Jesuīten

[239] Jesuīten (Gesellschaft Jesu, lat. Societas Jesu, daher die Abkürzung S. J.), geistlicher Orden, gestiftet mit dem Zwecke, sich nicht nur dem eignen Heil und der eignen Vollkommenheit, sondern auch der der Mitmenschen mit Gottes Gnade angelegentlich zu widmen. Die weltgeschichtliche Bedeutung des Ordens besteht darin, daß er zur Erreichung dieses Zweckes die dem römischen Katholizismus innewohnenden geistlichen und weltlichen Kräfte, zumal im Kampfe gegen den sie bedrängenden Protestantismus, neubelebt und ihnen zur schärfsten Ausprägung verholfen hat, mit unerbittlicher Folgerichtigkeit und unter oft skrupelloser Verwertung des Grundsatzes: wenn der Zweck erlaubt ist, sind es auch die Mittel (si finis est licitus, etiam media sunt licita). Den Namen Compañia Jesu, Fähnlein Jesu, gab ihm der Stifter, Ignaz von Loyola (s. hierüber und über die Anfänge des Ordens den Art. »Loyola«), nachdem er (1538) in einer Vision gesehen hatte, wie Gott Jesu den besondern Schutz der kleinen Gesellschaft übertrug, die sich aus einer frommen Studentenverbindung (1 ö. Aug. 1534) zu einer Priestergesellschaft für innere Mission zu entwickeln begonnen hatte. Entscheidend für die Zukunft wurde, daß die Mitglieder zu den drei Mönchsgelübden als viertes fügten, ihr Leben dem beständigen Dienst Christi und der Päpste zu widmen, unter dem Kreuzesbanner Kriegsdienste zu leisten, nur dem Herrn und dem römischen Oberpriester, als dessen irdischem Stellvertreter, zu dienen, so daß, was immer der gegenwärtige Papst und seine Nachfolger in Sachen des Heils der Seele und der Verbreitung des Glaubens ihnen befehlen, und in welche Länder immer er sie entsenden möge, sie ohne jegliche Zögerung und Entschuldigung sogleich, soweit es in ihren Kräften liege, Folge zu leisten gehalten sein wollten. In einem Zeitpunkt, da alle Welt dem Papste den Gehorsam aufkündigte, legte sich ihm hier ein neuer Orden unbedingt zu Füßen. Am 27. Sept. 1540 bestätigte ihn Papst Paul III. durch die Bulle Regimini militantis ecclesiae, und Julius III. erweiterte seine Vorrechte in ausgedehnter Weise. Die J. wurden mit den Rechten der Bettelmönche und der Weltgeistlichen zugleich ausgestattet, mit ihren Gütern von aller weltlichen Gerichtsbarkeit und Besteuerung, auch von bischöflicher Abhängigkeit befreit und hatten demnach außer ihrem Ordensobern und dem Papst keinen Herrn an zuerkennen; sie erhielten die Befugnis, alle Priesterfunktionen, sogar während eines Interdikts, zu ver richten, von allen Kirchenstrafen und Sünden loszusprechen, die Gelübde der Laien in andre gute Werke zu verwandeln, von Fastengeboten, von Abwartung der kanonischen Stunden, vom Gebrauch des Breviers sich selbst zu dispensieren sowie überall Kirchen und Güter zu erwerben und Ordenshäuser anzulegen. Dazu erhielt ihr General neben einer ausgedehnten Gewalt über alle Ordensglieder die Befugnis, sie in jederlei Aufträgen überall entsenden, sie allerwärts als Lehrer der Theologie anstellen und mit akademischen Würden bekleiden zu können.

Organisation des Jesuitenordens.

In den Konstitutionen und der darauf beruhenden gesellschaftlichen Gliederung des Ordens charakterisiert sich aufs sprechendste die schon im Stifter zu bemerkende Verbindung schwärmerischer Frömmigkeit und weltkluger Berechnung. Religiös-sittliche Motive und politische Kunst und Klugheit haben zusammen gewirkt, um eine mannigfaltig verzweigte, aber einheitliche Ordensregel zu schaffen und der Gesellschaft ihre einzigartige Organisation zu geben. Wille und Einsicht der ganzen Gesellschaft werden in der Hand des Generals zu einem gefügigen Werkzeug, das keinem Befehl versagt. Dem alten Soldaten, der den Orden gestiftet hatte, galt die Subordination als das Geheimnis aller Machtentfaltung, als die Seele aller Tugend. »Ein jeder sei überzeugt, daß diejenigen, die unter dem Gehorsam leben, von der göttlichen Vorsehung durch Vermittelung ihrer Vorgesetzten sich ebenso bewegen und regieren lassen müssen, wie wenn sie ein Leichnam wären (perinde ac si cadaver essent).« Innerhalb des durch die Konstitution gezogenen Spielraums schaltet der in Rom residierende General (Pater Generalis, in der Anrede: Admodum Reverende P. Generalis) souverän, so daß der einzelne, nicht aber die Gesellschaft in seine Hand[239] gegeben ist. Nur dem Papst verpflichtet, setzt er alle höhern Beamten ein und ab, verfügt über den Rang und die Wirksamkeit der Mitglieder, handhabt die vom heiligen Stuhl erhaltenen Privilegien, Gerechtsame und Konstitutionen und übt überhaupt volle Regierungs- und Jurisdiktionsgewalt aus. Er hat in den fünf (früher sechs) Beisitzern (Assistenten) gleichsam genossenschaftliche Anwalte, die ihn bei schwierigen Geschäften durch Rat und Tat unterstützen, aber auch beobachten und, wenn er trotz der von dem Warner (Zensor, Admonitor) ausgehenden Abmahnung bei Mißgriffen oder den Ordensregeln zuwiderlaufendem Leben verharrt, vor die Generalkongregation bescheiden und hier auf Absetzung antragen dürfen. Diese Generalkongregation, die den General wählt, besteht aus den Assistenten, Provinzialen und je zwei Abgeordneten jeder Provinz. Ähnlich dem General, der ihn ernennt, übt der Provinzial (praepositus provinciae) in seinem bald größern, bald kleinern Kreis die gleichfalls von Beisitzern und dem Warner gezügelte Amtsgewalt aus, untersucht jährlich einmal sorgfältig den Stand des Bezirks und überwacht auf Hochschulen und in Kollegien Lehrer und Schüler. Dem Provinzial unmittelbar untergeordnet sind die Vorsteher der Profeßhäuser (superiores), in denen die vollendeten J. (professi quatuor votorum) wohnen. Die gleichfalls von Räten und Mahnern (monitores) umgebenen Rektoren oder Vorsteher der Kollegien leiten die wissenschaftliche Tätigkeit und den Schulbetrieb des Ordens. Ein geregelter Briefwechsel verknüpft alle Gebiete und vermittelt alle Gesellschaftsbeziehungen. Wöchentlich einmal statten die Rektoren und Vorsteher der Profeßhäuser dem Provinzial Bericht ab, worauf jeden Monat Bescheid erteilt wird. Sämtliche Provinziale in Europa schreiben dem General monatlich einmal, die Rektoren und Hausvorsteher alle drei Monate. Die Beamtenkontrolle wird so geführt, daß der General nicht nur im Besitz vollständiger Kataloge ist, worin die einzelnen Ordensglieder nach Namen, Alter, Studien, Beschäftigungen, geistiger Befähigung charakterisiert sind, sondern auch über die Entwickelung und Bewährung aller Arbeiter beständig auf dem Laufenden gehalten und dadurch in den Stand gesetzt wird, für jeden Posten sofort den geeigneten Mann zu ersehen. Aus den einlaufenden zahllosen Einzelberichten geht der jährlich in Rom in lateinischer Sprache abgefaßte Generalbericht über den Stand der Provinz hervor. Den untersten Grad des Ordens bilden die Novizen, die der von einem Gehilfen (socius) unterstützte Novizenmeister (magister novitiorum) im Probehaus (domus probationis) beaufsichtigt und leitet. Zwanzig Tage lang dauert die Kandidatur binnen der man den Kandidaten vorläufig beobachtet und durch bestimmte vom Prüfer (Examinator) gestellte Fragen zu erforschen trachtet. Für den Zugelassenen, der vor allem körperlich gesund und geistig befähigt sein muß, beginnt nun die Probezeit (Noviziat). Die von 4 Uhr morgens bis 9 Uhr abends genau geregelte Tagesordnung leitet den Neuling zur Entsagung und zum Gehorsam an: er lernt beten und meditieren, in rechter Weise beichten und dem Gottesdienst beiwohnen. Daneben hat er sich auch in niedern Dienstleistungen zu üben. Mit Strenge wird darauf gesehen, daß er die Andachtsübungen und Kasteiungen nicht übertreibt. Nach zweijähriger Probezeit tritt der Novize, nach Ablegung der Ordensgelübde (Armut, Keuschheit und des Gehorsams) als Scholastikus der Gesellschaft bei, deren Zwecke er von nun an tätig fördert, ohne noch die innersten Einzelheiten des großen Maschinenwerkes zu kennen. Seine Gelübde binden ihn und auch den Orden insofern, als der Scholastiker nicht ohne wichtige und gerechte Gründe entlassen werden darf. In dieser Klasse bleibt der Jesuit je nach seinen Fortschritten 8–15 Jahre. Die dritte Klasse der Ordensmitglieder bilden die Koadjutoren (Mithelfer). Man unterscheidet zeitliche Koadjutoren (coadjutores temporales), Laienbrüder, die als Verwalter, Diener, Köche, Handarbeiter für die physischen Bedürfnisse des Ordens sorgen, und bei denen nicht einmal Lesen und Schreiben vorausgesetzt wird, und geistliche Koadjutoren (coadjutores spirituales), Priester, die den Jugendunterricht besorgen und im Beichtstuhl und auf der Kanzel wirken. Den höchsten Grad erlangt in der Regel nur, wer als Scholastikus in einem Ordenskollegium jahrelang sich mit allgemein wissenschaftlichen Fächern beschäftigt, diese wiederum jahrelang als Hilfslehrer vorgetragen, hierauf vier Jahre lang Theologie studiert und noch ein Jahr auf Wiederholung der Novizialsübungen verwendet hat (das sogen. Tertiat). So kann er etwa im 18. Jahr seines Ordenslebens Aufnahme in die Zahl der Professen von vier Gelübden (professi quatuor votorum) finden.

Wappen des Jesuitenordens
Wappen des Jesuitenordens

Diese allein, als die eigentlichen J., verwalten die höchsten Ämter, wählen aus ihrer Mitte den General und erscheinen auf den in Rom abgehaltenen Generalkongregationen. Hinsichtlich des Vermögens gilt der Unterschied, daß die Profeßhäuser von milden Gaben lebten, die Kollegien und Novizenhäuser aber gemeinschaftliche Einkünfte erwerben durften. Regel und Einrichtung des Ordens, dessen Wappen die obenstehende Abbildung zeigt, ist enthalten in dem amtlichen Institutum Societatis Jesu (Prag 1757, 2 Tle.; neueste Ausgabe, Rom 1869 ff., 3 Bde.).

Inneres Ordensleben.

Das innere Ordensleben charakterisiert sich besonders nach den vier Seiten der häuslichen Zucht, des Gottesdienstes, des Unterrichts und des Missionswesens. Die Hausregel oder Tagesordnung strebt möglichstes Aufgehen der individuellen Triebe und Kräfte im Gesamtinteresse an. Obenan steht die Pflicht, gegenüber den Befehlen der Obern dem eignen Willen zu entsagen. Niedrige, ja widerwärtige Geschäfte (officia abjecta) muß man so lange betreiben, bis die ursprüngliche Abneigung besiegt ist, für jeden Brief die Erlaubnis des Obern nachsuchen, alle Falten und Geheimnisse des Herzens, alle Fehler und Gebrechen nicht nur im Beichtstuhl enthüllen, sondern auch sonst über solche, wenn sie an einem Mitbruder entdeckt werden, freilich mit der dem Bruder schuldigen Liebe, berichten, endlich zweimal des Tages sein Gewissen prüfen. Der dem Jesuiten zur unausweichlichen Pflicht gemachte blinde Gehorsam gegen die Obern (»Kadavergehorsam«, vgl. oben) findet seine freilich leicht verrückbare Grenze nur an sündigen Forderungen. Die Selbstüberwindung gegenüber den Banden des Blutes fordert Unterordnung auch der angebornen Naturgefühle, einschließlich der Liebe zu Eltern und Verwandten, unter den höchsten Zweck. Nicht weniger soll die Eifersüchtelei der Nationalität im Kreis der Bruderschaft verschwinden, daher Streitigkeiten über politische Gegenstände verboten sind. Jedes Mitglied soll nach Kräften Engelsreinheit des [240] Geistes und Leibes erstreben. Gang, Schritt, Gestikulation, Stimme, Haltung sind genau vorgeschrieben. Der Jesuit wandelt in der Kleidung der Weltpriester, zu Hause mit dem Biret (s. d.), in der Öffentlichkeit meist mit dem flachbodigen Krempenhut angetan; sein Haupt soll er mit leichter Beugung nach vorn tragen; die Augen sollen den Boden suchen und nur den untern Teil des Gesichtes des Angeredeten fixieren. Auch auf etwaigen Wanderungen soll der Jesuit sich in den Ordenskreis hineindenken und in bestimmten Fristen vorgeschriebene Reisegebete wiederholen. Die Armut soll als eine eherne Ordensmauer (religionis murus) geliebt und geübt werden. Niemand soll irgendwie Eigentum haben, jedermann mit dem geringsten Hausgerät und Bedarf zufrieden und, im Fall Not oder Gebot es erfordern, bereit sein, das Brot von Tür zu Tür zu erbetteln, auch nicht Lohn und Almosen nehmen für geistliche Handlungen, als k Neffe, Beichte, Predigt, Unterricht. So wenigstens lauten die Konstitutionen, die freilich durch päpstliche Dispense gerade auf diesem Punkt Änderungen erfuhren, in deren Folge der Orden bald zu großem Reichtum gelangte.

Gottesdienst, Predigt und Seelsorge sind streng an die Überlieferung der römisch-katholischen Kirchenlehre gebunden; der Erreichung des höchsten Zweckes dient vornehmlich die Förderung des Empfanges der Sakramente und werktätigen christlichen Lebens. Während die J. in der Verfolgung dieses Zieles die Lehren von der Gnade und Vorherbestimmung im Gegensatz zu Bajus (s. d.) und Jansen (s. d. 1) einer fast rationalistischen Kritik unterwarfen, beförderten sie auf der andern Seite das phantastische Moment in der Religion, vornehmlich im Marienkult (s. Marianische Kongregationen). Aber auch sonst fand aller Heiligen-, Bilder- und Reliquiendienst die eifrigste Unterstützung, Fortbildung und Verbreitung. Nichts wurde verabsäumt, um neben der schlagfertigen Frömmigkeit, die jede Kapitulation mit dem Feinde verschmäht, den religiösen Sinn an die Interessen des Ordens zu knüpfen. Für diesen bringt man im Beginn des Jahres, Monates, der Woche ein besonderes Meßopfer dar; die Wohltäter und Gönner finden in Gebeten und Messen dankbares Gedächtnis, kein wichtiges, der römisch-katholischen Kirche und Bruderschaft günstiges Ereignis bleibt ohne gottesdienstliche Feier. Das ganze Räderwerk der mannigfaltig abgestuften Kultusangelegenheiten ist durch bestimmte Vorschriften geregelt.

Eine bestimmte Eigentümlichkeit der jesuitischen Askese bildet die unter dem Namen der geistlichen Übungen künstlich gegliederte Andacht. Den methodisch-didaktischen Leitfaden gewähren Loyolas »Exercitia spiritualia« (s. d.; Übersetzung von Handmann, Regensb. 1904), denen schon 1548 Papst Paul III. durch besonderes Breve gleichsam kanonische Weihe verlieh. Es enthält eine nach vier Wochen, der religiös-geistlichen Dienstzeit, geordnete förmliche Anweisung zur Prüfung des eignen Gewissens und zum Beten. Diese geistlichen Übungen, die jeder Jesuit während des Noviziats und Tertiats, in abgekürzter, auf 8–10 Tage ausgedehnter Form, aber auch sonst mehrfach durchmachen muß, konnten um so weniger ihre Wirksamkeit verfehlen, je planmäßiger das wissenschaftlich-pädagogische Element von dem Orden entwickelt und für praktische Endergebnisse benutzt wurde. Wollte man den Siegesgang der Reformation aufhalten, so erschien vor allem wirksamste Konkurrenz auf dem Gebiete des Unterrichts notwendig. Daher hat der Orden, der ursprünglich nur den Unterricht der niedern Klassen im Katechismus, also eine Art Christenlehre, beabsichtigt hatte, sein Augenmerk immer mehr auf die Erziehung und Bildung der heranreifenden Generationen überhaupt gerichtet und den Zweck des Jugendunterrichts in seine Ordensregel aufgenommen. Um möglichst viele Zöglinge zu gewinnen, ward der Unterricht im Prinzip unentgeltlich erteilt, und zwar den Kindern aller Stände. Abgesehen aber war es besonders auf Söhne aus bessern Ständen und talentvolle Köpfe. Hatte bei der Wiederaufnahme des Studiums des klassischen Altertums in Italien und Deutschland teils die ästhetisch-sprachliche, teils die kritisch-historische Seite das Übergewicht erhalten, so trat in den Jesuitenschulen der Humanismus in den Dienst des römisch-mittelalterlichen Kirchentums. Freilich war es fast ausschließlich das Lateinische, nicht das Griechische, was die Gesellschaft pflegte. War doch das Latein zugleich Kirchen- und Gelehrtensprache des ganzen Abendlandes. Als solche paßte es vortrefflich zu den römischen Tendenzen des Ordens: die nationale Bildung ward vielfach zurückgedrängt und die katholische Theologie unumschränkte Königin der Wissenschaften. Die Ausbildung einer schlagfertigen Geistlichkeit und einer von Ehrfurcht vor dem priesterlichen Stand erfüllten, unterwürfigen Laienschaft, dies ist das Ziel aller Lehranstalten. Ihre Grenzen und Befugnisse, ihre Hilfsbücher, Arbeits- und Mußestunden, Strafen und Belohnungen etc., alles ist durch feste Vorschriften gegen Ungewißheit oder Willkür sichergestellt. Selbst in Dingen, die nicht dem Glauben und der Frömmigkeit angehören, soll jeder Lehrer, auf eignes Urteil verzichtend, die Ansichten bewährter Meister und die Gebräuche katholischer Schulen darlegen. So wurden Aristoteles auf philosophischem, Hieronymus auf exegetischem, Thomas auf dogmatischem Gebiet Vorbilder des großen Gedankenregenten in Rom, für dessen Dienst die J. erzogen wurden. Der unter dem General Aquaviva 1584 ausgearbeitete Studienplan (»Ratio atque institutio studiorum Societatis Jesu«, neueste Ausg. von Pachtler in den »Monumenta Germaniae paedagogica«, Berl. 1887–94, 4 Bde.) lehnt sich eng an humanistische Vorbilder, wie die Schulordnung des evangelischen Straßburgers Joh. Sturm und die Schola aquitanica (Collège de Guienne), an. Erst eine zweite Bearbeitung von 1599 erlangte wirkliche Geltung. Mit wenigen Zusätzen vom Jahr 1616 und einigen, die Grundsätze nicht berührenden Änderungen des Generals Roothaan vom Jahr 1832 gilt die Ratio studiorum noch heute; wo staatliches Öffentlichkeitsrecht erworben wurde, ist sie dem staatlichen Studienplan angepaßt. Nach ihr ist der Lehrgang so eingerichtet, daß die niedern Studien (studia inferiora) den fünf oder sechs Gymnasialklassen (Principia, Rudimentum. Syntaxis, Humanitas, Rhetorica), die höhern Studien (studia superiora, d. h. Philosophie und Theologie) den beiden Lyzealklassen (Facultas artium und Theologia) zufallen. Die drei untern Gymnasialklassen werden auch unter der Bezeichnung Grammatik, wie die beiden obern unter dem Namen Humanität zusammengefaßt. Die Gymnasialklassen bis auf die zweijährige Rhetorik haben einjährigen Lehrgang. Die philosophischen Studien sind auf drei, die theologischen auf vier Jahre berechnet. Die Realien mit Ausnahme von etwas Physik und der den Handelszwecken dienstbaren Mathematik wurden vernachlässigt, und ganz besonders suchte man rhetorisch-dialektische Gewandtheit zu erzielen. Diesem Zweck dienten namentlich die sogen. akademischen [241] Vereine, in denen die Zöglinge unter der Vorsteherschaft eines Lehrers und nach ihren verschiedenen Stufen als Grammatiker, Humanisten, Rhetoriker, Philosophen, Theologen Aufgaben in mündlicher und schriftlicher Rede behandelten, Vorträge hielten und beurteilten, Sätze verteidigten und angriffen etc. Als Zuchtmittel gebrauchte man vorwiegend stark gespornte Ehrliebe und führte nach den Kenntnissen und Sitten bestimmte Klassenplätze sowie Prämien ein. Auch hier hatte jeder Schüler seinen Nebenbuhler und in ihm zugleich seinen Aufseher. Auf Wetteifer (aemulatio) beruhte die ganze Disziplin. So erhielt der Orden nach und nach einen Stamm von Zöglingen, denen in den meisten katholischen Ländern die Leitung des Unterrichts zufiel, und die dabei einer religiös-körperschaftlichen Richtung folgten, deren Endergebnisse weniger der Wissenschaft als dem kirchlichen Leben förderlich werden mußten.

Der letzte Hebel des wachsenden Einflusses des Jesuitenordens war endlich der, daß er die Mission oder Heidenbekehrung in den Bereich seiner Tätigkeit zog. Dies hatte schon in dem ursprünglichen Gedanken Loyolas gelegen, und in dem Mitbegründer des Ordens, Franz Xaver (s. d.), erstand ihm einer der größten Heidenmissionare, die das Christentum aufzuweisen hat. Aber auch auf dem im äußersten Notfall betretenen Weg der den Deckmantel des Glaubenseifers umwerfenden Eroberung oder einer schlauen Handelspolitik haben die I. in Ost- und Westindien, in Japan wie in China und Abessinien dem Christentum und ihrer Gesellschaft Tausende von Anhängern gewonnen. Dabei wendete man alle erdenklichen Mittel und Künste der Bekehrung an, verschmolz althergebrachte Vorstellungen und Gebräuche mit christlich-katholischen Begriffen und Gewohnheiten, bahnte sich in Ostindien bald als christlicher Brahmane zu den Großen, bald als Freiheit verkündender Apostel zu den unterdrückten Volksmassen den Weg, trat in Japan als Lehrer und Vollstrecker eines strengen Sittengesetzes den wollüstiger Trägheit sich hingebenden Priestern entgegen und machte Partei bei dem der üppigen geistlichen Standesgenossenschaft grollenden Adel, gewann in China durch Meßkunst und Sterndeuterei Eingang und Ansehen, übernahm im spanischen Südamerika die Anwaltschaft der unterdrückten Eingebornen, handhabte das christliche Gebot der Bruderliebe durch Kampf wider Sklaverei und Gründung des sozialistisch-theokratischen Jesuitenstaats Paraguay. Indessen erlahmte die Kraft der jesuitischen Mission in demselben Maß, als die von ihr geübte Anbequemung an heidnischen Kult und Aberglauben von den Päpsten untersagt und der anfänglich versuchte Widerstand des Ordens gegen solche Maßregelung gebrochen wurde.

Geschichte und Ausbreitung des Jesuitenordens.

Nach dem Tode des Stifters zählte die Gesellschaft über 1000 Mitglieder, unter denen sich jedoch nur 35 Professen befanden, 51 Wohnsitze (Häuser) und 12 Provinzen, von denen 7 auf die Pyrenäische Halbinsel und die spanisch-portugiesischen Kolonien kamen. Die Mittelpunkte der jesuitischen Wirksamkeit, die Kollegien, gingen meist aus freiwilligen Gaben und Schenkungen hervor. So stiftete der spanische Vizekönig, Juan de la Vega, in Palermo, Karls V. Bruder Ferdinand in Wien und Prag, seine Töchter in Innsbruck, seine Schwester Magdalena in Hall Kollegien. In Spanien waren Salamanca und Alcalá die ersten Niederlassungen, die gegen Ende des Generalats Loyolas in Kollegien umgewandelt wurde. Nach und nach entstanden deren 25. In Portugal, wo die Gesellschaft an König Johann III. den ersten freigebigen Gönner und an seinem Enkel Sebastian (gest. 1578) einen untertänigen Schüler gewann, dienten die Kollegien in Coimbra, Lissabon, Evora, Braga und Oporto als Stützen und Werkstätten einer wahrhaft theokratischen Macht, der nicht nur Glaube und Wissenschaft, sondern auch Leben und Sitten des portugiesischen Volkes gehorchten. In Italien bildete das durch den Herzog Borgia, nachmaligen dritten Ordensgeneral (gest. 1572), in Rom gestiftete Kollegium (1551) den Mittelpunkt, von dem aus auf 120 Pflanzschulen eingewirkt wurde. Daneben diente das nur von jungen Deutschen besuchte deutsche Kollegium (s. Collegia nationalia) in Rom als ein Hauptrüstzeug für die Ordenszwecke jenseit der Alpen. In Frankreich, wo die J. 1562 nur unter sehr beschränkenden Bedingungen Aufnahme gefunden hatten, zählte man 1610: 36 Kollegien, 5 Noviziate, ein Profeßhaus. In Deutschland breitete sich der Jesuitenorden von drei Zentralpunkten, Ingolstadt, Wien und Köln, aus. Nachdem die Gesellschaft mit Beihilfe der bayrischen Herzoge Wilhelm IV. und Albrecht V. auf der Universität Ingolstadt steigendes Ansehen erworben und daselbst ein Kollegium gegründet hatte (1556), wurden in Dillingen (1563) und Augsburg (1579) Filialanstalten, in München (1559) ein selbständiges Kollegium errichtet und der höhere wie der untere Schulunterricht in die Hand genommen, indes Wien, wo Canisius (s. d.) ein rasch aufblühendes Kollegium (1551) stiftete, den Weg nach Prag (1556), Olmütz, Brünn in Mähren (1561), Tyrnau in Ungarn (1561), Graz in Steiermark, Innsbruck und Hall in Tirol bahnte. Von Köln aus, wo der Orden zuerst das akademische Kollegium der drei Kronen (1556) und bald die gesamte Universität unter seine Aussicht brachte, entstanden Pflanzungen in Trier (1561), Mainz (1561), Speyer, Aschaffenburg und Würzburg, ferner in Antwerpen, Löwen, St.-Omer, Cambrai und Tournai. Auch in Polen siedelten sich die J. in Braunsberg an (1565) und fanden bald danach auch Eintritt in Posen, Pultusk, dem livländischen Riga und Wilna (1570). Dagegen blieben Rußland, Norddeutschland, Skandinavien und Großbritannien dem Orden nach kurzen Schwankungen verschlossen. Überall ging das Hauptbestreben des Ordens dahin, dem Protestantismus Gebiete wieder zu entreißen, die er früher erobert hatte. Seit der Vorsteherschaft des fünften Generals, Aquaviva (1582–1615), der den drei Spaniern Ignaz Loyola, Laynez und Borgia nach der schwachen Regierung Mercurians (1573–81) folgte und seine monarchische Stellung allen Anfechtungen der spanischen Ordensbrüder gegenüber aufrecht erhielt, begann die Zeit der großen politischen Unternehmungen, der Intrigen, Gewalttaten und Erfolge. 1616 zählte der Orden 32 Provinzen, 13,112 Mitglieder, 803 Häuser, darunter 15 Profeßhäuser, 467 Kollegien, 63 Missionen, 165 Residenzen und 136 Seminare.

Diese Richtung des Ordens erweckte, abgesehen von dem natürlichen Neid, der ihm aus seiner gebietenden Macht- und Ausnahmestellung in der Kirche erwuchs, den J. unter der nicht jesuitischen Geistlichkeit und den alten Mönchsorden viele Gegner. Ihre Einmischung in politische Fragen führte, zumal in Frankreich, zu schlimmen Verdächtigungen. Schon die Ermordung Heinrichs III. wurde ihnen in die Schuhe geschoben, und nach dem Mordversuch ihres Schülers Châtel auf Heinrich IV. wurden sie 1595 feierlich aus Frankreich verbannt, freilich schon 1603 wieder zurückgerufen.[242] Der Teilnahme an der Ermordung Heinrichs IV. durch Ravaillac konnte man sie nicht überführen; das Buch des Jesuiten Mariana, das den Fürstenmord verteidigt, halfen sie selbst mit verdammen, und durch ihre geschickte Haltung gegen die Höfe sowie durch eine auf die Schwächen der Vornehmen klug berechnete beichtväterliche Praxis wußten sie sich in dem Besitz der Macht zu erhalten. So beherrschten sie vom Beichtstuhl aus nicht bloß die Bourbonen bis auf Ludwig XV., sondern errangen auch große Erfolge in den Niederlanden, besonders in Belgien, in Polen, wo sie die Könige seit Stephan Bathory (1575–86) fast durchgängig beherrschten, und in Deutschland, wo die Kaiser Ferdinand II. und Ferdinand III. ganz unter ihrem Einfluß standen, und wo sie im Dreißigjährigen Kriege die Seele der Liga waren. Durch den Pater Lamormain wurde der Sturz Wallensteins herbeigeführt und das schwankende Bayern in der Bundesgenossenschaft mit Österreich erhalten. In Frankreich traf sie ein empfindlicher Schlag durch den Jansenismus (s. d.). Beschuldigungen wurden gegen sie laut, die sie nicht widerlegen konnten; die in den »Lettres provinciales« von Pascal gegen sie erhobenen Anklagen waren das Signal zum Sturm. Man tadelte laut ihr theatralisches Unterrichtswesen, die Seichtigkeit ihrer Lehrart, die kasuistische Gewissenlosigkeit ihrer Moral. Dazu kamen die von wenig Gewissenhaftigkeit zeugenden Mittel, die sie bei ihren Heidenbekehrungen anwendeten, ihre Unverträglichkeit gegenüber den übrigen Missionaren, die offene Widersetzlichkeit, die sie in China und Indien sogar dem römischen Stuhl gegenüber entfalteten, der Handelsgeist, der ihre Unternehmungen charakterisierte. Unter dem Eindruck dieser Beschuldigungen kam es seit der Mitte des 18. Jahrh. zu einer umfassenden Reaktion gegen die J., die in der Aufhebung des Ordens durch den Papst gipfelte. Er zählte damals (1750) in 37 Provinzen 22,126 Mitglieder (darunter 10,594 Priester), 578 Kollegien, 150 Seminare, 60 Probehäuser, 25 Profeßhäuser, 195 Residenzen, 172 Missionen. In Portugal benutzte Pombal (s. d.) den Verdacht ihrer Mitschuld an dem Attentat auf König Joseph I. (1758) zur Erwirkung eines königlichen Edikts, durch das der Orden 3. Sept. 1759 in Portugal aufgehoben, die Mitglieder in gewalttätiger Weise in Schiffe gepackt und »als Geschenk für den heiligen Petrus« an den Küsten des Kirchenstaats ausgesetzt wurden.

In Frankreich wurde der Sturz der J. besonders durch die Ungunst, in der sie beim Minister Choiseul-Amboise und bei der Marquise Pompadour standen, und durch eine in ihren Folgen verderbliche Handelsunternehmung herbeigeführt. Der Pater Lavalette halte 1743 unter dem Vorgeben einer Mission zu Martinique ein Handelshaus gegründet, das den Handel fast aller benachbarten westindischen Inseln an sich zog; als zwei Schiffe, die er an das Handelshaus Lioncy in Marseille an Zahlungs Statt gesandt hatte, unterwegs von den Engländern gekapert wurden und Lavalette sich weigerte, Ersatz zu leisten, wurde vom Haus Lioncy ein Prozeß gegen die J. anhängig gemacht, der sie nicht nur zur Leistung des Schadenersatzes verurteilte, sondern auch sonstige Mißbräuche aus Tageslicht förderte. Sie wurden zur Abänderung ihrer Ordensstatuten angehalten; allein ihr damaliger Beschützer, Papst Clemens XIII., erklärte: »Sint, ut sunt, aut non sint.« So wurde der Orden in Frankreich 1764 durch königliches Dekret aufgehoben. Darauf erfolgte 1767 auch die Verbannung der J. aus Spanien, wo der Minister Aranda ihrer 5000 in einer Nacht verhaften und nach dem Kirchenstaat abführen ließ. Aus Neapel vertrieb sie gleichzeitig der Staatsmann Tanucci; auch aus Parma mußte der Orden 1768 weichen. Endlich hob ihn Papst Clemens XIV. 21. Juli 1773 mit dem Breve »Dominus ac redemptor noster« gänzlich auf. Ordensgeneral war damals Lorenzo Ricci. Jetzt kam es auch in Österreich und im katholischen Deutschland zur Aufhebung des Ordens. Mit Ausnahme von Spanien und Portugal verfuhr man jedoch allenthalben ziemlich gelind gegen die J., verwilligte ihnen Jahresgehalte von ihren eingezogenen Gütern und forderte bloß, daß sie sich unter die Aussicht eines Bischofs stellen oder andern Orden anschließen sollten. Friedrich II. von Preußen ließ sie sogar unter dem Namen von Priestern am königlichen Schulinstitut unterrichten und verbot ihnen nur das Tragen ihres Ordenskleides. 1786 wurden sie auch aus Preußen ausgewiesen. Aus Rußland waren sie zwar schon 1719 durch Peter d. Gr. verbannt worden, allein durch die Einverleibung des östlichen Teils von Polen fanden sie wieder Eingang und wurden nach der Auflösung des Ordens nicht nur geduldet, sondern erhielten 1782 sogar die Erlaubnis, sich einen Generalvikar zu wählen. Papst Pius VI. schenkte ihnen seine Gunst und beförderte die Exjesuiten zu wichtigen Stellen. Liguorianer oder Redemptoristen (s. d.) und Paccanaristen (s. d.) bildeten eine Zeitlang Ersatz für den Jesuitenorden. Der Plan, sich 1787 unter dem Namen Vinzentiner wieder aufzutun, scheiterte. Dagegen bestätigte Pius VII. 1801 ihren Orden in Weißrußland und Litauen, wo er unter dem Generalvikar Gruber sich von politischer Wirksamkeit fern hielt, und drei Jahre nachher stellte der Papst den Orden auch in Sizilien wieder her. Das Jahr 1811 brachte die Bestätigung des Ordens für ganz Rußland.

Am 7. Aug. 1814 verfügte endlich die Bulle Pius' VII.: »Sollicitudo omnium ecclesiarum« die allgemeine Wiederherstellung des Jesuitenordens. Am 11. Nov. 1814 erfolgte in Rom die feierliche Wiedereröffnung ihres Noviziats. Damals (1816) zählte der Orden nur 674 Mitglieder, die bis 1841 auf 3565 anwuchsen. Überall fanden die J. um so bereitwilliger Aufnahme, als man im Orden einen Bundesgenossen gegen den Geist der Revolution erblickte. In Modena erhielten sie 1815 ein Kollegium eingeräumt, und gleichzeitig fand ihre Restitution in Sardinien, Neapel und Spanien statt. In letzterm Lande hatte zwar die liberale Bewegung im März 1820 ihre abermalige Vertreibung, die Herstellung des Absolutismus 1823 aber auch ihre Rückkehr zur Folge. Abermals wurde der Orden 1835 und 1868 in Spanien verboten. In Portugal stellte ihn Dom Miguel 1832 wieder her; unter Dom Pedro 1834 mußte er das Land wieder verlassen. Später haben sich die J. in Lissabon und in andern Städten der Pyrenäischen Halbinsel wieder angesiedelt. 1892 gab es ihrer 1501 in Spanien, 149 in Portugal. In Frankreich gewährte ihnen selbst die Restauration bloß Duldung, und infolge der Julirevolution wurde der Orden für alle Zeiten aufgehoben. Gleichwohl bestanden sie auch unter Ludwig Philipp mehr oder weniger offen fort und zählten 1845: 351 Priester, 202 Scholastiker und 182 Laienbrüder. Besonders unter Napoleon III. trat ihr Einfluß im gleichen Verhältnis mit der wachsenden Macht des Klerus (s. Gallikanische Kirche) hervor. 1880 erfolgte ihre Austreibung. 1889 zählte man 2848 französische J.,[243] darunter 1598 Priester. Bei ihrer Austreibung 1880 betrug ihre Zahl in Frankreich 2464; sie verfügten über 60 Institute. In Belgien, wo die J. bei der Revolution von 1830 sehr tätig gewesen waren, haben sie auf das Unterrichts- und Erziehungswesen immer größern Einfluß erlangt. Das kleine Land beherbergte 1892 neben 405 Priestern 322 Kleriker des Ordens. In England besitzen sie seit dem Anfang des 19. Jahrh. Kollegien mit Erziehungsanstalten wie Stonyhurst mit Hodderhouse bei Preston in Lancashire u. a. 1892 hatte England 266 Priester und 216 Kleriker des Ordens. In Irland errichteten sie seit 1825 Ordenshäuser und Schulen. In den Vereinigten Staaten von Nordamerika ist ihr Einfluß ebenfalls im Zunehmen begriffen, ebenso in Südamerika trotz wiederholter Verbote und Austreibungen. Ungünstiger gestalten sich die Verhältnisse in Mexiko, wo der Orden 1868 verboten wurde. Gleichwohl standen schon 1892 wieder 25 Priester und 78 Scholastiker des Ordens in Mexiko. In Rußland erfolgte durch Ukas vom 25. März 1820 seine Aufhebung im ganzen russischen Reich und für immer. Ebenso ist der Einfluß der J. in Italien, wo Viktor Emanuel J. von Sardinien sie begünstigte, seit der Umwälzung von 1859 im Sinken begriffen; Korporationsrechte haben sie, seitdem der Orden im Königreich Italien verboten ist, nur in Rom. In der Schweiz fanden sie zuerst im Kanton Wallis Aufnahme, wo ein Kollegium in Brig entstand. Dann gründeten sie (1818) ein größeres Kollegium in Freiburg. Später faßten sie auch in andern Kantonen, namentlich in Luzern, Fuß; doch hatte ihre offizielle Berufung dorthin (im Herbst 1844) zuerst die Gründung des Sonderbundes, dann aber auch den Sonderbundskrieg und dadurch einen ihnen entschieden ungünstigen Umschwung der gesamten politischen Verhältnisse der Eidgenossenschaft zur Folge. Trotz ihrer Austreibung aus der Schweiz gibt sich ihr Einfluß noch hier und da kund; die Universität Freiburg ist freilich zurzeit antijesuitisch. In Deutschland fanden sie Aufnahme zunächst in Innsbruck, Graz und Linz und für einige Zeit auch in Anhalt-Köthen, als dessen Fürst zum katholischen Glauben übertrat. Die politische Reaktion nach 1848, in Verbindung mit der eintretenden Abspannung, die der revolutionären Aufregung folgte, war der Gesellschaft Jesu so günstig, daß sie durch Missionen und durch die geflissentliche Hervorhebung ihres die Revolution bekämpfenden Wirkens ihren Einfluß selbst über die Grenzen des katholischen Deutschland hinaus geltend gemacht hat. In Österreich hatten die J. bereits 1854 wieder drei Kollegien, und 1857 wurde ihnen die theologische Fakultät in Innsbruck übertragen; doch haben sie nicht alle Professuren der Fakultät inne. In Bayern, Preußen und in den Staaten der oberrheinischen Kirchenprovinz haben sie seit 1850 besonders als Reiseprediger (die Patres Roh, Klinkowström u. a.) eine große Tätigkeit entwickelt, und namentlich in der Rheinprovinz und in Westfalen war ihr Einfluß von Jahr zu Jahr in starkem Wachstum begriffen.

Aber die goldenen Tage der J. sollten erst in den spätern Zeiten der Regierung Pius' IX. (1846–78) anbrechen, der mit der Zeit ganz unter ihren Einfluß geriet. Neben ihm, dem »weißen Papst«, regierten in Rom als »schwarzer Papst« der Jesuitengeneral Pater Roothaan (1829–53) und sein Nachfolger, Pater Beckx (bis 1884). Dessen Nachfolger Anderledy (bis 1892) erhielt vom Papst Leo XIII. die Bestätigung aller Privilegien, die dem Orden jemals von Päpsten verliehen worden waren. Auf diese drei Generale aus der deutschen Assistenz folgte der Spanier Pater Martin, gewählt 1. Okt. 1892 im Kollegium Loyola. Unter Leitung der Genannten haben die J. es fertig gebracht, der katholischen Kirche des 19. Jahrh. ihren Ordensstempel auszudrücken, ihr Prinzip zum herrschenden in der Kirche zu machen. Die katholische Presse, namentlich die vom Vatikan inspirierte, von J. geschriebene »Civiltà cattolica«, läßt keinen Zweifel darüber, daß die herrschende Meinung in der Kirche genau den Ideen Gregors VII. und Bonifatius' VIII. entspricht. Schon 1854 wurde das von den J. gegen die Dominikaner verfochtene Dogma von der unbefleckten Empfängnis der Maria vom Papst kanonisiert. Zehn Jahre später verkündigten Enzyklika und Syllabus der erstaunten Welt, daß auch die politischen und kirchenpolitischen Theorien der J. vom heiligen Stuhl akzeptiert werden sollten. Erst die J. haben die ultramontane Theologie aus dem Gebiete der bloßen Spekulation in das praktische Leben zu übertragen und zur äußerlichen Geltung in der Kirche zu bringen gewußt, bis 1870 ihr Werk mit der Proklamierung der päpstlichen Unfehlbarkeit seine Krönung fand. In eindrucksvoller Weise haben im Gefolge Liguoris (s. d.) die modernen jesuitischen Ethiker, wie Gury (s. d.) und Lehmkuhl (s. d.), die moralischen Grundsätze des Ordens vertreten und gezeigt, wie diese Grundsätze in den tausendgestaltigen Fällen der Wirklichkeit zu verwenden sind. Steht es auch buchstäblich in keinem ihrer Lehrbücher geschrieben, so faßt man doch den Geist derselben sachentsprechend in dem Grundsatz zusammen, daß der Zweck (bez. Ordenszweck) die Mittel heilige. Freilich ist es ein Mißverständnis, daß die J. diesen Grundsatz geschaffen haben, denn sie sind in diesem Stücke wie in manchen andern nur Erben der Scholastik. Aber sie haben ihn in einer Weise theoretisch erläutert und praktisch ausgenutzt, die ihn für alle Zeiten als das Grundmerkmal jesuitischer Moral erscheinen lassen wird. Eingekleidet wird der Grundsatz in die Losung des Ordens, wonach sein letzter Zweck die größere Ehre Gottes ist, sämtliche Mittel, sie zu vergrößern, daher gut sein müssen (omnia in majorem Dei gloriam), was natürlich unter der Voraussetzung zu verstehen ist, daß der Orden stets wisse, was zur größern Ehre Gottes dient. Jedenfalls verzichtet die jesuitische Moraltheologie grundsätzlich auf das Gesetz, das die sittliche Natur des Menschen mit sich bringt, und gibt anstatt dessen ein Gesetzbuch, in dem alle möglichen und unmöglichen Gewissensfälle spitzfindig erörtert und zugunsten des kirchlichen Interesses entschieden werden. Ein besonders charakteristischer Zug liegt dabei in dem sogen. Probabilismus (s. d.), d. h. der Lehre, daß in solchen Fällen, wo das Urteil über eine Sache Gründe für sich wie gegen sich hat, dasjenige ohne Gewissensnot und selbst gegen eigne Überzeugung geschehen und als »wahrscheinlich« richtig angenommen werden dürfe, was auch nur einige oder nur ein einzelner angesehener Theolog (doctor gravis et probus) billigen. Ferner wird gelehrt, der sittliche Charakter jeder einzelnen Handlung werde durch die dabei obwaltende Absicht bestimmt, so daß selbst eine verbotene Handlung dadurch, daß man ihr eine gute Absicht unterschiebt, gerechtfertigt erscheint (methodus dirigendae intentionis). Endlich wird jede Wahrhaftigkeit des Verkehrs dadurch gestört, daß bei Eiden, Versprechungen oder Zeugnissen ein geheimer Vorbehalt (reservatio mentalis) und Zweideutigkeit des Ausdrucks als zulässig gelten.[244]

Zu der wachsenden Empörung, die diese in Predigt, Beichtstuhl und Jugendunterricht verbreiteten Grundsatze allmählich hervorriefen, trat nun seit 1871 ein politischer Gesichtspunkt, der in den J. eine Gefahr für das neue Deutsche Reich erkennen ließ. Dem Jesuitismus erschien dasselbe, weil durch das protestantische Preußen entstanden, von vornherein als ein Gegenstand des Abscheues und der entschiedenen Bekämpfung. In steigendem Maße suchte der Orden bei den Wahlen, in der Volksvertretung und im kirchlichen und bürgerlichen Gemeinwesen seine antinationalen Zwecke zu fördern, was um so gefahrdrohender erschien, als seit der Unterwerfung der deutschen Bischöfe unter die vatikanischen Dekrete auch die übrige katholische Geistlichkeit, selbst wo sie den J. durchaus nicht günstig gestimmt war, sich den Zielen des Ordens dienstbar hatte machen lassen. Unter diesen Verhältnissen schien ihre Ausweisung Pflicht der Selbsterhaltung, sie erfolgte durch das Reichsgesetz vom 4. Juli 1872 (s. Jesuitengesetz). Am 8. März 1904 wurde der zweite, auf den Aufenthalt der einzelnen J. bezügliche Paragraph des Gesetzes wieder aufgehoben.

Der Jesuitenorden zählte 1904: 15,404 Mitglieder (darunter 6992 Priester) in 23 Provinzen, die zu fünf Assistenzen zusammengelegt sind. Die Verteilung ist folgende: 1) die italienische Assistenz (Rom, Neapel, Sizilien, Turin, Venedig): 1920 Mitglieder (darunter 865 Priester); 2) die deutsche (Deutschland, Österreich-Ungarn, Galizien, Belgien, Holland): 4302 (1918), davon auf die deutsche Provinz entfallend: 1438 (605); 3) die französische (Isle de France, Lyon, Champagne, Toulouse): 3083 (1638); 4) die spanische (Kastilien, Aragonien, Toledo, Portugal, Mexiko): 3354 (1311); 5) die englische (England, Irland, Maryland-New York, Missouri und die drei Missionsbezirke Kanada, New Orleans und Sambesi): 2745 (1260). Das Wachstum des Ordens in den verschiedenen Perioden seiner Entwickelung veranschaulicht nachstehende Tabelle (vgl. Boehmer-Romundt in der unten aufgeführten Schrift, S. 118 u. 163):

Tabelle

In neuerer Zeit haben die J. eine besonders rege und vielseitige schriftstellerische Tätigkeit auf dem gelehrten und dem schönwissenschaftlichen Gebiet entfaltet, indem sie sich dabei den Forderungen der modernen Zeit mit Geschick und ohne ihren höchsten Zielen untreu zu werden anpaßten. Philosophie, Geschichtswissenschaft, Nationalökonomie, Rechtswissenschaft, Naturwissenschaft und nicht zuletzt Theologie suchen sie nach ihren Grundsätzen neu zu gestalten. In mehr als 25 erbaulichen u. wissenschaftlichen Zeitschriften kämpfen sie für ihre Ideale. Als die wichtigsten darunter sind zu nennen. die »Civiltà cattolica« (Rom, seit 1850), die »Études religieuses« (Par., seit 1854), die »Stimmen aus Maria Laach« (Freiburg, seit 1871), »Die katholischen Missionen« (das., seit 1073), »The Month« (Lond., seit 1873), die »Zeitschrift für katholische Theologie« (Innsbr., seit 1876), dazu die verschiedenen »Sendboten des Herzens Jesu«. Als Schulorden arbeitet der Orden mit wechselndem Glück, am erfolgreichsten wohl in Belgien, in England, Süd- und Nordamerika. Seine größten Niederlagen erlebte er in Frankreich, während ihm in Deutschland nur die Gründung einer einzigen Lehranstalt (Maria-Laach bei Andernach, 1863–72, jetzt Benediktinerkloster) gelang. Mit besonderer Eindringlichkeit hat der Orden, wo er es vermochte, das Mädchenschulwesen bearbeitet. Unter den von ihm gegründeten weiblichen Unterrichtskongregationen ist die der Damen vom heiligen Herzen Jesu (Dames du sacré cœur; s. Gesellschaft des heiligen Herzens Jesu) die einflußreichste. Auf dem Gebiete des Kultus haben sich die J. des »Heiligen Herzens Jesu« (s. Heiliges Herz Jesu) mit besonderer Wärme angenommen. Ihre Erfolge in der äußern Mission sind im 19. Jahrhundert verhältnismäßig unbedeutend gewesen.

[Literatur.] Bibliographische Repertorien: A. de Backer, Bibliothèque des écrivains de la Compagnie de Jésus (Par. 1869–76, 3 Bde.); Sommervogel, Dictonnaire des ouvrages anonymes et pseudonymes publiés par les religieux de la Compagnie de Jésus (das. 1884) und »Bibliographie de la Compagnie de Jésus« (Brüssel 1891–1900, 9 Bde.); »Moniteur bibliographique« (Par. 1889); »Catalogo razonado de obras anónimas y sendóminas de autores de la Compañia de Jesús pertenicientes á la antigua assistencia Española« (Madr. 1901). Als neueres Hauptwerk trotz vieler Mängel bezeichnen die J. selbst: Crétineau-Joly, Histoire religieuse, politique et littéraire de la Compagnie de Jésus (3. Aufl., Par. 1859, 6 Bde.; deutsch, Wien 1845–52).

Aus der neuern, fast unübersehbaren Literatur ist zu vergleichen: J. Huber, Der Jesuitenorden nach seiner Verfassung und Doktrin, Wirksamkeit und Geschichte charakterisiert (Berl. 1873); J. Janssen, Geschichte des deutschen Volkes seit dem Ausgang des Mittelalters (seit 1877; vgl. Janssen 2); J. v. Döllinger und F. H. Reusch, Geschichte der Moralstreitigkeiten in der römisch-katholischen Kirche (Nördling. 1889, 2 Bde.); Reusch, Beiträge zur Geschichte des Jesuitenordens (Münch. 1894); Gothein, Ignatius von Loyola und die Gegenreformation (Halle 1895); F. Nippold, Die jesuitischen Schriftsteller der Gegenwart in Deutschland (Leipz. 1895); M. Heimbucher, Die Orden und Kongregationen der katholischen Kirche, Bd. 2 (Paderb. 1897); F. Heiner, Der Jesuitismus in seinem Wesen, seiner Gefährlichkeit und Bekämpfung (5. Aufl., Paderb. 1902); H. Boehmer-Romundt, Die J., eine historische Skizze (Leipz. 1904); B. Duhr, Jesuitenfabeln (4. Aufl., Freib. 1904); Pilatus (Viktor Naumann), Der Jesuitismus (Regensb. 1905). – Über das Unterrichtswesen der J.: G. Weicker, Das Schulwesen der J. nach den Ordensgesetzen dargestellt (Halle 1863); J. Kelle, Die Jesuitengymnasien in Österreich vom Anfang des vorigen Jahrhunderts auf die Gegenwart (Prag 1873 und Münch. 1876; vgl. dazu R. Ebner, Beleuchtung der Schrift des Dr. Joh. Kelle, Linz 1874); G. Müller, Unterricht und Erziehung in der Gesellschaft Jesu während des 16. Jahrhunderts (in K. A. Schmids »Geschichte der Erziehung«, Bd. 3, 2. Hälfte, Stuttg. 1892); B. Duhr, Die Studienordnung der Gesellschaft Jesu (Freib. 1896); G. Mertz, Die Pädagogik der J. (Heidelb. 1898). Eine lebhafte Kontroverse über die jesuitische Moral und ihre ethische Bedenklichkeit knüpfte sich seit 1899 an die Broschüre von R. Graßmann, Auszüge aus der... Moraltheologie des heil. Dr. Alphonsus Maria de Liguori (Stett. 1895, 104. Aufl. 1901); dagegen: Max, Prinz von Sachsen, Verteidigung der Moraltheologie des heil. Alphonsus von Liguori gegen die Angriffe Robert Graßmanns (7. Aufl., Nürnb. 1901); vgl. dazu auch Paul Graf[245] v. Hoensbroech, Die ultramontane Moral (2. Bd. des Werkes: »Das Papsttum in seiner sozialkulturellen Wirksamkeit«, Leipz. 1902); F. Nippold, Meine Gutachten vor Gericht in Sachen der Liguorischen Moral (Halle 1904). Eine besonnene Beurteilung der »Jesuitenmoral« findet sich bei O. Gildemeister, Essays, Bd. 2 (Berl. 1896). Über den Satz »Der Zweck heiligt die Mittel« im besondern vgl. die Schriften von Zöckler (Gütersloh 1902) und dagegen Reichmann (Ergänzungsheft zu den »Stimmen aus Maria Laach«, Freib. 1904), sowie die Broschüren vom Grafen Hoensbroech (3. umgearbeitete Aufl., Berl. 1903), Dasbach (Trier 1904) und »Des Grafen Paul von Hoensbroech neuer Beweis des jesuitischen Grundsatzes: Der Zweck etc.« (Freib. 1904). Vgl. auch die Literatur zu den Artikeln »Clemens XIV.«, »Loyola«, »Monita secreta«.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 10. Leipzig 1907, S. 239-246.
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