Marokko [2]

[337] Marokko (von den Arabern Maghrib el Aksa, »der äußerste Westen«, oder El Gharb el Djoani genannt), Sultanat im NW. Afrikas, zwischen 27–36° nördl. Br. und 0–13° östl. L., im N. vom Mittelländischen Meer, im W. vom Atlantischen Ozean, im O. von Algerien und im S. von der Sahara begrenzt (s. Karte »Algerien, Marokko und Tunis«, im 1. Bd.). Nach der letzten Richtung hin ist die Grenze aber ganz unbestimmt. Von dem ganzen auf etwa 800,000 qkm berechneten Gebiet sind aber nur 456,000 qkm dem Sultan von M. wirklich untertan, nämlich das Beled el MachzenLand der Konskription«) genannte Gebiet, bestehend aus dem ehemaligen Königreich Fes mit Tanger und Tetuan, dem eigentlichen Königreich M., dem Sus an der Küste südlich vom Kap Ghir, die Oasen Tafilelt und Figig und das Land Udjda im NO. Dagegen heißen Beled es Siba die Regionen, deren verschiedene Stämme Steuern und Militärdienst verweigern und nur gelegentlich unterworfen werden: das Er Rif am Mittelmeer von Melilla bis Tetuan, die zentralen Teile des Atlas und im S. von Udjda das Territorium, dessen Mittelpunkt der Schott Tigri bildet. Tidikelt, Tuat, Gurara und andre Oasen der Sahara erkennen höchstens die religiöse Oberhoheit des Sultans an (vgl. Machzen).

[Oberflächengestaltung.] M. hat 1750 km Küstenlänge; 425 km am Mittelmeer, 60 km an der Meerenge von Gibraltar und 1200–1300 km am Atlantischen Ozean. Die Mittelmeerküste, steil und schutzlos, besitzt in Tanger an der Meerenge eine mittelmäßige Reede und als Inseln die kahlen Felsen Islas Chafarinas, Alhucemas, Velez de la Gomera, Peregil. Die niedrige, infellose atlantische Küste ist ebenso ungünstig für die Schiffahrt, zum Teil infolge der anhaltenden heftigen Winde. Die Häfen von Araïsch und Rabat sind Flußmündungen, die übrigen Landungsplätze offene Reeden. Nach Th. Fischer zerfällt[337] M. in vier parallel laufende Gürtel: Gebirgsland des Atlas, Zone der subatlantischen Berieselungsoasen (Hochebene), Steppe und Kulturland (»Tirs«, Schwarzerde). Am Mittelmeer erhebt sich das 60 km breite Atlasvorland, ein Schollenland (Beni Hassan 2010 m), an dies schließen sich südlich weitere Höhenzüge bis zur mächtigen Gebirgskette des Großen Atlas (s. Atlas), der sich, ein altes Faltenland, vom Kap Ghir in nordöstlicher Richtung bis zur algerischen Grenze hinzieht bei einer mittlern Höhe von 3650 m und Pässen von 1100–1500 m, die durch einzelne Gipfel noch um 150–240 m überragt werden. Südlich des stellenweise nur 30 km breiten Gebirges zieht parallel der 2000 m hohe Antiatlas, dann folgt die Wüstenregion. Der westliche Teil gegen den Atlantischen Ozean (190,000 qkm) ist ebenes, fruchtbares Land, während der Atlas mit den Hochsteppen etwa 70,000 qkm bedeckt. Über den geologischen Bau von M. s. die Artikel »Afrika«, S. 136, und »Atlas«. Das Mineralreich liefert Kupfererze, Eisen (besonders im Atlas) Silber, Waschgold (bei Sus), Antimon, Blei, auch Schwefel, Steinsalz und Salpeter. Im Rif finden sich Bergkristalle und Amethyste. Die nur periodisch sehr wasserreichen, zuweilen ganz trocknen Flüsse nehmen mit der Annäherung aus Meer an Größe ab, führen insgesamt nur 225 cbm Wasser in der Sekunde dem Meere zu, haben Barren an ihren Mündungen und sind nicht schiffbar. In den Atlantischen Ozean münden der Bu Regreg, der fischreiche Um-er-Rbia (»Mutter der Kräuter«), der Tensist (660 km) und Sus, in das Mittelmeer der Muluja (520 km). Die Flüsse, die am Südabhang des Atlas entspringen, versiegen meist bald oder werden Wadis (Draa, Nun, Sus, Sussana); einzelne enden in Oasen. Die Wadis Tafilelt, Ghir und Saura verlieren sich in den Salzseen der marokkanischen Sahara. Von Seen sind nur nennenswert die Strandseen Laguna Puerto Nuevo an der mittelländischen, und die Merdja Ras-e-Dura an der atlantischen Küste. Das Klima, in den Küstenstrichen angenehm und beständig, an der atlantischen Küste infolge des kalten Auftriebwassers oft nebelig, im Innern drückend heiß, zum Teil heftigen Regen ausgesetzt, ist noch wenig bekannt. Im Gebirge bleiben die höchsten Kuppen das ganze Jahr mit Schnee bedeckt; südlich vom Atlas beginnt das heiße und trockne Wüstenklima mit gelegentlichen, wolkenbruchartigen Niederschlägen. Mogador: mittlere Jahrestemperatur 19°, Januar 16,4°, April 19,7°, Juli 22,4°, Oktober 20,9°; mittlere Jahresextreme 27,8° und 11,9°. Kap Juby: 18,2° im Jahresmittel. In der Stadt M. (490 m) betragen dagegen die Extreme 39° und -1,1°, das Jahresmittel 21–22°. Winterregen sind vorherrschend. Der Regenfall beträgt in Tanger 815 mm im Jahr. Die Flora, nur lückenhaft bekannt, ist der spanischen am nächsten verwandt, besonders durch die Retembüsche (Retama monosperma). Die gebirgigen Teile des Landes bedecken neben Palmen Tamarinden, Feigenbäume und Mimosen, in größern Höhen neben immergrünen Eichen, Zedern, Fichten und Tannen; doch wird die Waldverwüstung, besonders in dem Hochgebirge, noch immer fortgesetzt. Als Vertreter tropischer Familien reicht die dornige Sapotazee Argania wälderbildend bis an den Atlantischen Ozean. Die Droserazee Drosophyllum, die Leguminosengattung Pterospartum und die Labiate Cleonia erinnern an Spanien. Die Gattung Apteranthes, eine sukkulente Asklepiadazee, versetzt nach M. eine Pflanzenform des südlichen Afrika, mit dessen Stapelien sie verwandt ist. Der Hohe und Kleine Atlas zeigen vier eigentümliche Bäume: die Konifere Callitris quadrivalvis, zu einer sonst nur noch in Australien vertretenen Gattung gehörig. die Esche Fraxinus dimorpha, die Terebinthazee Pistacia atlantica und eine Piree, Pirus longipes. Das dazwischen liegende Steppengebiet zeichnet sich durch hohe, harte Gräser aus, wie Avena filifolia und A. bromoides, Festuca granatensis und Stipa tenacissima, das Espartogras (Halfa, in Algerien technisch verwendet). An Kulturgewächsen finden sich Dattelpalmen, Bananen, Orangen, Zitronen, Granaten und Mandeln. Die Tierwelt von M., zur mittelländischen Subregion der paläarktischen Region gehörig, ähnelt der Algeriens; die größern Sänger (Löwen, Panther etc.) sind jetzt selten; häufig wilde Schweine. Im S. von M. treten Antilopen und Strauße auf, als Landplage Heuschrecken. Pferde und Maultiere sind vorzüglich, Kamele gibt es viel im S., dazu große Herden von Schafen, Ziegen und Rindern; nur die Ausfuhr der letztern ist gestattet. Fische sind zahlreich in den Flüssen wie im Meer; ebenso ist die Insektenwelt reich vertreten.

[Bevölkerung.] Die Zahl der Bewohner wurde von Tissot auf 12, von Rohlfs auf 6,5, von Lenz auf 8 Mill., nach den neuesten Berechnungen auf 7 Mill. geschätzt. Davon zählen die Berber (s. d.), die in Amazirghen, Schelluh (Schloh) und Kabylen zerfallen, gegen 4 Mill., die als Eroberer ins Land gekommenen Araber (s. Tafel »Afrikanische Völker I«, Fig. 3) nebst den ihnen eng verwandten, aus Spanien vertriebenen Mauren gegen 3 Mill., die aus Spanien, Portugal, Frankreich, England und Holland im 13.–15. Jahrh. vertriebenen Juden 100–150,000, die Neger (größtenteils Sklaven, die den Typus der Bevölkerung stark beeinflussen) 200,000, die Europäer, meist Spanier und Franzosen in den Hafenplätzen, 4000–5000. Die Berber bewohnen in zwei Stämmen den Atlas und die südlichen Abhänge desselben und sind nur dem Namen nach dem Sultan untertan. Die Araber (bisher ziemlich rein erhalten) sind Nomaden, die Mauren dagegen in den Städten eine veredeltere Rasse, am meisten der Zivilisation zugänglich (Schriftgelehrte, Richter, Paschas, Notare, überhaupt die Beamten, auch Kaufleute). Die Juden, meist den reichern Gesellschaftsschichten der Hauptstädte, besonders der Küstenstädte, angehörend, sind Bankiers, Händler und Handwerker, dabei aber verachtet und beständig verfolgt. Eigentliche Landessprache ist das Arabische, die Stämme des Atlas und des Südens sprechen das Schlöch, die Neger das Guenagui, die Juden unter sich Hebräisch. Religion ist der Islam; der Großscherif von Fes (zugleich Großmeister des mächtigen Ordens von Mulei Tajeb) hat eine Macht, die der des Sultans nahekommt und sich bis Ägypten erstreckt.

[Erwerbszweige.] Der für den Ackerbau vorzügliche Boden wird infolge der Bedrückungen und Erpressungen der Beamten sowie des erst in den letzten Jahren zeitweilig aufgehobenen Ausfuhrverbots von Weizen, Gerste, Mais und Durra sehr lässig und sehr primitiv betrieben, und zwar hauptsächlich von den Berbern, die auch Händler und Kaufleute sind. Indes versteht man sich vortrefflich auf künstliche Bewässerung. Hauptkulturen sind Bohnen, Erbsen, Linsen, Gerste, Fenchel, Koriander, Datteln, Kanariensamen, Kümmel. Südfrüchte aller Art gedeihen vorzüglich, auch Wein und Öl. Mandeln und Datteln bilden einen bedeutenden Ausfuhrartikel. Die Viehzucht, von den Arabern betrieben, gleichfalls[338] auf sehr niedriger Stufe, trotz günstiger Bedingungen, zählt etwa 500,000 Pferde, 4 Mill. Maulesel und Esel, 500,000 Kamele, 5–6 Mill. Rinder, 40 Mill. (?) Schafe und 10–12 Mill. Ziegen. Bergbau wird, da das Suchen nach Mineralien verboten ist, nur von halb unabhängigen Völkern des Atlas auf das dort sehr häufige Eisen betrieben; eine Kupfergrube wurde früher für den Sultan im Sus ausgebeutet. Das Metall kommt an mehreren Stellen vor, ebenso wie Gold, Antimon, Schwefel, silberhaltiges Blei, Steinsalz, Kohle, Töpfererde, Gips, Marmor, Ocker, Amethyste etc. Von den Erzeugnissen der zum Teil geschmackvollen und originellen, aber seit Jahrhunderten stationär gebliebenen Industrie erfreuen sich Seiden- und Wollgewebe, Teppiche, Stickereien, Leder- und Töpferarbeiten, Waffen auch im Ausland eines guten Rufes. Mit Europa ist der Handel über die acht Häfen: Casablanca, Araisch, Masagan, Mogador, Rabat, Saffi, Tanger und Tetuan freigegeben, die Karawanen nach dem Sudân gehen besonders von Fes aus. Doch wird er sehr erschwert durch das bestehende Ausfuhrverbot gegen eine Menge von Gegenständen. Über die genannten Häfen betrug 1902 die Einfuhr 43 Mill., die Ausfuhr 32 Mill. Mk. Die Einfuhr besteht namentlich in Baumwolle und Baumwollenstoffen, Zucker, Eßwaren, Tee, Seide, Tuch, Eisen und Eisenwaren, Porzellan- und Glaswaren, Wein und Spiritus, Petroleum, Tabak etc., die Ausfuhr in Wolle, Ochsen, Häuten und Fellen, Bohnen, Linsen, Erbsen, Mandeln, Gummi, Wachs, Elfenbein und Straußfedern (aus dem Sudân), Olivenöl, Pantoffeln, Datteln.

Der Handel hat in den letzten Jahren ganz außerordentlich zugenommen, namentlich der mit Deutschland, was besonders der Errichtung einer deutschen Dampferlinie zwischen Hamburg und Tanger (Atlaslinie) zu danken ist. In die oben genannten Häfen liefen 1900 Schiffe mit etwas über 1 Mill. Reg.-Ton. ein. Die Verkehrsmittel im Innern sind sehr schlecht; Eisenbahnen gibt es nicht, ebensowenig fahrbare Straßen; die Warenbeförderung erfolgt durch Lasttiere, im Süden Kamele, im Norden Maultiere, und die einzige für diesen Zweck leidliche Straße ist die von Fes nach Mekines. Postämter (M. gehört dem Weltpostverein nicht an) sind in Tanger unter Kontrolle von England, Frankreich, Deutschland und Spanien errichtet; Botenpost besteht zwischen Tanger und Mogador sowie nach Fes und Alkazar, Tetuan und den Küstenstädten Rabat, Araisch, Casablanca, Saffi, Masagan, ebenso zwischen Araïsch und Alkazar, Masagan und Marokko sowie Fes und Mekines. Ein Kabel verbindet Tanger mit Gibraltar.

Münzwesen: Nachdem die Prägung von Goldmünzen, worunter der Bendoki oder Butki = 65 Ockiat Silber rund 81/2 Mark wert, um 1855 und die von Silbermünzen etwas später aufgehört hatte, bildeten schlechte Kupfer- und fast sechseckige Messingmünzen von 3,63 g Sollgewicht des Fels oder der Delila die eigentliche Währung, neben der spanische 5 Pesetas-Stücke und andre Münzen der Mittelmeerstaaten reichlich umliefen. 1881 ward Silberwährung mit dem Mitskal von 29,116 g 9/10 sein zu 10 Okie oder Ukie = 4,697 Mk. Wert der Talerwährung eingeführt und seit 1891 in Paris und Berlin Scheidemünzen zu 5,21/2, 1 und 1/2 Okia Schraja von 835 Tausendteilen Feinheit angefertigt (die Okia oder Unze = 0,438 Mk., aber wie 1/2 Frank gerechnet). Schon 1902 erfolgte eine Wertverminderung: Währungsgeld ist der Piaster oder Rial von 10 Dirhem gleich dem Fünffrankstück; aus Silber gibt es Scheidemünzen zu 1/2, 1/4 Rial, 1 und 1/2 Dirhem, aus Bronze zu 10 Centimes oder Musunas (1/2 Dirhem), 5,2 und 1 Centime. Maße und Gewichte: Als Zeugmaß dienen das englische Yard und das Meter, im Verkehr der Mauren mit Spaniern der Dhra (Codo) von 8 Tomin = 57,1 cm. Das Getreidemaß Saah von 4 Muhd ist örtlich verschieden groß, die Kula für Öl in Tanger = 24,035 Lit., sonst = 15,155 Lit. Ein gewöhnlicher Kintâr, neben dem noch andre Zentnergewichte vorkommen, = 100 Artal, = 50,8 kg; aber der R'tal oder Rattl = 14 Uckie enthält in den südwestlichen Häfen 540 und in den nördlichen für Einfuhrartikel 508 g, für Landeserzeugnisse das 11/2fache.

Die Staatsform ist orientalisch-despotisch. Der Sultan, Emir el Mumenin (»Fürst der Gläubigen«), ist unumschränkter Herr. Neben den Beamten für den Hofhaushalt existieren solche für die allgemeinen Angelegenheiten. Zu letztern gehört der fast allmächtige Großwesir, zugleich Minister für auswärtige Angelegenheiten, Krieg und Finanzen. In Tanger, wo die diplomatischen Vertreter der fremden Mächte residieren müssen, befindet sich ein Vertreter des Sultans für auswärtige Angelegenheiten. Ehemals eingeteilt in die Königreiche Fes und M., bestehen jetzt nur noch die gleichnamigen Hauptstädte als Residenzen des Sultans. Das Reich wird nach Lenz eingeteilt in 44 Provinzen (35 nördlich, 9 südlich vom Atlas). Der Koran ist das einzige anerkannte Gesetzbuch, und das Zeugnis eines Christen oder Juden gilt gegenüber einem Mohammedaner nicht. Daher entscheiden die Konsuln bei Streitigkeiten zwischen ihren Staatsangehörigen und Eingebornen. Den obersten Richter, Kadi el Dschemma, ernennt der Sultan, auch die 20 Kadis der Provinzen; die halb unabhängigen Stämme haben teils vom Sultan eingesetzte, teils selbst gewählte Scheichs. An Städten ist M. verhältnismäßig nicht arm: Fes hat etwa 140,000, Marokko 80,000, Tanger 20,000 Einw.; außerdem kommen die Vertragshäfen (s. oben) in Betracht und die Presidios (s. d., vgl. Spanien). Über die neuesten Versuche Frankreichs, M. in seine Interessensphäre zu ziehen, s. unten (S. 342). Zur Erforschung des Landes hat sich in Paris 1904 das Comité du Maroc gebildet.

Über die Finanzen gibt es nur Schätzungen. Nach denen des deutschen Ministerresidenten Wever erreichen die Einnahmen gegen 10 Mill., die Ausgaben 4 Mill. Mk., so daß dem Sultan neben seinem schon in das Budget eingestellten Einkommen jährlich etwa 6 Mill. Mk. übrigbleiben, ungerechnet die durch Erpressung von Geschenken, Konfiskationen etc. gewonnenen Reichtümer.

Heerwesen. Die Landmacht besteht aus: 1) den Majaznias, einer Art Kriegerkaste, sie stellen die Hauptwaffe, die Kavallerie, auch die Leibwache des Sultans, die Polizei- und Gendarmerietruppe; 2) den Askars oder der Söldnertruppe, die nach Bedürfnis ausgehoben werden. Sie bilden die Infanterie, die ganz in den Hintergrund tritt; 3) den Nabais, Landsturm, welcher der Zahl nach den Hauptteil des Heeres bildet. Bei den Askars sind die einzelnen Stämme zu Bataillonen vereinigt, sonst fehlt eine feste Organisation. Die Ausbildung ist minderwertig. Trotz guter Anlagen des Mannes sind die Leistungen der Truppe wegen fehlender Disziplin mangelhaft, nur religiöse Vorstellungen halten sie zusammen. Bewaffnung: Hinterlader nach verschiedenen ältern Systemen, doch kommen auch noch Steinschlösser vor. Die Artillerie führt das verschiedenste [339] Material vom glatten Geschütz bis zu Canet- und Pompomgeschützen, Mitrailleusen und 15 cm-Mörsern. Das Küstenartillerie-Material ist sehr vernachlässigt; 2 starke Bataillone Feldartillerie sind vorhanden. Die Angaben über Kriegsstärken sind sehr unsicher, der Sultan verfügt gegenwärtig nur über 10,000 Mann. M. stellte in den letzten Feldzügen den europäischen Truppen nie mehr als 40–50,000 Mann entgegen. Eine Kriegsflotte besitzt der im 16. und 17. Jahrh. den christlichen Mächten, insbes. Spanien, durch seine Piratenschiffe furchtbare »Barbareskenstaat« (s. Berberei) längst nicht mehr, das letzte Kriegsschiff des Sultans liegt unbrauchbar im Hafen von Araïsch. Jetzt besitzt der Sultan nur noch einige Küstenkauffahrer, auch die berüchtigten Piraten des Rif haben sich seit dem Kriege mit Spanien 1896 zurückgezogen. – Das Wappen (s. Tafel »Wappen IV«, Fig. 7) zeigt in Grün drei silberne Halbmonde; die Flagge ist rot (s. Tafel »Flaggen I«).

[Geschichte.] Die Geschichte Marokkos ist in älterer Zeit mit der der Berberei (s. d.) verbunden. Es hieß ursprünglich Mauretanien (s. d.) und stand unter eignen Königen. 42 n. Chr. wurde es von den Römern ihrem Reich einverleibt und in zwei Provinzen, Mauretania Tingitana im Westen (69 n. Chr. mit Spanien vereinigt) und Mauretania Caesariensis im Osten, geteilt. Nach der kurzen Herrschaft der Wandalen (429–534) und des oströmischen Reiches (bis Ende des 7. Jahrh.) kam M. unter die Herrschaft der Araber, von denen es sich jedoch schon 739 wieder befreite. Doch 789 machten sich die Edrisiden zu Herrschern von M. (793 Gründung von Fes), wurden aber 986 von den Fatimiden unterworfen. Gegen diese erhoben sich wieder die Zeiriden, bis der von dem muslimischen Glaubenseiferer Abdallah ibn-Jasin (gest. 1059) eingesetzte Abu Bekr 1062 M. gründete und sein Nachfolger Jusuf ibn Taschfin, der sogar mit Papst Gregor VII. in diplomatischem Verkehr stand, die Herrschaft der Almoraviden (s. d.) erweiterte. An ihre Stelle traten 1147 die Almohaden, und seit 1269 die Meriniden (s. d.) bis zur Mitte des 15. Jahrh. 1509 kam an Stelle der Wattâsiden die sa'ditische Dynastie der ihren Ursprung vom Propheten (durch Abkunft aus dem Hause der Edrisiden, frühern Fürsten von Fes) ableitenden Scherifen auf, die sich bis 1654 hielt (Näheres darüber in der »Genealogia del serenissimo D. Filippo d'Africa, principe di Fessa e di Marocco«, Rom 1665). Trotz der innern Thronstreitigkeiten erlangte M. unter ihr gegen das Ende des 16. Jahrh. seine größte Ausdehnung, indem es den westlichen Teil von Algerien umfaßte und im S. bis zum Sudân reichte. Damals wurden auch die Portugiesen aus ihren Besitzungen vertrieben und König Sebastian bei Alkazar (oder Machâzin; 4. Aug. 1578) geschlagen. Seeräuberei wurde um diese Zeit selbst gegen die größern Mächte verübt. Nach dem Tode Al-Mançurs, des mächtigsten der Scherifen (1603), entstand ein Bruderkrieg unter seinen Söhnen (mit Abu Faris oder Buferes unterhandelte 1604 der englische Abenteurer Anthony Sherley im Namen Kaiser Rudolfs 11.), bis der älteste, Mulei Zidan, König von Fes, auch die Herrschaft von M. wiedererlangte. Unter ihm kamen die 1610 aus Spanien vertriebenen Mauren nach M. Mit dem Sohne von Mulei es-Scherif, einem südmarokkanischen, dem Tafilelt entstammenden Sprößling aus dem Hause des Propheten, kam 1667 eine Seitenlinie der Scherifen, die Dynastie der Aliden, Fileli oder Hoseini, auf den Thron. Ein Handelsvertrag mit Frankreich bedeutete für M. die Unabhängigkeit. Mulei Arschids Bruder, Mulei Ismail (1672–1727), erwarb sich den Ruf eines der grausamsten Tyrannen; gegen 5000 Menschen richtete er eigenhändig hin, zum Teil unter den ausgesuchtesten Martern. Über die Episode seiner Liebe zur Prinzessin Conti, einer Tochter Ludwigs XIV. und der Lavallière, vgl. die »Relation historique« von Freschot (Köln 1700). Nach seinem Tode stritt 1727–30 sein Sohn Ahmed el-Dehebi, schließlich erfolgreich, mit seinem Bruder Mulei Abdallah um die Thronfolge, starb jedoch schon 1729. Im J. 1757 folgte Mulei Sidi Mohammed, dessen Regierung sich durch Milde und das Bestreben, europäischer Kultur Eingang zu verschaffen, auszeichnete. Nach seinem Tode (1789) entstanden neue Kriege zwischen seinen Söhnen, bis sich endlich Mulei Yezid behauptete, dem 1794 sein jüngerer Bruder, Mulei Soliman, in der Regierung folgte. Dieser schaffte 1816 die Christensklaven ab, schritt 1817 gegen die Seeräuberei ein und trat mit den europäischen Mächten, namentlich mit Frankreich, in diplomatischen Verkehr. 1810 war Sidi Hescham von M. abgefallen.

Auf Mulei Soliman folgte 1822 der älteste Sohn seines Bruders Mulei Hescham, Mulei Abder-Rahmân. Dieser trat die Regierung unter ungünstigen Umständen an. Im Innern herrschten Aufstände gegen die weltliche Herrschaft des Sultans, religiöser Fanatismus und Haß gegen die Fremden. Handel und Verkehr lagen danieder. 1825 wurde die Westküste Marokkos durch Österreich und England, die sich beschwert fühlten, blockiert. Die Besitznahme Algeriens durch die Franzosen verwickelte M. in Konflikte mit Frankreich; die fanatisch muslimische Bevölkerung gewährte Abd el Kader Zuflucht und zwang den Sultan 1844, jenem 15,000 Mann zu Hilfe zu schicken, welche die Franzosen im Juni unversehens angriffen, aber zurückgeschlagen wurden. Nach Ablehnung des französischen Ultimatums bombardierte die französische Flotte unter dem Prinzen von Joinville im August Tanger und Mogador. Am 14. Aug. siegten die Franzosen unter Bugeaud über ein großes marokkanisches Heer unter Sidi Mohammed, einem Sohn des Sultans, beim Fluß Isly; das ganze Lager fiel in die Hände der Sieger. Auf Veranlassung Englands bot endlich der Sultan von M. Frankreich den Frieden an, der am 10. Sept. in Tanger zustande kam. Als Abd el Kader 1845 die algerischen Stämme nach M. übersiedeln und durch sie dies Land von neuem zum Kriege gegen Frankreich nötigen wollte, rief M. die Hilfe Frankreichs gegen ihn an, worauf dieses 1847 dem Sultan zur Unterwerfung seiner Untertanen verhalf und Abd el Kader 22. Dez. zur Ergebung zwang. Doch erneuerten sich die Konflikte mit Frankreich (1851 Beschießung von Saleh durch ein französisches Geschwader) und andern Mächten fortwährend, da die Regierung der Macht ermangelte, ihre Untertanen im Zaum zu halten und an Mißhandlungen der Fremden zu hindern, zumal die Regierungstruppen fast unaufhörlich mit dem Eintreiben der Abgaben beschäftigt sind. Im August 1856 wurde die Bemannung der preußischen Korvette Danzig unter dem Befehl des Prinzen Adalbert an der Rifküste von den wilden Bewohnern aus einem Hinterhalt mit Gewehrschüssen empfangen und mußte sich mit einem Verlust von 7 Toten und 18 Verwundeten zurückziehen.

Nachdem Abd er-Rahmân 1858 noch eine bedeutende Empörung unterdrückt hatte, starb er im August 1859 und hatte seinen ältesten Sohn, Sidi [340] Mohammed, zum Nachfolger. Nur durch blutige Kämpfe vermochte sich dieser gegen seine vielen Nebenbuhler zu behaupten. Diese Unruhen sich zunutze machend, unternahmen die Rifbewohner im September Einfälle in die spanischen Besitzungen auf Nordafrika, wurden aber mit Verlust zurückgeschlagen. Spanien verlangte nun von der marokkanischen Regierung als Genugtuung für Unbilden und als Bürgschaft für die Sicherheit seiner afrikanischen Besitzungen die Abtretung eines Gebietes. Da die Unterhandlungen ergebnislos verliefen, erklärte Spanien 22. Okt. 1859 an M. den Krieg. Nach vielen kleinen, aber sehr blutigen Gefechten besetzten, während die Franzosen den Hafeneingang von Tetuan beschossen, die Spanier 5. Febr. 1860 die Stadt, und nach einer 23. März westlich von Tetuan erlittenen entscheidenden Niederlage baten die Marokkaner um Waffenstillstand. Der Friede van Tetuan (26. April 1860) bestimmte, daß M. an Spanien eine Entschädigung von 20 Mill. Piaster zahlen und bis zur Erlegung dieser Summe die Stadt Tetuan den Spaniern überlassen mußte. Vgl. E. Schlagintweit, Der spanischmarokkanische Krieg 1859 und 1860 (Leipz. 1863); Goeben, Reise- und Lagerbriefe aus Spanien und vom spanischen Heer in M. (Hannov. 1863–64). Diesem Frieden folgte 20. Nov. 1861 ein Handelsvertrag. 1870 züchtigten 3000 Franzosen mehrere Grenzstämme von Oran. 1873 starb Sidi Mohammed, und ihm folgte 25. Sept. sein Sohn Mulei Hassan, der wiederholt durch Gesandtschaften freundschaftliche Beziehungen zu den europäischen Mächten (seit 1873 deutsches Konsulat in Tanger) anknüpfte, dadurch aber Unruhen in seinem Reich erregte, ohne daß doch der öffentlichen Aussaugung gesteuert und Reformen angebahnt worden wären. Das Schutzrecht der europäischen Mächte in M. wurde 3. Juli 1880 auf einer Konferenz zu Madrid geregelt. Eine Demonstration von französischen, englischen, italienischen und spanischen Kriegsschiffen, die 1891 durch einen Aufruhr in Tanger veranlaßt war, wurde durch M. begütigt. 1893 kam es infolge von Gewalttätigkeiten der Rifioten bei Melilla zu einem neuen Konflikt mit Spanien, der durch Zahlung von 20 Mill. Pesetas und Bestrafung der Rifioten 1894 beigelegt wurde.

Mulei Hassan starb plötzlich 6. Juni 1894; er hatte seinen 16jährigen Lieblingssohn Abdul-Asis zum Nachfolger bestimmt, der von den Truppen zum Sultan ausgerufen wurde, dem aber die unbotmäßige Bevölkerung durch Gewalttaten an Europäern viele Schwierigkeiten bereitete. So geriet er durch Übergriffe von Rifpiraten, die 1896 das Erscheinen eines französischen Torpedobootzerstörers vor Tanger und 1897 eine Gesamtkundgebung der europäischen Mächte (unter Mitwirkung einer deutschen Fregatte) hervorriefen, in schwere Verlegenheiten. Unterm 27. Juni 1900 erlangte Spanien ein Abkommen über die Abgrenzung des Munigebiets. Anderseits wird die Unabhängigkeit Marokkos durch die Eifersucht der Mächte geschützt. Zunächst schien es so, als ob England den Besitz der Küstengebiete von Ceuta erstrebe, während sich Frankreich seiner Sudânpolitik wegen mehr mit den Oasen des Hinterlandes beschäftigte. Ein im J. 1900 gegen die Südoasen unternommener Feldzug mußte infolge ungünstiger Witterungsverhältnisse abgebrochen werden; um so bemerkenswertere Anstrengungen machte Frankreich 1901. General Servière nahm 1. März Ksour el-Kebir, die Hauptoase des Salzbeckens von Timmimun, und General Risbourg schloß mit dem Oberhaupte von Zaonjo Kersas am Oued Saoura (West-Tuat) einen Vertrag ab. Daraufhin wurde im April der franzosenfreundliche Großwesir Hadschi Muktar durch den Kriegsminister Kaïd M'heddi el-M'nebbi ersetzt, im Mai der Vertreter des Auswärtigen Mohammed el-Tores aus Tanger nach Marrakesch berufen und das Kanonenboot Beschir es-Salam nach Masagan beordert. Da Frankreich außerdem für die Vergewaltigung französischer Schutzbefohlener Entschädigung verlangte (Affaire Pouzet), unterstützte es das energische Auftreten Révoils, seines Residenten in Tanger, durch Entsendung des Kreuzers Assas, der am 8. Mai ein Ultimatum überbrachte; Ende Mai folgten die Kreuzer Pothuau, Du Chayla und Chanzy unter dem Admiral Caillard nach. Doch kam auch diesmal noch rechtzeitig eine gütliche Einigung zustande. Im Juni besuchte eine marokkanische Gesandtschaft England und danach auch Frankreich, dem unterm 20. Juli der Besitz der Tuat-Oasen bestätigt und eine polizeiliche Neuregelung der Süd- und Westgrenze Algeriens versprochen ward; über Berlin kehrte sie Ende Juli heim. Im Herbste drohten neue Verwickelungen mit Spanien wegen einiger Kinder, die im Nordwesten geraubt worden waren. Anfang 1902 setzte sich die alte Rivalität zwischen Frankreich und England am scherisianischen Hofe fort; dazu gesellten sich um dieselbe Zeit die Bemühungen Österreichs und Deutschlands, Handelsvorteile von M. zu erlangen. Frankreich erreichte im Februar die Ausweisung des ihm feindlichen arabischen Agitators Bu-Amama (»Vater des Turbans«, eigentlich Mohammed ben-el-Arba) aus der Oase Figig (s. d.) und deren friedliche Besetzung durch französische und marokkanische Kommissare, die jedoch 22. März unverrichteter Dinge abreisen mußten. Doch erlangte Frankreich durch die Protokolle vom 20. April und 9. – Mai die Möglichkeit eines fernern Ausbaues der Südoranbahn, die gegenwärtig bei Béchar-Colomb endet, nach dem Tafilelt. Seit Oktober vermehrte sich die schwierige Lage Marokkos durch das von Tesa (Tasa, Tazza) ausgehende Auftreten des Propheten Omar Serhuni, der sich für Mulei Mohammed, den in Mekines gefangenen ältern Bruder des Sultans, ausgab und wegen seiner Vorliebe für Eselreiten Bu-Hamara (»Vater der Eselin«) oder der Rogi (nach einem Aufrührer von 1862) genannt wird; trotz verschiedener Schläge und Niederlagen, ja Totsagungen, hat er ebensowenig beseitigt werden können wie Bu-Amama, der seit Herbst 1904 mit jenem Hand in Hand arbeitet. Ende 1902 erhoben sich auch die Kabylen von Tetuan im Norden. Dennoch vermochte sich der reformfreundliche Sultan zu behaupten, indem er sich klugerweise mit seinem Bruder öffentlich aussöhnte; im Herbst 1903 brachte er das weitere Opfer, alle Fremden (darunter vor allem den Chefinstrukteur der Truppen, den Schotten Kaid Sir Harry Maclean, s. d.) zum Verlassen der Hauptstadt Fes zu nötigen (er kehrte erst Mitte Oktober 1905 zurück). Ende November 1903 reichte der Kriegsminister Si di M'heddi el-M'nebbi sein Entlassungsgesuch ein; sein Nachfolger wurde im Dezember Sidi Mohammed Gabbas, der als aufgeklärt, aber gemäßigt-konservativ galt.

Das Frühjahr 1904 brachte die (als unverbürgtes Gerücht schon seit September 1903 kursierende) Kunde, daß sich die beiden bisher rivalisierenden Staaten Frankreich und England unterm 8. April über eine Anzahl strittiger Fragen (so über den Sudân, über Ägypten, Madagaskar etc.) in einem Abkommen verständigt hatten, das den Einfluß auf M. künftig[341] den Franzosen allein überließ. England versprach, an M. kein Interesse mehr zu nehmen und der friedlichen Erschließung (pénétration pacifique) des Landes durch Frankreich sowie den hierzu nötigen administrativen, wirtschaftlichen, finanziellen und militärischen Reformen kein Hindernis zu bereiten; beide Regierungen verpflichteten sich, für 30 Jahre volle Handelsfreiheit in M., deren status quo verbürgt ward, aufrecht zu erhalten und keine Befestigungen an der Küste anzulegen. Andre Vertragspunkte betrafen die Vereinheitlichung der marokkanischen Schuld etc. Der den spanischen Anteil an M. sichernde Vertrag zwischen Frankreich und Spanien folgte unterm 6. Okt. und ward nach Art. 8 des Abkommens vom 8. April England mitgeteilt. Von einer amtlichen Mitteilung an die deutsche Regierung verlautete nichts. Daß die Quasi-Schutzherrschaft über M., die Frankreich übernommen zu haben schien, auch ihre unangenehmen Seiten habe, bewies bald darauf die Gefangennahme des Amerikaners Perdicaris durch den marokkanischen Häuptling Mulei Ahmed el-Raïsuli; die amerikanische Flottendemonstration vom 1. Juni erreichte die Freilassung des Entführten gegen demütigende Bedingungen, die der Räuber seinem Sultan abnötigte. Anderseits trat England wochenlang hartnäckig für den Exkriegsminister el-M'nebbi ein, der Mitte August wegen Unregelmäßigkeiten im Amte verhaftet werden sollte. So war das angebliche französische Protektorat über M. unmittelbar nach seinem Inkrafttreten bereits verschiedentlich durchlöchert. Den schwersten Stoß erlitten aber Frankreichs Aussichten durch das allzu stürmische Vorgehen seines eignen Ministers des Auswärtigen, Delcassé (s. d.), das, abgesehen von einer unerhört drohenden Sprache gegenüber der marokkanischen Regierung, wegen der Nichtachtung deutscher wirtschaftlicher Interessen das direkte Eingreifen der deutschen Reichsregierung veranlaßte. Während der französische Ministerresident Saint-René-Taillandier seit Februar 1905 in Fes mit dem Machzen (s. d.) und den ad hoc einberufenen marokkanischen Notabeln wegen der Ein- und Durchführung der von Frankreich gewünschten Reformen mühsam verhandelte und dem widerstrebenden Sultan glauben machen wollte, er vertrete nicht nur Frankreich, sondern ganz Europa, landete Kaiser Wilhelm II. auf seiner Mittelmeerfahrt 31. März in Tanger und betonte in nicht mißzuverstehender Weise die volle Souveränität des Sultans und seine Auffassung von der Politik der offenen Tür in M. für alle Völker. Diese bedeutungsvolle Kundgebung verschob mit einemmal alles, was bis dahin zwischen den drei Mächten Frankreich, England und Spanien einseitig verabredet worden war, zu Deutschlands und zu Marokkos Gunsten. Ein sofortiger greifbarer Erfolg war außer der Genugtuung, die M. für die Ermordung Siegfried Genthes (8. März 1904), des Berichterstatters der »Kölnischen Zeitung«, gewährte, die Erlangung des Rechts deutscher Küstenfrachtschiffahrt. Anderseits fand nun auch die Frage der Freilassung des auf seiner vierten Forschungsreise 2. März durch den Scheich Mohammed ben-Tabia gefangen genommenen Marquis de Segonzac eine glatte Lösung. Im übrigen machte Frankreich, das den in der Übertreibung seiner Eigeninteressen (prépondérance) gemachten Fehler einsah, gute Miene zum bösen Spiele: Delcassé nahm nach der Ablehnung der französischen Vorschläge durch M. (28. Mai) 6. Juni seine Entlassung; die Selbstenthüllung seiner im Vertrauen auf Englands Hilfe ernsthaft gehegten kriegerischen Absichten erregte im Oktober berechtigtes Aufsehen. Auf der Grundlage der noch zu Recht bestehenden Beschlüsse der internationalen Madrider Konferenz vom 3. Juli 1880 erreichte der außerordentliche Gesandte des Deutschen Reiches, Graf Tattenbach, der seit 13. Mai 1905 mit der marokkanischen Regierung unterhandelte, daß 30. Mai zur Regelung aller strittigen Fragen eine neue Konferenz der Madrider Signatarmächte (außer den west- und nordeuropäischen. Staaten auch Nordamerika) durch den Sultan einberufen werde. Die Zustimmungen der meisten Beteiligten zu dieser Art der Beseitigung der akut gewordenen Krisis liefen während des Juni 1905 ein. Inzwischen bemühten sich Spanien (von Melilla aus) und Deutschland mit Erfolg, bei der Vergebung wirtschaftlicher Aufgaben von M. besonders berücksichtigt zu werden. Am 8. Juli kamen der deutsche Botschafter in Paris, Fürst v. Radolin, und der französische Ministerpräsident Rouvier überein: 1) gleichzeitig ihre zurzeit in Fes weilenden Gesandtschaften nach Tanger zurückzurufen, sobald wie die Konferenz zusammengetreten sein werde, und 2) dem Sultan von M. gemeinschaftlich durch ihre Vertreter Ratschläge erteilen zu lassen zur Feststellung des von ihm der Konferenz vorzuschlagenden Programms: eine Einigung, die durch die deutscherseits erfolgte loyale Anerkennung der berechtigten Interessen Frankreichs als Nachbarstaats von M. zustande gekommen war. Die Souveränität und Unabhängigkeit des Sultans wie die Integrität seines Reiches sollten nach wie vor die Grundlage und Voraussetzung aller zu vereinbarenden Reformen bilden. Spanien und England machten ihr Erscheinen auf der Konferenz von der Annahme eines ihnen vorzulegenden Programms abhängig. Die Unsicherheit der Lage zeigte sich sofort wieder gelegentlich der Verhaftung eines in M. ansässigen Algeriers Bu Mzian (Ende August), wobei der französischen Rechtsauffassung, die von der des Sultans beträchtlich abwich, abermals nur durch ein militärisch unterstütztes Ultimatum Anfang September Geltung verschafft werden konnte. Unterm 28. Sept. einigten sich Deutschland (durch Radolin) und Frankreich (durch Rouvier) über den Entwurf der M.-Konferenz ferner dahin, daß das Programm die Einrichtung der Polizei, die Regelung der Überwachung und Unterdrückung des Waffenschmuggels, die Finanzreform (Staatsbank, Steuerwesen) und die Festsetzung gewisser Grundlinien zur Sicherung der wirtschaftlichen Freiheit umfassen solle. Als Versammlungsort der Konferenz wurde Algeciras in Südspanien vorgeschlagen. Der Sultan von M. stimmte dem zu und hielt auch einem in letzter Stunde zugunsten Madrids gemachten Gegenvorschläge gegenüber daran fest. Die Konferenz wurde 16. Jan. 1906 eröffnet.

[Literatur.] Vgl. außer den ältern Werken von Ali Bei el Abassy (1816), Jackson (1811), Graberg de Hemsö (1833), Drummond-Hay (1841), Renou (1846) und andern: L. Godard, Description et histoire du Maroc (Par. 1860, 2 Bde.); v. Maltzan, Drei Jahre im Nordwesten von Afrika (2. Aufl., Leipz. 1868, 4 Bde.); Rohlfs, Reise durch M. (4. Ausg., Norden 1884) und Mein erster Aufenthalt in M. (3. Ausg., das. 1885); Leared, Morocco and the Moors (London 1875); Pietsch, M., Briefe von der deutschen Gesandtschaftsreise nach Fes 1877 (Leipz. 1878); D. Hooker und J. Ball, Journal of a tour in Morocco and the Great Atlas (Lond. 1879); v. Conring, M., das Land und die Leute (Berl. 1880, neue Ausg.[342] 1884); De Amicis, Marokko (deutsch, Wien 1883); Lenz, Timbuktu. Reise durch M. etc. (2. Aufl., Leipz. 1892, 2 Bde.); Stutfield, El Maghreb (Lond. 1886); Horowitz, M., Land und Leute (Leipz. 1887); Jannasch, Die deutsche Handelsexpedition 1886 (Berl. 1887); Lamartinière, Morocco, journeys in the kingdom of Fez, etc. (Lond. 1889); Diercks, M., Materialien zur Kenntnis und Beurteilung des Scherifenreiches (Berl. 1894); R. J. Frisch, Le Maroc: géographie, organisation, politique (Par. 1895); Mouliéras, Le Maroc inconnu, 22 aus d'exploration 1872–1893 (das. 1896–99, 2 Bde.); Graham, Moghreb el Acksa; a journey in Morocco (Lond. 1898); verschiedene Forschungsberichte von Theobald Fischer (s. Fischer 14); Canal, Géographie générale du Maroc (Par. 1902); de Segonzac, Voyages an Maroc (das. 1903; dazu 1 Bd. Karten etc.); Aubin, Le Maroc d'aujourd'hui (das. 1904; deutsch, Berl. 1905); Cousin u. Saurin, Le Maroc (Par. 1905); M. Schanz, Nordafrika: M. (Halle 1905); Hübner, Eine Pforte zum schwarzen Erdteil (das. 1904), Militärische und geographische Betrachtungen über M. (Berl. 1905); E. Zabel, Tagebuch einer Reise durch M. (Altenb. 1905); Genthe, M., Reiseschilderungen (hrsg. von Wegener, Berl. 1905); Budgett Meakin, Life in Morocco (Lond. 1905); Mohr, M., politisch-wirtschaftliche Studie (Berl. 1903); Immanuel, M., eine militärpolitische und wirtschaftliche Frage unsrer Zeit (das. 1903). – Karten: de Flotte de Roquevaire, Carte du Maroc 1: 1,000,000 (4 Blatt, Par. 1904) und Essai d'une carte hypsométrique du M. 1: 3,000;000 (in den »Annales de géographie«, 1901); von Langenbucher, 1: 2,000,000 (Berl. 1905).

Zur Geschichte: Chénier, Recherches historiques sur les Maures et histoire de l'empire de Maroc (Par. 1787, 3 Bde.); Dombay, Geschichte der Scherife oder der Könige des jetzt regierenden Hauses von M. (Wien 1801); Duprat, Essai historique sur les races anciennes et modernes de l'Afrique septentrionale (Par. 1845); Galindo y de Vera, Historia vicisundes y politica tradicion de Españaen las costas de Africa desde la monarquia Gotica (Madrid 1884); Diercks, Nordafrika im Lichte der Kulturgeschichte (Münch. 1886); Ezziani, Le Maroc de 1631 á 1812 (Par. 1886); Mercier, Histoire de l'Afrique septentrionale (das. 1888–90, 3 Bde.); Fagnan, L'Afrique septentrionale an XII. siècle (Constantine 1900) und Histoire de l'Afrique et de l'Espagne intitulée Al-Bayano 'l-Mogrib (Algier 1901); Werle, Deutschlands Beziehungen zu M. vom Beginn des Mittelalters bis zur Gegenwart (Koburg 1902); Meakin, The Moorish Empire (Lond. 1901); T. H. Weir, The Shaikhs of Morocco in the XVI. century (Edinb. 1904); M. Aflalo, The truth about Morocco (Lond. 1904; unparteiisch); Rouard de Card, Les relations de l'Espagne et du Maroc pendant le XVIII. et le XIX. siècles (Par. 1904); A. Cons, L'établissement des dynasties des Chérifs an Maroc et leur rivalité avec les Turcs de la régence d'Alger 1509 á 1830 (»Publications de l'Ecole des lettres d'Alger«, Bd. 29, das. 1904); Playfair u. Brown, Bibliography of Morocco (Lond. 1891); de Castries, Les sources inédites de l'histoire du Maroc, de 1530 à 1848 (Bd. 1, das. 1905).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 13. Leipzig 1908, S. 337-343.
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