[434] Gefängniswesen ist der Inbegriff aller auf die Freiheitsentziehung bezüglichen staatlichen Anstalten und Einrichtungen. Es gehören mithin hierher: 1) diejenigen Veranstaltungen, die zur Festhaltung von Kriegsgefangenen getroffen werden. Noch im Mittelalter waren, zusammenhängend mit dem Fehdewesen, weitaus die meisten Burgkerker und Burgverliese als Gefängnisse gegen den entwaffneten Feind eingerichtet. 2) Zum Zweck des Zwanges gegen widerwillige oder unvermögende Schuldner dienten die Schuldgefängnisse. Diese haben jedoch überall, wo die persönliche Schuldhaft als Exekutionsmittel beseitigt worden ist (s. Haft), ihre Bedeutung eingebüßt. 3) Zum Zweck der vorläufigen Haftnahme verdächtiger Personen dienen die nur für vorübergehende Einsperrung bestimmten sogen. Polizeigefängnisse oder Arresthäuser. 4) Zum Zweck der Sicherstellung des Strafverfahrens gegen Verdächtige, Angeschuldigte oder Angeklagte dienen die Untersuchungsgefängnisse, die regelmäßig als ein Zubehör der Kriminalgerichte erscheinen. Da nach dem Grundzweck des Kriminalverfahrens die persönliche Freiheit nicht verurteilter Personen nur, soweit dies unumgänglich nötig ist, beschränkt werden darf, sind die Untersuchungsgefängnisse gleichfalls nicht für langern Verbleib der Inhaftierten eingerichtet. Als Grundsatz gilt, daß Untersuchungsgefangene niemals mit Strafgefangenen in denselben Räumen verwahrt werden sollen, und daß ihre Freiheit nur so weit einzuschränken ist, als dieses der Zweck der Voruntersuchung notwendig macht. So darf ihnen z. B. Selbstbeköstigung und Lektüre nicht entzogen, der Gefangene darf ohne Not nicht gefesselt werden, es ist ihm der Verkehr mit seinem Verteidiger zu gestatten etc. Die Untersuchungshaft kann in Deutschland vom Richter bei Erkennung der Freiheitsstrafe ganz oder teilweise in Anrechnung gebracht werden. 5) Zum Zweck der Bestrafung rechtskräftig verurteilter Personen dienen die Strafgefängnisse oder Strafanstalten.
Die Strafgefängnisse sind verhältnismäßig modernen Ursprungs und stehen im geschichtlichen Zusammenhang mit dem Aufkommen der Freiheitsstrafe als des seit dem Ende des 18. Jahrh. üblich gewordenen Hauptstrafmittels. Mit Erstarkung der Polizeigewalt entstanden seit dem Ende des 16. Jahrh. die Zuchthäuser oder Besserungsanstalten für fahrende Leute, wie Bettler, Landstreicher, Gauner. In Deutschland ließ, da von Reichs wegen nichts geschehen konnte, die Landeshoheit sich die Einrichtung der Zuchthäuser angelegen sein. Von den Hansestädten aus, die wie Lübeck und Hamburg vorangingen, verbreiteten sich die Zuchthäuser über Mittel- und Süddeutschland, nachdem der Dreißigjährige Krieg die Zahl der Landstreicher gewaltig vermehrt hatte. In der Mitte des 18. Jahrh. waren Zuchthäuser unter mannigfachen Bezeichnungen bereits über Europa verbreitet. In unzureichenden Räumen, ohne genügende Aussicht und entsprechende Beschäftigung beherbergten sie die verschiedensten Menschenklassen nebeneinander: Landstreicher und Arbeitsscheue, Bettler und liederliche Dirnen, störriges Gesinde und ungeratene Kinder; neben diesen schwere Verbrecher, Geisteskranke und Sieche. Erst allmählich begann man in der Gemeinschaft der Häftlinge den Krebsschaden der bisherigen Einrichtung und damit zugleich den Weg zur Beseitigung der gröbsten Mißstände zu erkennen. Es fehlt nicht an beachtenswerten Ansätzen zu einer durchgreifenden Reform. Die Schrift des Engländers Howard: »Über den Zustand der Gefängnisse in England und Wales, mit einleitenden Bemerkungen und einem Bericht von einigen fremden Gefängnissen« (1777; deutsch von Köster, 1780), die durch ihre herzergreifende Schilderung des jammervollen Gefängnislebens großes Aufsehen erregte, gab zuerst in weitern Kreisen den Anstoß zur Reform des Gefängniswesens, mit der Nordamerika voranging. Quäkerischen Bestrebungen verdankte die Einzelhaft bei Tag und Nacht ihre Entstehung. Seine praktische Durchführung fand dieses System zuerst in Philadelphia in der daselbst 1791 gegründeten Gefängnisanstalt, weshalb es auch das pennsylvanische System genannt wurde. Dagegen ersetzte man 1823 zu Auburn im Staate New York das solitary-system durch das silent-system: Trennung bei Nacht und gemeinsame Tagesarbeit, bei welcher der entsittlichende Verkehr der Sträflinge untereinander durch das mit größter Strenge (Peitsche) aufrecht erhaltene Schweiggebot verhindert werden sollte. Heftig wogte der Kampf zwischen Auburn und Pennsylvanien hin und her, und sein Ausgang war merkwürdig genug: in den Vereinigten Staaten die völlige Niederlage, in Europa, trotz vereinzelter Gegner (Demetz [s. d.] u. a.), der glänzende, wenn auch vorübergehende Sieg der Einzelhaft.
Im J. 1840 wurde der Grund zu dem englischen[434] Mustergefängnis in Pentonville gelegt, das, 1842 eröffnet, das solitary-system der Amerikaner zum separate-system milderte. Zum Gottesdienst, zum Unterricht, zum Spaziergang verläßt der Gefangene seine Zelle. Aber Schildmützen (sogen. Masken) hindern die gegenseitige Erkennung; durch bauliche Vorrichtungen eigner Art wird die Trennung auch in Schule und Kirche (hölzerne Verschläge, stalls) sowie beim Spaziergang (gemauerte käfigartige Spazierhöfchen) einigermaßen gesichert. Aber abweichend von dem pennsylvanischen Muster bildete die Einzelhaft in England nur ein Glied in dem durchaus fortschreitend (»progressiv«) angelegten Strafvollzug. Nach 18monatiger, der Prüfung, nicht der Besserung dienender (später wesentlich verkürzter) Einzelhaft wurden die Sträflinge nach den australischen Kolonien verbracht und hier, je nach ihrer Führung in Pentonville, verschiedenen Strafklassen zugeteilt.
Die allmähliche Beseitigung der englischen Deportation nach Australien (1853, 1857, 1867) und ihre Ersetzung durch die Strafknechtschaft (penal servitude) führte in England zu einer immer entschiedenern Anwendung des progressiven Systems bei Vollstreckung der langdauernden Freiheitsstrafe. Auf dem Gedanken allmählicher Wiederherstellung des sittlichen Gleichgewichts im Sträfling, allmählicher Wiedereinführung des Verurteilten in die bürgerliche Gesellschaft aufgebaut, besteht das englische System im wesentlichen aus folgenden. von dem Verurteilten zu durchlaufenden Stufen: 1) strenge neunmonatige Einzelhaft; 2) gemeinsame Arbeit in vier fortschreitenden Abteilungen; 3) bedingte Entlassung mit der Möglichkeit des Widerrufs (ticket of leave, Beurlaubungssystem). Dabei wird das Vorrücken in eine höhere Stufe von dem Erwerb einer bestimmten Anzahl von Marken für Fleiß, Betragen etc. abhängig gemacht.
Das progressive englische System bestand auch in Irland, nahm aber hier unter der Leitung von Walter Crofton (185364) eine besondere, in der Literatur viel erörterte Entwickelung. Das irische System zerfällt in seiner Anwendung auf lange dauernde Strafen (penal servitude) in vier Stadien: a) das Einzelhaftstadium von regelmäßig 9 Monaten, das durch gutes Verhalten bis auf 8 abgekürzt werden kann und vorzugsweise dazu dient, den Gefangenen seelisch zu erforschen und kennen zu lernen, zur Arbeit geneigt zu machen und durch Unterricht zur Einsicht und Umkehr zu bestimmen; b) das Gemeinschaftshaftstadium mit progressiver, durch Markenverteilung gekennzeichneter Klassifikation, wonach jeder Gefangene, in einer untern Klasse beginnend, nach einer gewissen, durch gutes Verhalten wiederum abzukürzenden Zeitfrist in höhere Klassen aufrückt, um dort größere Vorteile, entsprechend seinem Fortschreiten, zugebilligt zu erhalten, oder anderseits, um im Fall schlechten Verhaltens auf eine niedere Stufe zurückversetzt zu werden; c) das Stadium der Zwischenanstalt, das dem Sträfling ein größeres Maß von Freiheit einräumt, die äußern Merkzeichen der Gefangenschaft (Sträflingskleidung) beseitigt und mit disziplinarischer Bestrafung unverträglich ist, dergestalt, daß jede Ordnungswidrigkeit Zurückversetzung in das zweite Stadium zur Folge haben würde; in der Zwischenanstalt wird dem Gefangenen auf Grund seines vorangegangenen Betragens Vertrauen geschenkt, damit er seinerseits Selbstvertrauen zu seinen Kräften gewinne, wenn er den Kampf mit den Versuchungen des Lebens zu bestehen hat; d) das Stadium der bedingungsweisen, widerruflichen Freilassung. während dessen sich der »Beurlaubte« unter einer wohlwollenden, ihm zum Lebenserwerb behilflichen Polizeiaufsicht befindet. Es ist mithin die Stufe unter c) die Zwischenanstalt (intermediate prison) ganz allein, die den irischen Strafvollzug von dem englischen unterscheidet. Der Kampf für den progressiven Strafvollzug brachte die Fortschritte der Einzelhaft auf dem europäischen Kontinent zum Stillstand. Und der teilweise mit leidenschaftlicher Erregung geführte Meinungsaustausch zwischen den Theoretikern und Praktikern des Gefängniswesens erschütterte das bis dahin blinde Vertrauen der breiten Massen und lähmte die Kraft der Gesetzgebung. Nur die bedingte Entlassung des englischen Rechts, deren Wurzeln bis nach den Kolonien in Australien zurückreichen, fand wenig Widerspruch und immer zahlreichere Freunde auf dem Kontinent. Sie wurde in Sachsen 1862, im Deutschen Reiche 1871 und später in zahlreichen außerdeutschen Staaten eingeführt.
Gegenwärtig bestehen in dem G. der verschiedenen Länder die folgenden Systeme nebeneinander:
1) Das Gemeinschaft s- oder Assoziationssystem, das die schreienden Übelstände der zu gegenseitiger Verschlechterung führenden Sträflingsgemeinschaft dadurch zu heben sucht, daß es auf Grund äußerlicher Merkmale gleichartige Gruppen der Gefangenen bildet, denen bestimmte Behandlungsweisen angepaßt werden sollen.
2) Das Isolier-o der Zellensystem, früher das pennsylvanische genannt. Seine europäische Ausgestaltung hat es in Pentonville (s. oben, S. 434f.) erhalten. Nach diesem Muster sind zahlreiche Bauten auf dem Kontinent mit bedeutendem Kostenaufwand ausgeführt worden. Die bekanntesten sind Bruchsal in Baden, Moabit bei Berlin, Löwen, Nürnberg. Als sogen. modifizierte Einzelhaft erscheint dies System da, wo die Trennung lediglich durch die Zelle vermittelt wird, dagegen Gemeinschaft während des Gottesdienstes, der Schule und des Spazierengehens, folglich auch ein Erkennen der Gefangenen unter sich zugelassen wird. Da die Bauten meist so eingerichtet sind, daß von dem Mittelpunkt aus alle Zellenflügel und alle Zellentüren überblickt werden können, spricht man auch von dem panoptischen System. Seine eifrigsten Fürsprecher waren in Deutschland: Julius, Mittermaier, Füeßlin, Varrentrapp, Röder, Schück, Wichern. Es gibt gegenwärtig keinen Staat in Europa, in dem nicht von einzelnen Zellen für Zwecke der Strafrechtspflege Gebrauch gemacht würde, ebensowenig aber einen Staat, der alle Gefangenen ohne Ausnahme der Zellenhaft unterwerfen könnte.
3) Das Schweigsystem oder das Auburnsche System (s. oben, S. 434). Trennung der Gefangenen zur Nachtzeit in besondern Schlafzellen, womit der geschlechtlichen Unzucht begegnet werden soll; gemeinsame Arbeit bei Tag unter dem disziplinarischen Gesetz absoluten Schweigens; also eine Vermittelung zwischen der alten Gemeinschaftshaft und der Isolierung. Leitender Gedanke: Isolierung mindestens bis zur Grenze der disziplinaren Notwendigkeit, Belebung des Wetteifers in der gemeinsamen Arbeit, Gewöhnung an strenge Disziplin inmitten der Verführung zu wechselseitigen Mitteilungen. Auch das Schweigsystem fand eifrige Verfechter in Europa, wo es schon seit dem 18. Jahrh. vielfach in Anwendung gewesen war.
4) Das irische oder Progressivsystem (s. oben), das die allmähliche Überführung des Gefangenen in die Freiheit anstrebt.[435]
Die Frage, ob Einzelhaft oder ob Gemeinschaftshaft, ist durchaus relativer Natur. Der Südländer verhält sich zu einer ihm zwangsweise auferlegten Einsamkeit ganz anders als der Nordländer. Innerhalb ein und desselben Volkes sind Unterschiede des Geschlechts, der Lebensweise, des Berufs und der Bildung nicht wegzuleugnen. Demnach ist auch die Frage, ob Einzelhaft härter oder milder empfunden werde als Gemeinschaftshaft, gar nicht in allgemeiner Weise zu beantworten. Einverständnis besteht darin, daß für alle kurzzeitigen Strafen Einzelhaft als Regel angenommen werden sollte, weil die bessernden Wirkungen der religiös-sittlichen Bildung und der Strafarbeit nur bei längerer Dauer zur Geltung kommen können, daher der Gesichtspunkt, eine verderbliche Gemeinschaft abzuschneiden, entschieden vorwiegt. Überwiegend ist außerdem die Ansicht, daß zu lange fortgesetzte Einzelhaft die anfangs günstigen Wirkungen der Isolierung aufhebt und häufig in das Gegenteil verkehrt. Zwar ist es unrichtig, daß trotz passender Auswahl der der Einzelhaft zu unterwerfenden Personen und trotz des Vorhandenseins eines tüchtig geschulten Beamtenpersonals die Isolierung ungewöhnlich große Ziffern des Selbstmordes und der Geisteskrankheit ergebe. Aber die Erfahrung lehrt vielfach, daß Gefangene in längerer Isolierung ihre geistige und moralische Spannkraft einbüßen und auch körperlich zurückgehen. Die Tatsache, daß Einsamkeit leichter Reue bewirkt als die Umgebung von Sträflingsgenossen, darf nicht unbenutzt bleiben; aber sie ist auch nicht zu überschätzen. Für ein gutes Gefängnissystem kommt es daher nicht darauf an, die Maximalgrenze zu finden, bis zu der ohne groben Nachteil die Mehrzahl der Gefangenen isoliert bleiben kann, sondern vielmehr die Minimalzeit zu ermitteln, innerhalb der eine tüchtige Gefängnisverwaltung in den Stand gesetzt wird, die Individualität jedes Bestraften hinreichend kennen zu lernen, mit der natürlichen gesellschaftlichen Tatsache des menschlichen, auch bei dem Gefangenen nicht auszurottenden Gemeinschaftstriebes eine individualisierende Behandlung zu vereinigen und die anfangs Isolierten auf die Bahn einer im Verkehr mit andern fortschreitenden Entwickelung vorzubereiten. Anscheinend unverbesserliche und moralisch gefährliche Individuen müssen dann freilich auf die Dauer von dem Verkehr mit ihresgleichen fern gehalten werden.
Auch das beste System wird seinen Zweck verfehlen, wenn der reuevolle Delinquent nach seiner Entlassung deswegen arbeitslos umherirren muß, weil er durch allgemeines Mißtrauen der Arbeitgeber zurückgestoßen wird. Schon in den Strafanstalten muß daher der Beweis geliefert werden, daß man bis zu einem gewissen Maß dem Gefangenen bereits vor seiner Entlassung Vertrauen schenken konnte. Daß jemand, innerhalb der Zellenwände abgesperrt, sich tadellos betrug, wird als Grundlage einer für ihn günstigen Vermutung niemals ausreichend befunden werden. Croftons Zwischenanstalten hatten die große Bedeutung, die gesellschaftlichen Vorurteile gegen entlassene Verbrecher auf ein billiges Maß zurückzuführen. In gleicher Richtung wirkt auch die bedingte Entlassung. Schließlich bedarf aber trotzdem jede Gefängnisverwaltung der Unterstützung seitens freiwilliger Hilfskräfte zur endgültigen Erfüllung ihrer Aufgabe. Aus diesem Grunde muß man darauf Bedacht nehmen, die Bildung von Schutz- und Hilfsvereinen (Gefängnisvereinen, s. unten, S. 438f.) für Entlassene anzuregen.
Vor allem aber ist das System des Strafvollzugs bedingt durch die Aufgaben, die diesem gestellt werden, und diese wieder durch die Erkenntnis des Strafzweckes. Solange eine Einigung darüber nicht erzielt werden kann, was die Strafe überhaupt und die Freiheitsstrafe insbes. eigentlich soll (s. Strafrechtstheorien), ebenso lange ist es völlig vergeblich, den Strafvollzug befriedigend gestalten zu wollen. Der Strafvollzug hat in den Dienst der Kriminalpolitik (s.d.) zu treten, der Gefängnisdirektor das richterliche Urteil zu vollstrecken. In großen Zügen hat sich der Strafvollzug folgendermaßen zu gestalten: 1) Soweit die Besserung angestrebt wird, handelt es sich darum, den Sträfling der bürgerlichen Gesellschaft als einigermaßen brauchbares Glied wieder zurückzugeben. Diese Wiedergeburt vermag die Zelle allein nicht zu bewirken. Der Strafvollzug muß mithin progressiv gestaltet werden. Sklavische Nachahmung fremder Muster ist dabei zu vermeiden. Ein besonderes »irisches System« gibt es heute nicht mehr. 2) Wo nur die Bewährung der Rechtsordnung als sogen. Abschreckung in Frage steht, also insbes. bei kürzern Freiheitsstrafen, ist die Zelle allein geeignet, dem entsittlichenden Einfluß der Mitgefangenen entgegenzuwirken. 3) Unverbesserlichen gegenüber ist jedes System gut, das mit möglichst geringen Kosten die Gesellschaft zu schützen vermag. Billige Zellengefängnisse würden Verwaltung und Beaufsichtigung erleichtern, sind aber zur Erreichung des Strafzweckes hier nicht nötig. Somit kann die Aufgabe des Gefängniswesens für die nächste Zukunft dahin zusammengefaßt werden: Einzelhaft für die kürzern, progressive Haft für die längern Freiheitsstrafen. Nächtliche Trennung ist schon aus sittlichen Gründen unbedingt und in allen Fällen erwünscht; kleine gemauerte Zellen werden nicht viel kostspieliger sein als die beliebten eisernen Alkoven. Alles übrige ist Nebensache. Über die besondern Anstalten für Jugendliche etc. vgl. Jugendliche Verbrecher.
Im allgemeinen kann man vier Gruppen unterscheiden, die aber vielfach ineinander übergehen. 1) Belgien hat die Zellenhaft am folgerichtigsten und mit großem Kostenaufwand (etwa 20 Mill. Frank) durchgeführt. Alle Freiheitsstrafen bis zu 10 Jahren, längere mit Einwilligung des Sträflings, werden in der Zelle verbüßt. Die Ergebnisse sind nach dem Zeugnis maßgebender Kenner (Prins u. a.) durchaus unbefriedigend. 2) Zahlreiche Länder haben die Zellenhaft einerseits für kurzzeitige, anderseits als Anfangsstufe für langzeitige Strafen angenommen, welch letztere im übrigen ohne ausgesprochenen progressiven Charakter vollzogen werden. Dabei ist das Höchstmaß der Einzelhaft sehr verschieden normiert. Die Durchführung läßt meist viel zu wünschen übrig. 3) Eine besonders beachtenswerte Stellung nehmen diejenigen Länder ein, die für längere Freiheitsstrafen das progressive System eingeführt haben. Hierher gehören: England für die Strafknechtschaft (Mindestmaß 3 Jahre seit 1891), während Gefängnis (bis zu 2 Jahren) meist in Einzelhaft vollstreckt wird; ferner Ungarn, Kroatien, Bosnien, Finnland, Italien, Japan. 4) Eine letzte Gruppe bilden diejenigen Staaten, die ein nach bestimmten Grundsätzen geregeltes G. überhaupt nicht besitzen. In diese Gruppe muß auch das Deutsche Reich gestellt werden. Das deutsche Reichsstrafgesetzbuch hat sich darauf beschränkt, die Arten der Freiheitsstrafen, nämlich Zuchthaus, Gefängnis, Festungshaft und Hast, nach gewissen allgemeinen Kennzeichen[436] zu unterscheiden (s. Strafrecht). Über den Vollzug der Freiheitsstrafen enthält es nur einige dürftige und lückenhafte Bestimmungen. a) Die gegen jugendliche Personen erkannten Freiheitsstrafen sind in besondern, nur für diesen Zweck bestimmten Anstalten oder in besondern Räumen derselben Anstalt zu vollstrecken (§ 57, letzter Absatz). b) Zuchthausstrafe und Gefängnisstrafe können sowohl für die ganze Dauer als für einen Teil der erkannten Strafzeit in der Weise in Einzelhaft vollzogen werden, daß der Gefangene unausgesetzt von andern Gefangenen gesondert gehalten wird. Die Einzelhaft darf ohne Zustimmung des Gefangenen die Dauer von 3 Jahren nicht übersteigen (§ 22). Dabei ist zu beachten, daß diese letztere Bestimmung (in unrichtiger Weise) auf den Fall »unausgesetzter« Trennung beschränkt ist, daß also die gemilderte Einzelhaft (mit Gemeinschaft in Kirche, Schule, Spazierhof) während der ganzen Dauer der längsten Freiheitsstrafen zur Anwendung gebracht werden kann. c) Eingehendere Bestimmungen sind über die vorläufige Entlassung getroffen. Die zu einer längern Zuchthaus- oder Gefängnisstrafe Verurteilten können, wenn sie drei Vierteile, mindestens aber ein Jahr der ihnen auferlegten Strafe verbüßt, sich auch während dieser Zeit gut geführt haben, mit ihrer Zustimmung vorläufig entlassen werden. Die vorläufige Entlassung kann bei schlechter Führung des Entlassenen oder, wenn derselbe den ihm bei der Entlassung auferlegten Verpflichtungen zuwiderhandelt, jederzeit widerrufen werden. Der Widerruf hat die Wirkung, daß die seit der vorläufigen Entlassung bis zur Wiedereinlieferung verflossene Zeit auf die festgesetzte Strafdauer nicht angerechnet wird. Der Beschluß über die vorläufige Entlassung sowie über einen Widerruf ergeht von der obersten Justiz-Aufsichtsbehörde. Vor dem Beschluß über die Entlassung ist die Gefängnisverwaltung zu hören. Die einstweilige Festnahme vorläufig Entlassener kann aus dringenden Gründen des öffentlichen Wohles von der Polizeibehörde des Ortes, an dem sich der Entlassene aufhält, verfügt werden. Der Beschluß über den endgültigen Widerruf ist sofort nachzusuchen. Führt die einstweilige Festnahme zu einem Widerruf, so gilt dieser als am Tage der Festnahme erfolgt. Ist die festgesetzte Strafzeit abgelaufen, ohne daß ein Widerruf der vorläufigen Entlassung erfolgt ist, so gilt die Freiheitsstrafe als verbüßt (§ 2326). Alles übrige ist der landesrechtlichen Regelung überlassen, so daß das Deutsche Reich auf diesem wichtigen Gebiet auch heute noch der Rechtseinheit entbehrt, obwohl wiederholte Beschlüsse des deutschen Reichstags und zahlreiche Beschlüsse der verschiedensten Vereinigungen, neuerdings des Vereins deutscher Strafanstaltsbeamten (Braunschweig 1894), die Notwendigkeit einer einheitlichen Regelung betonten. Zwar wurde 19. März 1879 dem Bundesrat der Entwurf eines Reichsgesetzes, betreffend die Vollstreckung der Freiheitsstrafen, überreicht; er scheiterte aber einerseits an der Kostenfrage, anderseits an der damals in ihrem Höhepunkt stehenden Unklarheit über die Aufgabe der Strafe. Die deutschen Einzelstaaten bieten eine bunte Musterkarte der verschiedenartigsten Systeme, die besonders in Preußen in allen Abstufungen nebeneinander vertreten sind. Große Verdienste hat sich die badische Gefängnisverwaltung (unter E. v. Jagemann) besonders durch die Durchführung der Zellenhaft bei den kleinen Gerichtsgefängnissen erworben; Sachsen hat gute Erfolge mit dem Klassifizierungssystem erzielt; in den übrigen Staaten finden wir meist einzelne luxuriöse Zellenbauten, während die zahlreichen Amts- und Landgerichtsgefängnisse den ältesten Typus der Strafanstalten repräsentieren.
Der Strafvollzug, d. h. die bei Vollstreckung der Freiheitsstrafe zu beobachtenden Grundsätze sind fast ausschließlich den landesherrlichen Regierungen überlassen, trotz wiederholter Beschlüsse des Reichstags, obwohl 1879 dem Bundesrat der Entwurf eines Reichsgesetzes, betr. die Vollstreckung der Freiheitsstrafen, überreicht wurde, und ungeachtet des vorliegenden dringenden Bedürfnisses nach einer reichsrechtlichen Regelung dieser Materie entbehrt Deutschland bis zur Stunde noch eines Reichsstrafvollzugsgesetzes. Einen schwachen Ansatz hierzu haben wir allerdings seit November 1897, wo sich die deutschen Bundesregierungen über eine Reihe allgemeiner Grundsätze geeinigt haben, die beim Vollzug von Freiheitsstrafen beobachtet werden sollen. In diesem Zusammenhang ist auch auf die bedingte Verurteilung (s.d.) zu verweisen, die immer größern Anhang unter den deutschen Bundesstaaten findet, und auf die Verordnungen, die insonderheit gegenüber den jugendlichen Verbrechern sogen. Bewährungsfristen einführen, d. h. Aufschub des Strafvollzugs auf längere Zeit und dem jugendlichen Verurteilten dadurch gewährte Möglichkeit, durch Fernhaltung von weitern Straftaten und durch sonstige Bewährung den gnadenweisen Erlaß des Strafvollzugs, ja nach einer Verordnung des sächsischen Justizministeriums vom 23. Mai 1903 sogar den Aufschub der Straf verfolgung und gnadenweise Niederschlagung der Untersuchung zu erlangen. Im großen und ganzen überwiegen in den deutschen Strafanstalten gegenwärtig zwei Anschauungen: einmal, daß eine tunlichst gleiche Behandlung aller derselben Strafanstalt zugewiesenen Verbrecher gefordert wird, und sodann, daß neben der Empfindlichkeit des Strafübels der bestrafte Verbrecher gegen Rückfälligkeit durch bessernde Behandlung sittlich gekräftigt werden soll. Das mindeste, was der Staat zu leisten hat, ist die Vorsorge, daß der Bestrafte nicht etwa moralisch verschlechtert werde. Daraus ergeben sich, abgesehen von der Fürsorge für die Ernährung und leibliche Gesundheit der Gefangenen (Gefängnishygiene, s. den besondern Artikel, S. 433), folgende Aufgaben:
1) Die Fürsorge für die Aufrechthaltung der äußern Ordnung und Disziplin in den Strafanstalten. Zur Aufrechthaltung der Ordnung hat jede Strafanstalt auch die Befugnis zur disziplinaren Bestrafung Widersetzlicher und Ungehorsamer. Zuchthausgefangene unterliegen in einzelnen deutschen Staaten (Preußen, Hamburg etc.) disziplinarisch der körperlichen Züchtigung. Am häufigsten werden, je nach der Schwere des Falles, angewendet: Isolierung, Dunkelarrest, Hungerkost, Entziehung erlaubter Genüsse. Je geringer und seltener die Anwendung von Gewaltmitteln erforderlich wird, je mehr es gelingt, auf das Ehrgefühl der Gefangenen einzuwirken, desto höher ist die Leistungsfähigkeit der Strafanstaltsdirektionen.
2) Die Fürsorge für Beschäftigung und Arbeit der Strafgefangenen. Bei kurz dauernden Freiheitsstrafen ist Beschäftigung der Gefangenen wünschenswert, aber meistenteils untunlich. Bei längerer Hast aber ist sie geboten sowohl im Interesse der Sittlichkeit und Erziehung als auch aus verwaltungstechnischen und finanziellen Gründen. Hinsichtlich der[437] Art der für Strafgefangene passenden Arbeitsleistungen kommen hauptsächlich in Betracht: Vorbildung, Gesundheit und Körperkraft der Gefangenen, voraussichtliche Nutzbarkeit des Erwerbszweigs nach der spätern Entlassung, Verwertbarkeit der Produkte und finanzieller Vorteil für die Strafanstaltsverwaltung. Die hauptsächlichen Arten des Arbeitszwanges in den Strafanstalten sind: Rodungsarbeiten zur Urbarmachung von Ländereien (wie in den französischen Strafkolonien von Cayenne und Neukaledonien), Erdbauarbeiten (Trockenlegung von Sümpfen, Ausgrabung von Kanälen, Hafenbauarbeiten, wie in den sogen. Bagnos der Italiener), Bergbauarbeiten (wie in den Metallgruben des Altai), ländliche Arbeit in Feldern und Wäldern, Hausarbeit, Handwerksarbeit, Kunstindustrie, Bureauarbeiten etc. In Deutschland ist überwiegend das niedere Handwerk, weil es leicht und rasch erlernt werden kann, zur Regel in den Strafanstalten geworden. Doch findet sich auch in einzelnen größern Anstalten (z. B. zu Moabit und Bruchsal) Pflege der Kunstindustrie und gleicherweise ländliche Arbeit (in Bayern insonderheit Anlegung von Moorkulturen, Torfstechen etc.), die das Gesetz an die Bedingung knüpft, daß Strafgefangene im Freien nur abgesondert von andern Arbeitern beschäftigt werden dürfen. Bei der Zuteilung zu bestimmten Arbeitszweigen ist auch auf die Neigung der Gefangenen selbst Rücksicht zu nehmen; sie können nicht zum Fleiß erzogen werden, wenn ihnen die Arbeit verleidet wird. Der Grundsatz, daß der Gefangene die Arbeit als sein eignes Interesse auffassen soll, kommt darin zum Ausdruck, daß dem Verurteilten ein Verdienstanteil (sogen. Pekulium) gewährt wird, der ihm teilweise bis zur Entlassung gutgeschrieben, teilweise zur freien Verfügung und zur Beschaffung kleinerer Genußmittel (besserer Beköstigung, Schnupftabak etc.) überlassen bleibt. Hinsichtlich der Einrichtung des Arbeitszwanges bestehen zwei Hauptsysteme: das der eignen Unternehmung, nach der die Strafanstaltsverwaltung die Arbeitsprodukte selbst vertreibt und ihre Absetzung mit eigner Gefahr sucht (z. B. in Bruchsal), oder dasjenige der Arbeitsverdingung an größere Unternehmer, die für die Benutzung der Arbeitskraft Gefangener der Strafanstaltsverwaltung eine bestimmte Vergütung bezahlen. Keins dieser Systeme verdient vor dem andern unbedingt den Vorzug. Neuerdings hat man in Deutschland vielfach darüber geklagt, daß durch die wohlfeile Zuchthausarbeit eine unbillige Konkurrenz auf einzelnen Gebieten erwachse, und das Verlangen gestellt, daß der Staat nur für seine eignen Bedürfnisse in der Militärverwaltung etc. arbeiten lassen solle. Diese Klagen, so unberechtigt sie sind, werden nie verstummen, das einzige Mittel gegen sie ist Übernahme des Risikos für Lieferung brauchbarer Arbeit durch die Gefängnisverwaltung und dadurch bedingte möglichste Annäherung des Arbeitspreises an den des freien Marktes. Gegenwärtig, wo die Gefängnisverwaltungen jegliche Haftung für Schaden am gelieferten Material und für gute Ausführung der Arbeit ablehnen, muß der geforderte Arbeitslohn sehr niedrig sein, und dadurch wird ein starker Anreiz zur Bestellung von Zuchthausarbeit gegeben, da auch minderwertige Waren auf dem freien Markt unter den gegenwärtigen Verhältnissen, z. B. durch Auktionen, Ausverkäufe etc., immer noch gut verkauft werden können.
3) Die Fürsorge für religiöse, sittliche und geistige Bildung der Gefangenen. Der rechtlich-sittliche Charakter der Strafe kann nur denjenigen zum Bewußtsein gebracht werden, die zur Einsicht in das von ihnen verübte Unrecht gelangt sind. Ein Teil der Verbrecher handelt aus vollkommen klarer, selbstbewußter Bosheit, alle Folgen der Tat im voraus erkennend; der bei weitem größere Teil aber fehlt aus sittlicher Schwäche, Irrtum, Stumpfheit, Unwissenheit, Unklarheit. Die vergeltende Gerechtigkeit, die das Schuldbewußtsein treffen will, verlangt daher ebensosehr wie die Rücksicht auf die Sicherheit der Rechtsordnung, daß dem Verbrecher sittliche Einflüsse zugänglich gemacht werden. Daher entstanden die Veranstaltungen der Seelsorge, des Schulunterrichts, der sich freilich in den weitaus meisten Fällen in dem Rahmen der Elementarschule bewegen muß, sowie die in neuester Zeit mit großem Nachdruck betonte Gründung von besondern Strafanstaltsbibliotheken. Die Zweckbestimmung der Seelsorge ist teils aus den Grundsätzen der Strafrechtspflege, teils aus dem religiösen Bedürfnis der einzelnen Gefangenen zu entnehmen. Deswegen darf die Strafanstalt nicht für kirchliche Propaganda benutzt werden, ebensowenig sind dem einzelnen Gefangenen geistliche Amtshandlungen wider seinen Willen aufzudrängen.
Die Fürsorge für Gesundheit, Körperpflege, Bildung, Arbeit und Ordnung der Gefangenen verlangt notwendig ein hinreichendes Gefängnispersonal und geschulte Kräfte zur Überwachung. In jedem größern Gefängnis sind daher erforderlich: ein das Ganze leitender Direktor, ein Gefängnisarzt, Geistlicher, Schullehrer, Betriebsinspektor und eine im Verhältnis zur Zahl der Verurteilten ausreichende Mannschaft von Wärtern, abgesehen von den für den äußern Sicherheitsdienst bestimmten Militärwachen. Die Befähigung zum Gefängnisdienst läßt sich erst durch Erprobung feststellen, daher sind alle Merkzeichen äußerer Art, wie etwa Stand, Kirchlichkeit der Gesinnung, militärische Vorbildung, ziemlich wertlos. Von Bedeutung ist, daß in neuester Zeit die Notwendigkeit planmäßiger Schulung der Gefängnisbeamten deutlicher erkannt wird als ehemals. Zu bedauern ist es, daß für die jugendlichen Gefangenen nicht durchweg nur verheiratetes Gefängnispersonal verwendet wird. In Schweden und Italien sind durch Almquist und Beltrani Fachschulen gegründet worden. Der Schweizer Guillaume trat dafür nachdrücklich ein. Selbstverständlich muß die Geschäftsordnung des Strafanstaltsdienstes ihren Abschluß finden in der Verantwortlichkeit der Beamten und in ausreichenden Maßregeln der Aussicht. Besonders hat sich die Bestellung verantwortlicher Generalinspektoren als eigne und einheitliche Zentralstelle für die Gefängnisverwaltung bewährt, weil ein unermeßliches Erfahrungsmaterial zu seiner Beherrschung eine besondere Kraft erfordert und ein ununterbrochener persönlicher Verkehr mit den Gefängnisdirektoren an Stelle des rein aktenmäßigen Geschäftsganges erforderlich ist Schweden, Dänemark, Italien, England, Holland etc. besitzen eine derartige Amtsstelle, die in Deutschland zum Schaden des Gefängniswesens bis jetzt fehlt.
Eine Hauptquelle des Rückfalles bilden die Schwierigkeiten, denen der entlassene Sträfling bei dem Versuch, wieder Zutritt in die bürgerliche Gesellschaft zu erlangen, begegnet. Die Anfänge der Fürsorge für entlassene Sträflinge hängen zusammen mit den Anfängen der Bestrebungen für die Verbesserung des Gefängniswesens. Nach dem Muster des in Philadelphia durch Richard Whister 1776 gegründeten [438] Vereins zur Unterstützung armer Gefangener (Philadelphia Society for Assisting distressed prisoners) entstanden zu Ende des 18., bez. Anfang des 19. Jahrh. ähnliche Vereine in England sowie auf dem Kontinent. In Deutschland wurde 1826 der erste Verein dieser Art, die Rheinisch-westfälische Gefängnisgesellschaft, durch den Philanthropen Pastor Fliedner gegründet (vgl. die Jubiläumsschrift von Rohde, Düsseld. 1901). In neuerer Zeit wurde die Zentralisierung durch Bildung von Provinzialvereinen gefördert; so für Hannover, Ostpreußen, Posen, Sachsen, Schleswig-Holstein und Westpreußen. Eine ähnliche Entwickelung nahm die Schutzfürsorge in den übrigen deutschen Einzelstaaten.
Eine Zentralisierung aller Schutzvereine des Deutschen Reiches, wie sie für England, Schweden, Norwegen, Holland und Dänemark, für die Schweiz (seit 1888), Frankreich (1888), Belgien (1889), aber auch innerhalb Baden, Hessen-Darmstadt, Sachsen und Württemberg vorhanden ist, wurde seit längerer Zeit angestrebt. Die Zentralisierung erleichtert die Bildung von Vereinen für kleinere Bezirke, weil die durch den Anschluß an das Ganze eröffnete Aussicht auf Unterstützung und Erfolg ermutigend wirkt; sie befördert die Vereinigung zu gemeinsamer Arbeit und ermöglicht die Ausstellung sowie die Befolgung einheitlicher Grundsätze für die Schutztätigkeit; das Zentralorgan kann bei Meinungsverschiedenheit über die Bedeutung solcher Grundsätze vermittelnd und entscheidend eingreifen. Endlich ist sie der einzige Weg, um die Errichtung gemeinschaftlich zu benutzender Anstalten, wie Arbeitsnachweisbureaus, Beschäftigungshäuser, mit möglichster Vollkommenheit zu bewerkstelligen, während lokale Vereine für sich allein derartige Anstalten entweder gar nicht herstellen können, weil diese Aufgabe ihre Kräfte übersteigt, oder doch nicht mit demselben Erfolg betreiben können. In den letzten Jahren haben diese Einheitsbestrebungen zum Erfolge geführt. 1892 wurden die von einem besondern Ausschuß entworfenen Satzungen ein es Verbandes deutscher Schutzvereine angenommen, und der Verband trat ins Leben. Hauptgrundsatz ist die gleichmäßige Behandlung der aus den Anstalten der verschiedenen deutschen Staaten entlassenen Gefangenen. Sein Sitz ist zu Baden in Karlsruhe, wie denn überhaupt Baden auf dem Gebiete der Gefangenenfürsorge die mustergültigsten Einrichtungen getroffen hat. Noch ehe die nationale Zentralisierung innerhalb des Deutschen Reiches erzielt werden konnte, ist es gelungen, eine internationale Verbindung von Schutzvereinen zunächst zwischen der Schweiz und Deutschland herzustellen. Der internationale Gefängniskongreß in Petersburg (1890) hat den Wunsch ausgesprochen, es möchten solche Beziehungen zwischen den Schutzvereinen aller Länder geschaffen werden, und zwar nach folgenden Grundsätzen: Zusicherung des regelmäßigen und gegenseitigen Austausches der gemachten Erfahrungen; Ausdehnung der Fürsorge auf fremde Personen; Versprechen der Zurückbeförderung entlassener Gefangener in die Heimat oder anderwärtige Unterbringung in Arbeit. Außerdem sollen die erforderlichen Maßregeln für die Behandlung des sogen. Pekulium (s. oben, S. 438), hinsichtlich der Kleidung, der Legitimationspapiere und des ungehinderten Durchlasses der Schützlinge vereinbart werden und zur Beförderung der Herstellung eines internationalen Verbandes Zentralorgane für die Vereine der einzelnen Länder geschaffen werden.
Die Aufgaben der Schutzvereine lassen sich teilen in die Fürsorge während der Einsperrung und in die Fürsorge nach der Entlassung. Zweckmäßig werden schon während des Aufenthalts eines Schützlings in der Strafanstalt von den Vereinsorganen die erforderlichen Vorbereitungen getroffen, um den Hilfsbedürftigen unmittelbar nach der Entlassung in ein Arbeitsverhältnis zu bringen etc., weshalb eine immerwährende Verbindung zwischen der Strafanstaltsverwaltung und den Vereinsorganen wünschenswert ist. Soweit aber ein Übergangsstadium nicht zu vermeiden ist, dienen zur einstweiligen Unterbringung Asyle. Sie sind insbes. für die weiblichen Entlassenen kaum entbehrlich (Frauenheime), weil diese vor der Verbüßung einer längern Freiheitsstrafe meistens durch das Prostituiertenleben hindurchgegangen und deshalb viel schwerer zu versorgen sind. In neuester Zeit wurden zunächst zur Bekämpfung des Vagabundentums, mittelbar auch zur Erleichterung des Übergangs von der Strafanstalt in die freie Arbeit, die Arbeiterkolonien (s.d.) geschaffen.
Die Bedeutung, die dem Schutzvereinswesen für die Verhütung von Verbrechen, zumal für die Verminderung der Rückfallsziffer zukommt, hat die Frage nahegelegt, ob nicht eine nähere Verbindung unter den verschiedenen Vereinen zweckmäßig wäre, denen das Ziel: die Bekämpfung des Verbrechens durch Vorbeugungsmaßregeln, gemeinsam ist, z. B. Antibettelvereine, Naturalverpflegungs-Stationen, Herbergen zur Heimat, Anstalten für Arbeitsnachweis, Vereine zur Bekämpfung der Trunksucht etc. Wenn auch eine vollständige Zentralisation dieser verschiedenartigen Bestrebungen unmöglich ist, ja sogar schädlich wirken würde, weil die in größern Städten nötige Arbeitsteilung verloren ginge, so kann doch unter besondern Verhältnissen, insbes. an kleinern Orten, die Verbindung mehrerer solcher Aufgaben von Nutzen sein, indem sie eine größere Mitgliederzahl anzieht und dadurch die Kräfte des Vereins stärkt, vielleicht auch eine Ersparung an Kraft- und Kostenaufwand ermöglicht.
Die ersten Gefängniskongresse, zur Beratung von Fragen des Gefängniswesens sowie zum Austausch praktischer Erfahrungen berufen, fanden in Italien, der erste internationale Gefängniskongreß 1846 zu Frankfurt a. M., der zweite internationale Gefängniskongreß 1847 zu Brüssel statt. Die Reihe der sogen. offiziellen Kongresse, die von den Regierungen durch offizielle Vertreter beschickt wurden, und deren periodische Wiederholung durch die Teilnahme der Regierungen gesichert wurde, begann mit dem auf Veranlassung des Amerikaners Wines, Sekretär der New Yorker Gefängnisgesellschaft, 1872 in London zusammengetretenen Kongreß, der jedoch auffallenderweise von der englischen Regierung weder offiziell begrüßt noch sonst unterstützt wurde. Die durch offizielle Vertreter sich beteiligenden Regierungen hatten zugleich Berichte über den Stand des Gefängniswesens in ihren Ländern eingeschickt. Der Londoner Kongreß litt zwar unter der übergroßen Fülle von (30) Fragen, zeichnete sich aber gegenüber seinen Vorgängern durch Vermeidung allgemeiner Diskussionen und Beschränkung auf praktische Einzelheiten aus. Sein offizieller Charakter bildete die Grundlage für eine dauernde Einrichtung. Auf diesem Londoner Kongreß wurde das für dessen Vorbereitung gebildete internationale Komitee für permanent erklärt. Das Komitee hatte ursprünglich rein privaten Charakter, faßte jedoch in der ersten Sitzung (Brüssel 1874) den Beschluß.[439] die Regierungen zur Abordnung offizieller Vertreter einzuladen. Der Einladung zur folgenden Sitzung (Bruchsal 1875) entsprachen: Baden, Dänemark, Frankreich, Niederlande, Rußland, Schweden, Norwegen und die Schweiz. Nach dem Statut, das von der Hauptkommission in den dem Stockholmer Kongreß (20.- 26. Aug. 1878) unmittelbar vorausgegangenen Sitzungen auf Grundlage des Entwurfes festgestellt wurde, sollte die Kommission in Zukunft das Material in bezug auf die Verhütung und Bekämpfung der Verbrechen sammeln, um die Regierungen über die allgemeinen Maßregeln aufzuklären, die in dieser Richtung zu ergreifen sind; ferner ein Bulletin herausgeben und in demselben die Gutachten für zukünftige Kongresse, Gefängnisstatistik, Gesetze, Verordnungen und Abhandlungen über Strafensysteme und Strafvollzug veröffentlichen; die Mitglieder der Kommission sollten zwar von den Regierungen ernannt werden, ohne daß jedoch ihre Beschlüsse für die vertretenen Regierungen bindende Kraft haben würden; dagegen übernahmen die in der Kommission vertretenen Regierungen die Kosten des Unternehmens. In der auf den Stockholmer Kongreß folgenden Kommissionssitzung (Paris 1880) traten dem Statut bei: Baden, Bayern, Dänemark, Italien, Niederlande, Norwegen, Rußland, Schweden und die Schweiz; später traten noch Frankreich und Ungarn hinzu, während Schweden ausschied.
Auf den Stockholmer Kongreß folgten die internationalen Gefängniskongresse zu Rom (1885), Petersburg (1890), Paris (1895) und Brüssel (1900).
[Literatur.] »Handbuch des Gefängniswesens in Einzelbeiträgen«, herausgegeben durch v. Holtzendorff und v. Jagemann (Hamb. 1888. 2 Bde.); Krohne, Lehrbuch der Gefängniskunde (Stuttg. 1889); Julius, Vorlesungen über die Gefängniskunde (Berl. 1828); Mittermaier, Die Gefängnisverbesserung (Erlang. 1858); Aschrott, Strafensystem und Gefängniswesen in England (Berl. 1887, Nachtrag 1896); Füeßlin, Die Grundbedingungen jeder Gefängnisreform im Sinne der Einzelhaft (das. 1865); Beltrani-Scalia, Sul governo e sulla riforma delle carceri (Turin 1867); Dalcke und Genzmer, Handbuch der Strafvollstreckung und Gefängnisverwaltung in Preußen (2. Aufl., Berl. 1889); Wulff, Die Gefängnisse der Justizverwaltung in Preußen (2. Aufl., Hamb. 1900); Leitmaier, Österreichische Gefängniskunde (Wien 1890); Marcovich, Das G. in Österreich (das. 1899); Hintrager, Amerikanisches Gefängnis- und Strafwesen (Tübing. 1900); über Gefängnisarbeit die Schriften von Falkner (Jena 1888), Liszt (Berl. 1900) und Art. »Gefängnisarbeit« im »Handwörterbuch der Staatswissenschaften« (2. Aufl., Bd. 4, Jena 1900); Behringer, Die Gefängnisschule (Leipz. 1901); Fuchs, Die Vereinsfürsorge zum Schutz für entlassene Gefangene (Heidelb. 1888) und Die Gefangenenschutztätigkeit und die Verbrechensprophylaxe (Berl. 1899); Morrison, Jugendliche Übeltäter (deutsch von Katscher, Leipz. 1899). S. auch die Artikel »Gefängnisbauten« und »Gefängnishygiene«.
Zeitschriften: »Blätter für Gefängniskunde« (Heidelb., seit 1864, jetzt hrsg. durch v. Engelberg); die Verhandlungen der internationalen Kongresse für G., seit 1872; »Rivista delle discipline carcerarie« (hrsg. von Beltrani-Scalia, Turin u. Rom, seit 1871) und die »Revue pénitentiaire« (Par., seit 1877).
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