfänglich Jumala, später jedoch wurde der Name Jumala für Gott überhaupt, namentlich auch für den christlichen Gott gebraucht, während der Gott des Himmels unter dem Namen Ukko (d.i. Greis, Altvater) verehrt wurde. Ukko hatte eine sehr umfassende Macht; er übte die Herrschaft über die Wolken (führt deshalb die Epitheta Pilvien pitäjä, d.i. Wolkenlenker, u. Hattarojen hallitsia, d.i. Beherrscher der Lämmerwolken) u. gebietet daher über Wind u. Wetter, Regen, Schnee u. Hagel; er war der Gott des Donners, den man sich als seinen mächtigen Ruf dachte, u. des Blitzes, welcher von dem Schwingen seines funkelnden Schwertes od. vom Feueranschlagen in seiner himmlischen Wohnung herrührte. Den Blitzstrahl nännten die Finnen Ukko's feurigen Kupferpfeil od. Ukko's Stein, auch wohl Ukko's Hammer. Er hatte seinen Sitz auf einer Wolke u. seinen Aufenthalt vorzugsweise in der Mitte des Himmels; zugleich dachte man sich ihn als den Träger des Firmaments. Sein Bogen, von welchem er seine kupfernen Pfeile (Blitze) schießt, ist der Regenbogen, der daher Ukon kaari, d.i. Ukko's Bogen, heißt. Er hatte eine Gemahlin, Akka od. Ämmä (d.i. Altmutter), die auch unter dem bestimmten Namen Rauni von den Kareliern als Donnergöttin verehrt worden sein soll. Kinder scheint man dem Ukko nicht beigelegt zu haben. Er wird in den Runen unzählige Mal angerufen, nicht blos um Regen zu spenden od. Wind u. Wogen zu beruhigen, sondern auch in anderen, seiner natürlichen Thätigkeit fremden Fällen, wo der Beistand des mächtigsten der Götter nöthig wurde. Bei den Esthen wurde Ukko unter den Namen Vanna issa, Vanna taat, Tara od. Ukko, bei den Lappen unter den Namen Aija, Alje (d.i. Großvater u. Donner) verehrt. Neben Ukko wurden von den heidnischen Finnen noch Sonne, Mond u. Sterne, als selbständige, wenn auch minder mächtige Gottheiten angebetet. Der Mond u. der Mondgott heißt Kuu (im Diminutiv Kunhut), die Sonne u. der Sonnengott Päivä (Diminutiv Päivyt, esthnisch Pääv), der große Bär u. dessen Gottheit Otava, der Stern u. Sterngott Tähti (esthnisch Täht). Diese Gottheiten stellte man sich als männliche Wesen vor, welche Frauen u. Kinder hatten. Die Sonne galt ihnen als eine eingehegte Feuermasse; deshalb auch Panu, der Gott des Feuers, für einen Sohn der Sonne angesehen wurde. Töchter dieser vier Gottheiten, die übrigens in prächtigen Höfen u. Gemächern wohnen, sind Päivätär, Kuutar, Otavatar u. Tähetär, die als junge u. schöne, im Weben ausnehmend geschickte Jungfrauen geschildert werden. Sonne, Mond u. Sternesind milde, wohlthuende Wesen u. werden oft angerufen, um den Sterblichen ihren Beistand zu leisten; auch wurde bei ihnen um verborgene Dinge angefragt. Auch Päivätar, Kuutar u. Otavatar. namentlich die beiden Ersten, wurden öfter angerufen. Wenn sich Sonne u. Mond verfinsterten, wurden diese Himmelskörper durch eine böse Macht vom Himmelsgewölbe entführt u. irgendwo eingesperrt od. versteckt. Eine andere Gottheit ist Koi, die Morgenröthe, welcher in der schönen esthnischen Mythe von Koit u. Ämmarik (Morgenröthe u. Abendröthe) die letztere Gottheit zur Seite steht. Die Luonnotarett waren drei Jungfrauen, die von Ukko geschaffen wurden, indem er seine Hände an den Knien rieb, u. aus deren herabträufelnder Milch das Eisen auf Erden entstand Vielleicht eine dieser[287] drei Töchter Ukko's od. wenigstens eine Dienerin desselben war Ilmatar, eine andere Luftgottheit. Über alle Dünste u. Nebel der Luft herrschte Uutar od. Terhenetär; Windgöttinnen sind Tuulen tytär u. bes. Etelätär (Göttin des Südwindes), welche u.a. auch als Wächterin der Heerden angerusen u. in diesem Falle auch Supetar genannt wird.

Der Beherrscher der Wasserwelt war Ahto od. Ahti; gleich den meisten andern mächtigen Göttern dachte man sich ihn als einen alten, ehrwürdigen Mann mit einem Grasbart u. Schaumgewand. Seine Schätze sind unermeßlich; nur selten gab er wieder, was er einmal in seine Gewalt bekommen hatte. An der Herrschaft über das Wasser u. dessen zahlreiche Bevölkerung nahm seine Gemahlin Wellamo Theil; ihre Wohnung hieß Ahtola. Die übrigen Wassergottheiten werden in den Runen unter dem Namen Ahtolaisel (d.i. Bewohner von Ahtola), Reen väki (Wasservolk), Wellamon väki (Wellamovolk), Akon lapset (Ahto's Kinder) zusammengefaßt. Zu letztern gehören Pikku mies der kleine Mann, Aallotar, die Wogengöttin, Kosken neiti, die Wasserfalljungfrau, Melatar, die Steuergöttin, Sotkotar, die Entengöttin etc. Alle diese Gottheiten waren edler, guter, menschenfreundlicher Natur u. wurden beim Fischfang, bei Wasserreisen u. andern Gelegenheiten angerufen. Sehr mächtige, dabei aber böse u. verderbliche Wesen sind Wesi-Hiisi, Turfo od. Turfas u. Wetehinen, eine Art von Wasserkobolden.

An der Spitze der Erdgottheiten steht Maan emo, die Erdenmutter, eine sehr mächtige Göttin, die angerufen wird, um den Schwachen u. Hülfsbedürftigen Stärke u. Kraft zu verleihen. Schutzgott der Acker, wie überhaupt Herr über die Bäume u. Gewächse, war Pellervoinen, auch Sampsa genannt. Andere verwandte Gottheiten waren Liekkiö, ein Waldgeist, der über Gras, Wurzeln u. Bäume herrschte, wie es scheint nur in Tawastland verehrt; Köndös, der Beschützer der Brennäcker; Rongoteus, welcher die Roggenernte begünstigte; Egres, Schutzgottheit für Erbsen, Bohnen, Rüben, Kohl, Hanf u. Lein: Wironkannas, der Beschützer des Haferfeldes.

An der Spitze der zahlreichen u. mächtigen Götterschaar des Waldes steht Tapio, auch Kuippana (d.i. Langhals) u. Hippa (d.i. Bischofsmütze) genannt, der als ein alter Mann mit dunkelbraunem Barte, mit einem hohen Hut aus Föhrennadeln u. einem Pelz aus Baummoos geschildert wird. Seine außerordentliche große Verehrung theilte er mit seiner Gattin, die am häufigsten Mieliikki genannt wird, aber auch unter dem Namen Mimerkki, Miiritär, Simanter, Hillitär vorkommt. Beide wohnen in dem Hofe od. der Burg Tapiola, od. Metsola (Waldheim), auch Honkela (Tannenheim), wo vorzugsweise von Mieliikki ihre reichen Schätze u. Vorräthe, zumal an Honig, sowie an den Thieren des Waldes u. Feldes lagen. Auch die zahmen Heerden standen unter dem Schutze des. Waldgottes, wenn auch Kekri insbesondere für das Wachsthum der Heer den sorgte. Tapio hat Söhne, Töchter, Diener u. Dienerinnen, die zusammen das Tapionkansa (Tapiovolk) bilden. Die Dienerinnen od. Luonuottaret (Jungfrauen) sind zahllos; wie überhaupt die dem Tapio u. seiner Gattin untergebenen Waldwesen meist weiblicher Natur waren. Männlich ist nur Nyyrikki od. Pinneys, der Sohn Tapio's, welcher den Jägern die Waldpfade finden lehrt u. das Vieh vor den Sümpfen bewahrt. Zu den weiblichen Untergebenen des Waldgottes gehört Tellervo od. Hillervo, gewöhnlich Tapio's Jungfrau (Tapion neiti) od. die Waldtochter (Metsän tyttö) benannt, welche die Heerde der Mielikki hütet; ferner Tuulikki, die Tochter Tapio's, welche dessen Heerden beschützt u. dem Jäger Beute zuführt; Metsänpiika, d.i. des Waldes Dienstmagd, ein kleines, von Honig lebendes Wesen, mit dem Beinamen Simasun (Honigmund), welche als Hirtin mit einer Flöte (Simapilli, d.i. Honigslö te) gedacht wird. Weiblich waren auch die dem Tapio untergebenen Schutzgottheiten für einzelne Bäume, wie Tuometar für die Traubenkirsche, Hongatar für die Tanne, Katajatar für den Wachholder, Pihlajatar für die Eberesche; sie wurden angerufen um Schutz für die weidenden Viehheerden u. Laub zum Futter. Andere Waldgottheiten waren noch: Käitös für die zahmen Viehheerden im Walde; Nyrkkes, die dem Jäger Eichhörnchen verleiht; Hittavainen, die über die Hafen waltet; Käreitär, die Spenderin dem Füchse. Über das Wesen anderer Waldgottheiten ist wenig bekannt. Jeder Gegenstand in der Natur hatte eine Schutzgottheit, Haltia, die als Schöpfer u. Erhalter desselben gedacht wurde; sie war nicht an das einzelne, endliche Individuum gebunden, sondern repräsentirte als selbständiges, freies, persönliches Wesen das ganze Geschlecht od. die Gattung. Doch wurden auch gewisse einzelne Bäume u. Haine wie Flüsse u. Berge für heilig gehalten u. verehrt. Ein böses, arglistiges, verderbenbringendes, zugleich aber auch starkes, mächtiges, schreckliches Waldwesen ist Hiisi, eine Art Teufel; mit seinem Namen wird geflucht. Der eigentliche Repräsentant des Bösen in seiner umfassendsten Bedeutung ist Lempo; andere böse Wesen wie Paha od. Paholainen (d.i. der Böse) u. Juutas (d.i. Judas) sind dem Christenthum, Piru u. Perkele der Mythologie der Lituslavischen Völker entlehnt. Die Ajatar pflegte die Jäger in die Irre zu führen; über die Natur der Horna od. Worna ist nichts bekannt. Dasselbe gilt von Kimmo od. Kammo, der über die Steine, sowie von Karilainen, der über die Klippen herrschte. Weisheit u. Gesetz, Tugend u. Gerechtigkeit haben bei den Finnen keinen Beschützer unter den Göttern gefunden; diese bekümmern sich nur um die zeitlichen Bedürfnisse des Menschen. Göttin der Liebe ist Sukkamieli; vielleicht gab es früher auch einen Liebesgott Namens Lempo. Gott des Schlafes ist Uni, der Träume Untamo. Munnu heilte Augenkrankheiten, die Göttin Lemmas Wunden u. linderte Schmerzen; die Suonetar spann Sehnen u. Adern u. wurde bei Verletzungen dieser Körpertheile angerufen. Die Sinettäret waren beim Färben, die Kanka hatteret beim Weben behülflich: auf der Reise wurde Matka-Teppo (der christliche Stephan) angerufen; verborgene Schätze wurden Aarni in Obhut gegeben.

Die meisten Finnischen Völker haben den Glauben an ein Fortleben jenseit des Grabes bewahrt: auch beehrten die alten Finnen ihre Todten mit Opfern u. Festen u. riefen sie um Hülfe u. um Beistand an. Die Geister der Verstorbenen werden mit verschiedenen Namen benannt, als Manalaisel, Männingäiset, Kööpelit, Keijuiset, Peijot; man glaubte,[288] daß dieselben aus verschiedenen Ursachen oft auf der Erde weilten u. dem Menschen Schaden zufügten. Ihr eigentlicher Wohnsitz war jedoch unter der Erde od. im Grabe; nach der einen in den Runen u. Sagen auftretenden Ansicht lebten sie ein Schattenleben im Grabe fort, nach der anderen wurden sie an einem bestimmten Orte unter der Erde, in Tuonela od. Manala versammelt. Die Geister der Verstorbenen waren vor gewissen Gottheiten abhängig; so herrschten vorzugsweise über die Gräber u. ihre Bewohner Kalma; als Beherrscher des Orcus tritt Tuoni od. Mana auf. Man dachte sich die Unterwelt fast eben so beschaffen, wie die Erde; doch Alles, was sie in ihrem Schoße barg, war von einer bösen, düsteren u. gefährlichen Art, die Naturgegenstände ebensowohl, wie die persönlichen Wesen. Tuoni ist eine strenge, unbeugsame Macht; man dachte sich denselben als einen alten Mann mit drei Fingern u. einem auf die Schultern herabhängenden Hute; seine Gattin Tuonen akka od. Tuonelan emäntä ist eine alte Frau mit hakigen Fingern u. verzerrtem Kinn, die ihre Gäste mit Schlangen u. Fröschen bewirthete. Zu der verabscheuungswerthen Götterschaar Tuonelas gehört auch der blutdürstige, raubgierige Sohn Tuonis mit seinen eisenspitzigen Hackensingern, sowie eine Anzahl von Töchtern, die den gemeinsamen Namen Tuonen tyttäret, Manutiaret, Kalman nejet führen. Unter denselben wird die widrige Tuonetar am häufigsten genannt; Loviatar ist die scheußlichste derselben. Eine dritte Tochter Kipu-tyttö (Krankheitstochter) ist die Beherrscherin der Krankheiten u. theilt diese Function mit der Kivutar od. Wammatar, der Göttin der Krankheiten u. Schmerzen (die durch Plagegeister entstehen). Obgleich man die Unterwelt außerordentlich fürchtete, wurden doch von Lebenden oft Reisen dahin angestellt, wie von Wäinämöinen.

Wie alle Altaischen Völker überhaupt, so machen insbesondere auch die Finnen einen Unterschied zwischen den eben erwähnten Göttern u. den Geistern od. Dämonen. Die Haltia, Tonttu, Maahisel, Kapeet, Männingäiset u. Para fügen den Menschen Gutes wie Böses zu. Die Tonttu, wie die Para skandinavischen Ursprungs, waren Hausgeister. die in den häuslichen Angelegenheiten Hülfe u. Beistand gewährten; der Para liefert seinem Besitzer stets Überfluß an Milch, Käse u. Butter; die Maahiset (Singular Maahinen) sind eine eigene Art Naturgeister, die sich in der Erde, unter Bäumen, Steinen u. Schwellen aufhalten, unsichtbar, aber unendlich klein u. von menschlicher Gestalt sind u. den germanischen Zwergen u. Erdmännchen gleichen. Die Haltia sind die Schutzgeister für Menschen wie für Naturgegenstände, als Haine, Quellen, Flüsse, Berge. Manche Krankheiten wurden von den Finnen für Dämonen böser Art gehalten. Einige derselben hatten Thiergestalt, wie Koi (der Fingerwurm), Hammas mato (der Zahnwurm), andere werden als menschliche Wesen geschildert. Letzteres gilt ausdrücklich von den neun Kindern, welche die vom Winde geschwängerte Lovialar hervorbrachte; nämlich Seitenstechen, Gicht, Schwindsucht, Geschwüre, Ausschlag, Pest etc.

Eine entschwundene goldene Zeit, in welcher Gottesfurcht u. Sittenreinheit herrschte, Reichthum u. Wohlstand verbreitet, Krankheiten unbekannt, die Menschen von außergewöhnlicher Stärke u. hoher Weisheit begabt waren, kannten auch die Finnen, deren große Helden in derselben lebten u. wirkten. Die Heroen der Finnen bilden eine Art Mittelstufe zwischen Göttern u. Menschen; Wäinämöinen u. Ilmarinen stammen von einer himmlischen Jungfrau, der Ilmatar; die gefeiertsten Localitäten der finnischen Heldensage, wie sie in den Runen vorliegt, sind Kajevala, die Heimath Wäinämöinens (s.d.), u. Pahlola, der nördliche, lappische Theil (s. Kalevala).

Allgemein bei den Finnen, wie bei den verwandten Völkern, ist die Verehrung von Bergen u. Felsen, sowie von Flüssen, Seen u. Quellen. Auch gab es heilige Bäume; noch heutzutage wird die Eberesche mit einer gewissen heiligen Scheu betrachtet. Dies galt auch von gewissen Steinen, die sie als Aufenthalt von Göttern u. Dämonen betrachteten. Von Thieren genossen außer den Bären auch verschiedene Vögel (der Adler, die Ente, der Kuckuck) sowie auch die Biene (Mehitäinen) ein gewisses Ansehen.

Den Hausgeistern wurde von allem Bier u. Brod die erste Gabe geopfert; neue Hausbewohner brachten ihnen Salz, Brod u. Bier; bei jedem Schmause legte man für sie etwas zurück. Gemeindeopfer wurden bei den vier großen Festen gebracht, zur Saatzeit, zur Ernte, wo ein seit dem Früjghre nicht geschorenes Lamm geopfert wurde, im Herbste u. zum Bärenfest; viele Gebräuche, die bei anderen Festen üblich waren, haben sich auch nach Einführung des Christenthums erhalten. Auch Menschenopfer wurden gebracht. Tempel u. Götterbilder hatten die Finnen nicht; in den skandinavischen Sagen wird ein Bild des Inmala in einer tempelartigen Umzäunung erwähnt, welches die Biarmier an den Ufern der Deoina besaßen. Vgl. Lencquist, De superstitione veterum Fennorum theoretica et practica, Åbo 1782; Ganander, Mythologia Fennion., Åbo 1789 (deutsch von Peterson in den Beiträgen zur Kenntniß der estnischen Sprache, Heft 14, Reval 1821); Castrén, Vorlesungen über die F. M., herausgeg. von Schiefner, Petersb. 1853.

Finnische Sprache u. Literatur. Die F. S. zu der Baltischen Gruppe der Finnischen Sprachfamilie u. mit dieser zu dem großen Altaischen Sprachstamme gehörig, ist nächst der Magyarischen die ausgebildetste u. litergrisch-cultivirteste der ganzen Gruppe Sie wird von etwa 11/2 Mill. Finnen im eigentlichen Finnland u. Theilen der angrenzenden russischen Gouvernements Petersburg, Olonez u. Twer, jedoch nur von dem Volke gesprochen, da im eigentlichen Finnland das Schwedische, in den russischen Gouvernements das Russische die Sprache der Regierung, sowie der Gebildeten ist. Früher war das Finnische weniger berücksichtigt; erst seit etwa zwei Jahrzehnten gibt sich das patriotische Streben kund, das Finnische nicht blos zu einer Literatursprache, sondern womöglich auch zur allgemeinen Landessprache zu erheben. Centralpunkt dieser national-finnischen Propaganda, sowie überhaupt des geistigen Lebens in Finnland, ist die Finnische Literaturgesellschaft, welche die bedeutendsten Geister des Landes umfaßt u. die Meinungen lenkt. Man ist nicht ohne Erfolg bemüht, die Sprödigkeit der Sprache zu überwinden u. dieselbe selbst für die wissenschaftliche Prosa u. moderne Poesie fähig zu machen. Die Dialekte des Finnischen sind noch wenig erforscht; im Allgemeinen unterscheidet man den östlichen od. Karelischen, den[289] alterthümlichsten, aber auch ungebildetsten von allen; ferner den südfinnischen (um Åbo u. Helsingfors), aus welchem sich vorzugsweise die Schriftsprache gebildet hat, u. den Osterbottnischen. Das Finnische wird mit deutschen od. lateinischen Buchstaben geschrieben, doch fehlt von den Consonanten c, f u. q, wogegen die Sprache reich an Diphthongen ist. Als einfache Vocale können gelten: a, ä, e, i, o, ö, u, y (spr. ü), welche zum Zeichen der Dehnung verdoppelt werden, sie werden in harte u. weiche eingetheilt; Diphthongen sind: ai, au, äi, äy, ei, eu, iu, oi, ou, öi, öy u. ui. Die weichen Consonanten b, d, g werden gewöhnlich hart ausgesprochen. Die Declination ist sehr reichhaltig u. auch schwierig; Casus sind 14: Nominativ, Genitiv (–n), Infinitiv (–a, –ta), Essiv od. Qualitiv (–na), Factiv od. Qualificativ (–ksi), Illiativ (–n), Allativ (–lle), Inessiv (– ssa), Adessiv (–lla), Elativ (– sta), Ablativ (– lda), Caritiv (–ta), Suffixiv (– ne), Adverbial (–in, –sti). Der Plural endigt im Nominativ auf t u. schiebt in den übrigen Casus i vor die Endung. Es gibt 2 Declinationen, je nachdem der Nom. auf einen Vocal, od. auf einen Consonanten endigt. Die Declination der Adjectiva ist im Wesentlichen de: der Substantiva gleich, der Comparativ endigt gus mbi, der Superlativ auf in. Die Zahlwörter sind 1 yksi, 2 kaksi, 3 kolme, 4 neljä, 5 wiisi, 6 kuusi, 7 seitzemän, 8 kahdeksan, 9 yhdeksän, 10 kymmenen, 100 sata. Die Pronomina minä ich, sinä du, hän er, me wir, te ihr, be sie, werden ziemlich regelmäßig declinirt. Die Possessiva werden durch Suffixe bezeichnet; z.B. von isä Vater, isäni mein Vater, isäs dein Vater, isänsä sein Vater, isämme unser Vater, isänne euer Vater, isänsänsä ihr Vater. Das Verbum hat 2 Numeri, 3 Personen, 2 einfache Tempora (Präsens u. Präteritum), 5 Modi (Indicativ, Imperativ, Conjunctiv, Infinitiv u. Participium), auch neben dem Activum ein Passivum, u. abgeleitete Formen für Factitiva, Iterativa u. dgl. In der negativen Conjugation wird die Negation slectirt, u. das Verbum bleibt unverändert: z.B. von, akastaa lieben, en rakasta ich liebe nicht, et rakasta du liebst nicht, ei rakasta er liebt nicht, emme rakasta wir lieben nicht, ette rakasta ihr liebt nicht, ei rakasta sie lieben nicht. Es gibt Postpositionen statt der Präpositionen. Sie nehmen theils den Nominativ, theils den Genitiv zu sich, u. die Pronomina werden ihnen suffigirt, z.B. kansansa mit ihm (von kansa). Für die Bildung abgeleiteter Wörter besitzt die F. S. einen großen Reichthum an Formen. Die Construction ist der deutschen u. lateinischen ziemlich gleich; die Negation steht stets zu Anfange des Satzes. Der Anfang des Vater-Unsers lautet: isä meidän, joka olet taiwaisa, pyhitetty olkon sinun nimes, d.h. Vater unser, welcher bist Himmeln- in, geheiligt sei dein Name- dein. Grammatiken lieferten Bhael, Åbo 1733; Strahlmann, Petersb. 1816; Inden, Wiborg 1818: Becker, Åbo 1824; Eurén, ebd. 1849, u. Renvall, ebd. 1840; die besten Wörterbücher Renvall, ebd. 1826, 2 Bde., u. Lönnrot, Helsingf. 1853; ein großes Wörterbuch wird von der Fmnischen Literaturgesellschaft bearbeitet.

Von hohem Werthe ist die nationale Finnische Literatur; die Finnen besitzen eine ungemein reiche u. schöne Volkspoesie, welche in neuerer Zeit nicht blos in der Heimath, sondern auch im Auslande, bes. in Deutschland, die verdiente Beachtung gefunden hat. Die zahlreichen Lieder od. Runen (finnisch Runot), welche unter dem Volke leben, kann man in mythische u. lyrische eintheilen; sie werden von eigenen Sängern (Runolainen) nach der Kantele, dem mit fünf Metallsaiten bespannten, nach der Sage vom Heros Wäinämöinen erfundenen Nationalinstrument gesungen. Auch Frauen traten als Dichterinnen auf. Außer diesen gibt es noch Zaubergesänge (Luwut), die aber nicht gesungen, sondern in feierlichem Tone langsam über dem Gegenstande, auf den sie wirken sollen, ausgesprochen werden. Die Verse der Runen bestehen aus zwei trochäischen Dipodien (– ◡ – ◡ | – ◡ – ◡). Als Reim herrscht in ihnen die Alliteration: in jedem Verse müssen wenigstens zwei Wörter alliteriren, sowie in den Anfangsreimen nicht blos die Anfangsbuchstaben eines Wortes, sondern auch die nachfolgenden Vocale übereinstimmen. Man kannte die finnische Volkspoesie nur fragmentarisch, aus den einzelnen Liedern, welche von Schröter, Åbo 1819, Topelius, ebd. 1822–36, 3 Bde., R. v. Becker, Lönnrot bekannt gemacht worden waren, bis Letzterer sich das große Verdienst erwarb, die aufgesammelten Bruchstücke zu einem Ganzen zu vereinigen u. 1835 das nationale Epos Kalevala (s.d.) zu veröffentlichen. Seit dieser Zeit ließ es sich die Finnische Literaturgesellschaft (Finska Litteratur-Sälskap,) welche seit 1841 das Jahrbuch Suomi herausgiebt, angelegen sein, eine umfassendere Sammlung der epischen Runen in dem verschiedensten Gegenden Finnlands zu veranstalten, als Ergebniß erschien 1849 die zweite Ausgabe jenes Epos, welche von 12,000 Versen auf 22,790 angewachsen war. Gleichzeitig war man bemüht, auch die übrigen Reste volksthümlicher Dichtung aufzusammeln. So gab zunächst Lönnrot noch heraus: Kanteletar, Helsingf. 1840, 3 Bde., 592 alte lyrische Lieder u. 60 alte Balladen enthaltend: Suomen kansan sanalaskuja, 1842, 7077 Sprüchwörter; Suomen kansan arwoituksia, 1844, 2. Aufl. 1851, 2188 Räthsel; von Rudbäk wird eine Sammlung von Volkssagen (Suomen kansan satuja, Helsingf. 1854 etc.) redigirt. Unter den Volksdichtern aus neuerer Zeit ist der Bauer Paul Korhonen am berühmtesten geworden, seine Lieder hat Lönnrot, Helsingf. 1848 herausgegeben. Mehrere in Finnland heimische Schweden haben sich auch in F-r S. als Dichter versucht, wie denn auch verschiedene schwedische Dichtungen, z.B. von Runeberg, u. andere klassische (Homer) u. neuere abendländische Poesien ins Finnische übertragen worden sind. Die Prosa-literatur besteht fast nur in religiösen u. anderen, für das Volk bestimmten Schriften. Das Neue Testament wurde bereits von Mich. Agricola übersetzt, Stockh. 1548; von demselben erschien auch ein Theil des Alten Testamentes 1552, doch eine vollständige Finnische Bibel erst 1642. Ein vollständiges Verzeichniß aller in Finnland gedruckten finnischen Bücher wurde unter Benutzung der Bibliothek des finnischen Sammlers Pohto zusammengestellt, Helsingf. 1854; eine Bibliographia hodierna Feniae gab Lillja heraus, Åbo 1846, Fortsetzung 1849.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 6. Altenburg 1858, S. 287-290.
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