Musik

[304] Musik (v. griech. musiké [téchnē], lat. [ars] musica), die »Kunst der Musen«, die nach der ältern griechischen Mythologie (Homer, Hesiod) Göttinnen des Gesanges und Tanzes, nicht aber, wie später, auch der Dichtkunst, Geschichtschreibung und Astronomie waren. Das Wort bedeutete daher bei den Griechen gleich zuerst wie heute speziell die Tonkunst und wurde erst später in übertragenem Sinne für die harmonische Ausbildung des menschlichen Geistes überhaupt gebraucht; doch blieb auch dann die vulgäre Bedeutung des Wortes die alte.

Die verschiedenen Gesichtspunkte, von denen aus die M. betrachtet wird, ergeben eine Anzahl getrennter Arbeitsfelder, deren jedes dem menschlichen Geist Gelegenheit zur vollen Entfaltung seiner Kräfte gibt. Vor allen andern muß natürlich die schöpferische Tätigkeit der Komponisten genannt werden, die wie jede künstlerische Produktivität in erster Linie die Folge besonderer Begabung und erst in zweiter Resultat fachmännischer Ausbildung (Schule) ist. Das Komponieren kann allerdings gelehrt werden; doch sind bedeutende Komponisten allezeit nur diejenigen geworden, bei denen die Schule nur regelnd, klärend einzuwirken brauchte, nicht aber den ersten Anstoß zur Komposition geben mußte. Nächst der Komposition ist die musikalische Exekution zu nennen, die als Reproduktion der Produktion gegenübersteht; auch der reproduzierende Musiker ist Künstler, und die Qualität seiner Leistungen ist nicht minder von speziellem Talent abhängig als die des Komponisten. Das kongeniale Verstehen der Intentionen des Komponisten ist Vorbedingung der wahren reproduktiven Künstlerschaft. Selbst das rein Technische der Exekution kann nur zum Teil erlernt werden und setzt außer einer normalen körperlichen Entwickelung doch einen kräftiger entwickelten Tonsinn (musikalisches Gehör) voraus. Der wahre ausübende Tonkünstler fühlt dem Komponisten nach, schafft sein Werk neu; deshalb sind auch gute reproduktive Leistungen undenkbar ohne aktive Betätigung der Tonphantasie. Der musikalischen Begabung steht ergänzend und fördernd die musikalische Schule gegenüber. Sofern dieselbe sich auf die Ausbildung der technischen Fertigkeit bezieht, steht sie kaum höher als die Lehre eines Handwerks, und es sind daher sehr viele Musiker, die ohne Talent und ohne theoretische Ausbildung ein Instrument haben spielen lernen, in der Tat als Handwerker zu betrachten. Indessen erstreckt sich der Musikunterricht immer zugleich auf die Theorie der M., wenn auch nur auf die einfachsten Dinge (Tonarten, Akkorde). Einen fachmännisch ausgebildeten Musiker kann man nur den nennen, der, auch wenn er nicht Komponist ist, doch die Schule der Komposition durchgemacht hat, d.h. die Regeln des musikalischen Satzes versteht und den Aufbau der musikalischen Kunstwerke begreift; nur ein solcher ist imstande, ohne Gefahr die Interpretation von Musikwerken zu übernehmen. Diese für die Praxis berechnete Theorie der M. ist die eigentliche musikalische Grammatik. Die verschiedenen Stadien der theoretischen Ausbildung sowie zugleich dse Methode der Unterweisung charakterisieren die Namen: Harmonielehre (Generalbaß), Kontrapunkt (einfacher, doppelter, Kanon, Fuge), freie Komposition (musikalische Formenlehre).

Mit diesen Bestimmungen ist die eigentliche Kunstlehre der M. umschrieben, d.h. die Lehre dessen, was für die Ausbildung des musikalischen Künstlers notwendig ist; der rechte Künstler wird sich freilich damit nicht bescheiden, sondern sich auch mit der Geschichte seiner Kunst vertraut machen, sich für die natürliche Begründung der Kunstgesetze interessieren und von den Ergebnissen der Kunstphilosophie profitieren. In diese drei Gebiete scheidet sich die Musikwissenschaft. Da die M. sich aus sehr einfachen und bescheidenen Anfängen ganz allmählich zu ihrer heutigen Großartigkeit und Vielgestaltigkeit entwickelt hat und die verschiedenen Phasen dieser Entwickelung in engster Beziehung zur Entwickelung der Kultur überhaupt stehen, so ist ihre Geschichte nicht nur die Lebensgeschichte der Komponisten, Virtuosen und Theoretiker, sondern auch eine Geschichte der musikalischen Bildung überhaupt und als solche ein Teil der Kulturgeschichte und scheidet sich weiter in eine Geschichte der musikalischen Formen und Stilarten, eine Geschichte der Musiktheorie etc. Die Untersuchungen der exakten Wissenschaft über das Wesen der M. erstrecken sich besonders auf die Formen der Bewegung tönender Körper (Schwingungen, Klang etc.) und führen die speziell musikalischen Begriffe Konsonanz, Dissonanz, Tonalität sowie die Regeln der Akkordverbindung auf einfache Gesetze zurück. Soweit sie sich nur auf die leblose Natur beziehen, werden sie in der Akustik abgehandelt; die Vorgänge des Hörens aber, die Untersuchungen über die Konstruktion des Ohres und die Funktionen der Hörnerven gehören ins Gebiet der Physiologie und, soweit sie eine Geistestätigkeit voraussetzen (was beim eigentlichen musikalischen Hören durchaus der Fall ist), ins Gebiet der Psychologie. Die Philosophie der M. endlich, die Musikästhetik, die man auch als die spekulative Theorie der M. bezeichnen kann im Gegensatz zu der für die Praris berechneten Kunstlehre und der naturwissenschaftlichen Untersuchung der Klangerscheinungen, ist ein Teil der Kunstphilosophie (Ästhetik) überhaupt. Hauptgegenstand der musikalischen Ästhetik ist die Feststellung der psychischen Wirkungen der einzelnen [304] Elemente der M. Die Tonhöhenveränderung (Melodik), die dem Ohr verständlichen verwandtschaftlichen Beziehungen der Töne (Harmonik), die Regelung des zeitlichen Verlaufs der Tongebungen durch Einhaltung leicht erkennbarer Dauerwerte (Rhythmik und Metrik), auch die Untersuchung der ergänzenden Wirkungen der Dynamik und Klangfarbe, die Zurückführung ihrer Handhabung seitens des schaffenden Künstlers auf allgemeine Gesetze unsers Seelenlebens, der Nachweis der Naturnotwendigkeit für die Ausdrucksformen der M., die Scheidung des rein subjektiven Elementaren der M. vom Formalen, durch die das Werk zum objektivierten, dem Schöpfer selbst Genuß bereitenden Kunstwerk wird, endlich die Untersuchung der Frage, ob die M. derart vom subjektiven Empfindungsleben losgelöst werden kann, daß sie fähig wird, vom Komponisten beabsichtigte Verkettungen von Vorstellungen zu erwecken (s. Programmusik). Ferner hat dieselbe zum Gegenstand die Untersuchung des Anteils der M. an der Wirkung gemischter Kunstformen, z. B. der Vereinigung von M. und Poesie etc. (Vokalmusik) oder auch noch als dritter der darstellenden Kunst (Oper).

Da in richtiger Erkenntnis der direkten Wirkung der M. auf das Gemüt zu allen Zeiten und bei allen Völkern, besonders aber von der christlichen Kirche, dieselbe zur Verschönerung und Bereicherung des religiösen Kultus herangezogen worden ist, so ist ein erheblicher Bruchteil der musikalischen Literatur direkt für kirchliche Zwecke geschrieben, und man unterscheidet daher die Kirchenmusik (s. d.) als eine besondere Art der M. Ein besonderer Stil ist der Kirchenmusik nicht eigen, nur schließt natürlich ihre Bestimmung das humoristische Element aus. Dagegen bedingt die besondere Eigenart der Instrumente, für die eine M geschrieben ist, gewisse Eigentümlichkeiten des Tonsatzes; man darf für Singstimmen nicht ebenso schreiben wie für Instrumente, wohl aber umgekehrt: die Vokalmusik unterliegt daher gegenüber der Instrumentalmusik gewissen Einschränkungen. Wo beide Arten vereinigt auftreten, im Gesang mit Instrumentalbegleitung, verringert sich der Unterschied erheblich, weil die Begleitung den Singstimmen viele sonst unüberwindliche Schwierigkeiten leichter macht. Instrumente von schnell verhallendem Ton, wie das Pianoforte, erfordern eine andre Behandlung als solche von lange aushaltendem Ton; man kann deshalb von einem besondern Stil der Klaviermusik reden. Eine M. von wenigen zusammenwirkenden Instrumenten ist einer geringern Zahl von Abwechselungen der Klangfarbe und Stärke fähig als eine vom reichbesetzten Orchester vorgetragene; sie muß diesen Ausfall decken durch feinere Detailarbeit; die sogen. Kammermusik unterscheidet sich daher nicht unerheblich von der Orchestermusik. Je nach der Auswahl der Instrumente unterscheidet man auch Streichmusik (M. für Streichinstrumente) und Harmoniemusik (Blasinstrumente). Die Unterscheidung von Hausmusik und Konzertmusik betrifft kaum etwas andres als die von Kammermusik und Orchestermusik. Eine Bezeichnung von etwas geringschätziger Bedeutung ist die heutzutage für oberflächliche aber brillante oder sentimental-melodische Erzeugnisse besonders für Klavier übliche Salonmusik.

Geschichte.

I. Die Musik des Altertums.

Der historischen Forschung auf dem Gebiete der M. steht ein Umstand hindernd im Wege, nämlich das gänzliche Fehlen von Monumenten dieser Kunst aus Zeiten, die für die andern Künste uns solche in reicher Menge übermacht haben. So sind wir denn für ganze Kulturepochen nur auf mehr oder weniger phantastische und mit Mythen durchsetzte Berichte und auf die Darstellungen der Theorie der M. beschränkt, oder z. B. bei den Ägyptern gar nur auf bildliche Darstellungen. Letztere lassen allerdings darauf schließen, daß die Musikübung im öffentlichen Leben und beim Tempelkult schon vor Jahrtausenden eine große Rolle gespielt hat, ja die große Zeit gleichzeitig musizierend abgebildeter Sänger, Harfen-, Lyren-, Flöten- und Paukenspieler könnte sogar zu dem Schluß verleiten, daß die Ägypter bereits in grauer Vorzeit eine Art Orchestermusik gekannt hätten. Auch von der M. der Hebräer kann man aus den gelegentlichen Angaben der Berichte des Alten Testaments eine hohe Meinung gewinnen. Aber hier wie dort fehlt es gänzlich auch an dem geringsten Überbleibsel alter M. selbst. Es ist das eben in der Natur dieser Kunst begründet, deren Darstellungsmaterial die flüchtigen Töne sind. Denkmäler der Tonkunst kann es nur geben aus Kulturepochen, die sich im Besitz einer Tonschrift befanden; denn die Überlieferung von Melodien durch die direkte Weitergabe (Singen-Hören-Wiedersingen) ist gewiß nur auf beschränkte Zeit hin als verläßlich anzuerkennen: nur zu bald wird auch die Veränderung der Geschmacksrichtung durchgreifende Umwandlungen herbeiführen, von denen aus auf die ursprüngliche Beschaffenheit kaum mehr richtige Schlüsse gezogen werden können. Inwieweit die heutigen Tempelgesänge der Juden noch mit den vor Jahrtausenden üblichen übereinstimmen, entzieht sich jeder Schätzung. Wie es hiernach um die angebliche Konservierung uralter Tempelmelodien bei den Chinesen stehen mag, läßt sich leicht ermessen. Immerhin aber ist es wohl denkbar, daß eine melodische Eigentümlichkeit dieser als uralt geltenden Melodien, zu der sich Analogien auch in altüberlieferten gälischen und skandinavischen Gesängen, ja auch in gewissen Traditionen der griechischen Musiktheorie finden, uns berechtigen, eine Urzeit anzunehmen, in welcher der Melodik die Halb tonintervalle fremd waren. Diese archaistische M. basiert nicht, wie die weiterhin bei allen Völkern nachweisbare, auf einer Skala, deren achte Stufe (die Oktave) der ersten gleichklingt, sondern auf einer mit nur vier oder fünf Stufen, die wir uns so vorzustellen haben, daß ihr die Terz als Bestandteil der Harmonie fremd ist, so daß nur zwei Töne (Prim und Quinte) die Harmonie repräsentieren, z. B. Bild im Fließtext als Komplex einer Hauptharmonie mit den beiden nächstverwandten, woraus die Skala C D F G C sich ergibt (natürlich handelt es sich dabei nicht um Zusammenklänge, sondern um Tonfolgen). Die überlieferte fünfstufige Form dieser Urskala enthält bereits einen für die Modulation (den Wechsel der Tonart) disponibeln Ton:

C D F G A C = Bild im Fließtext (C G oder G D Zentralharmonie).

Diese archaistische M. unterscheidet also noch nicht zwischen Dur und Moll (Tongeschlecht). Bei den Griechen weist die Sage von der ältern Enharmonik, die in der Auslassung zweier Stufen der spätern, der unsern entsprechenden, Skala bestand, auf eine solche Urform der Melodik hin, und auch die Aufschlüsse, die Philolaos (bei Plutarch) über die Eigentümlichkeiten gewisser feierlicher Weihgesänge (des sogen. Tropos spondeiazon) gibt, beweisen, daß jene stufenarme Skalen auch in der klassischen Zeit des Griechentums noch nicht ganz vergessen waren. Ja, es muß[305] als offene Frage gelten, ob nicht die im Gregorianischen Gesange so sehr häufigen Anfänge der Melodien mit Schritten wie DE-G oder CD-F noch Nachklänge uralter Bräuche sind.

Die Griechen sind das erste Volk, bei dem sich die M. zu einer wirklichen Kunst entwickelte, d.h. bei dem sie nicht nur natürlicher Stimmungsausdruck (Gesang bei der Arbeit, Gesang und Tanz als gesellige Belustigung) und auch nicht nur verschönerndes Beiwerk des Götterkultus blieb, in welchen beiden Formen man M. bei allen Völkern aller Zeiten nachweisen kann, sondern vielmehr um ihrer selbst willen gepflegt und nach bestimmten Formprinzipien gestaltet wurde, so daß sie bald eine ausgebildete Theorie erhielt. Von der M. der Griechen sind uns einige, wenn auch nur wenige und zum Teil trümmerhafte Monumente erhalten. Bis vor wenigen Jahren kannte man nicht mehr als die von Athanasius Kircher gefundene, ihrer Echtheit nach zweifelhafte Komposition des Anfangs der ersten pythischen Ode Pindars, ferner die drei 1840 von Fr. Bellermann zuerst herausgegebenen Hymnen des Mesomedes (aus dem 2. Jahrh. n. Chr.) und ein paar kurze Übungsbeispiele für Kithara noch jüngern Datums. Dazu haben aber die letzten Jahre nun fünf weitere unzweifelhaft echte Überbleibsel gebracht, nämlich als ältestes (aus dem 5. Jahrh. v. Chr.) ein kleines Bruchstück des ersten Stasi mon aus Euripides' »Orestes«, also ein Spezimen der unsrer Oper verwandten Tragödie mit M. (Papyrus Erzherzog Rainer, 1892 entziffert von Wessely), ferner Bruchstücke dreier aus dem 2. Jahrh. v. Chr. herrührenden Hymnen, die in der athenischen Schatzkammer zu Delphi eingemeißelt waren (1894–95 im »Bulletin de correspondance hellénique« durch Th. Reinach veröffentlicht), und endlich (ebenfalls aus dem 2. Jahrh. v. Chr.) die Grabschrift eines gewissen Seikilos (1883 gefunden auf einer Säule zu Trall es in Kleinasien, s. »Bulletin de correspondance hellénique«, Bd. 7). Vgl. Gevaert, La mélopée antique dans le chant de l'Eglise latine (Gent 1895) und v. Jan, Musici scriptores graeci (Leipz. 1895), welche die genannten Monumente nebst Übertragungen in heutige Noten enthalten. Durch das Euripidesfragment ist der Beweis erbracht, daß das enharmonische Tongeschlecht mit seinen Vierteltönen wirklich in der praktischen Musikübung der klassischen Zeit des Griechentums eine hervorragende Rolle gespielt hat (vgl. Griechische Musik V.), überhaupt aber ist nun die griechische M. aus der Sphäre theoretischer Spekulation in die praktischer Würdigung gerückt. Die Verwandtschaft der griechischen Hymnenkomposition mit der Gestaltungsweise der uns, wenn auch wohl nicht unverfälscht, so doch in großer Menge erhaltenen alten Kultusgesänge der christlichen Kirche, ist eingehend erörtert und erwiesen worden durch Gevaert (a. a. O.). Eine Skizze der ältern Geschichte der M. in Griechenland gibt Plutarch (»Über die M.«, griech. u. deutsch hrsg. von Westphal, Bresl. 1865); leider ist von den vielen dort als hochverdient angeführten Meistern keine Note erhalten.

II. Die Musik des frühen Mittelalters.

Das einzige Denkmal frühmittelalterlicher M. ist der mit seinen Wurzeln einerseits sicher in die Tempelmusik der Hebräer, anderseits aber in die griechische M zurückreichende Kultusgesang der christlichen Kirche, der sogen. Gregorianische Gesang. Derselbe ist, wie die gesamte Musikübung des Altertums, durchaus homophon (unison), d.h. einstimmig, und kennt nicht den Begriff der Harmonie im modernen Sinn; von der M. der Griechen unterscheidet ihn vor allem das Wiederzurückgehen von der Verkünstelung der Enharmonik und Chromatik zur Diatonik sowie ferner der Umstand, daß seine Textunterlagen, soweit es sich nicht um Hymnen handelt, prosaische, eines strengen Rhythmus entbehrende sind, wodurch (da der M. der Rhythmus unentbehrlich ist) ein freierer musikalischer Rhythmus sich entwickeln mußte; vielleicht lebt aber sogar in diesen Kompositionen prosaischer Texte (überwiegend Psalmenverse) eine Art musikalischer Formgebung weiter, welche die Hebräer seit langen Jahrhunderten geübt hatten, und bei der die Sinngliederung der Sätze, nicht wie bei den Griechen ihr Silbenmaß, den symmetrischen Aufbau der Melodie bestimmte und die Gliederung derselben in größere und kleinere Abschnitte bedingte. Dem gleichsam über den Worten schwebenden Rhythmus hatten diese sich einzufügen, und ihr Vortrag mußte deshalb bald (wo die Silben sich häuften) schneller, bald (wo nur wenige Silben auf einen Melodieteil fielen) langsamer erfolgen. Heute, wo die Entzifferung der Neumenschrift kein unlösbares Problem mehr bietet, wissen wir, daß tatsächlich die Melodien dieser Gesänge von dem Text unabhängig dastehen, da viele Melodien mit einer größern Anzahl verschiedener Texte nachweisbar sind und nur die Verteilung der Melodie auf mehr oder weniger Silben scheinbare Unterschiede der Notierung bedingt. Lange hat man nach einem verloren gegangenen Schlüssel für die rhythmische Geltung der Neumenzeichen (s. Neumen) wie auch für ihre Intervallbedeutung gesucht (vgl. Notenschrift); heute ist besonders durch J. PothierLes mélodies Grégoriennes«, Turin 1880; deutsch, Aachen 1831) zur Evidenz erwiesen, daß alle solche Bemühungen vergeblich sein müssen. Eine eigentliche Notenschrift war die Neumenschrift niemals, sondern vielmehr nur eine Auszeichnung der Umrißlinien der Melodie, eine direkte Veranschaulichung des Si eigens und Fallens der Tonhöhe, eine Gedächtnishilfe für den, der die Melodie kannte, ursprünglich wohl nur ein geführt, um die verschiedene Verteilung der bereits bekannten Melodien auf die jedesmalige Textunterlage deutlich zu machen. Erst als das Verständnis für diese Gesetzmäßigkeit schwand, begann daher die Klage über die Unsicherheit der Bedeutung der Neumenschrift: man verlangte mehr von ihr, als sie je zu leisten gehabt hatte. Das Tonartensystem, das den Kirchengesängen zugrunde liegt (vgl. Kirchentöne), ist direkt aus dem antiken herausgewachsen, aber vereinfacht (ohne Transpositionen). Die Tradition schreibt die Einführung des neuen Tonartensystems dem heil. Ambrosius (gest. 397) und dem Papste Gregor d. Gr. (gest. 604) zu; letzterer soll den bis heute bis auf vereinzelte Zutaten unverändert gebliebenen Gesamtbestand der Kirchengesänge für das ganze Jahr festgestellt haben. Doch ist diese Tradition neuerdings mit schwer wiegenden Gründen von GevaertLe origines du chant liturgique«, 1890) angefochten worden, der nachzuweisen sucht. daß die einfachen Elemente, der mehr syllabische Gesang. entschieden älter, die komplizierten aber (der verzierte Gesang) mehr als 100 Jahre jünger als Gregor I. sind. Ohne Zweifel wird wohl für die ersten Jahrhunderte des Christentums eine Übereinstimmung der kirchlichen Gesänge der griechischen und der römischen Kirche angenommen werden müssen, die später sich immer mehr voneinander entfernten, auch in der Aufzeichnungsweise der Melodien, für welche die byzantinische Kirche durch Aufnahme von Zeichen für Rhythmus und Melodieintervalle allmählich[306] ein zum Teil noch heute im Gebrauch befindliches, äußerst kompliziertes System auf der vermutlich von Haus aus gemeinsamen Grundlage der einfachen Neumen erbaute.

Im 9. Jahrh. war bereits das Verständnis der Struktur der alten Melodien so weit im Allgemeinbewußsein abgestorben, daß man insbes. mit den ausgedehnten Neumierungen der Schluß-Halleluja der Psalmenverse nichts Rechtes mehr anzufangen wußte. Immerhin aber hatte man noch ein Gefühl von ihrem melodischen Werte, wie daraus hervorgeht, daß man nun anfing, sie durch freie Bearbeitung mit Unterlegung umfangreicher Texte neu zu beleben. So entstanden die Sequenzen (auch Prosen genannt), deren erste Komponisten die St. Gallener Mönche Notker Balbulus, Tutilo und der Reichenauer Mönch Hermann von Vehringen (Hermannus Contractus) sind. Damit war nach langem Stillstand wieder ein neuer Ausgangspunkt für ein im beschränkten Maße selbständiges musikalisches Schaffen gewonnen. Papst Nikolaus I. bestätigte die Aufnahme der Sequenzen in den Gottesdienst, doch nahm später das Sequenzensingen so überhand, daß Pius V. 1568 dieselben bis auf fünf noch heute übliche wieder abzuschaffen sich veranlaßt sah.

Ein neues Ferment wurde der musikalischen Gestaltungskraft zugeführt durch die ersten rohen Versuche mehrstimmigen Musizierens im 9. Jahrh., die unter dem Namen Organum bekannt sind. Dieselben bestanden in einem Auseinandertreten der (zwei) Stimmen aus dem Einklang bis zur Entfernung einer Quarte und Wiederzusammenlaufen in den Einklang bei allen Melodieabschnitten, wurde aber durch den 840–930 lebenden flandrischen Mönch Hucbald (s. d.) mehr und mehr zu einem Parallelgesang in Quarten, ja in Quinten mit Verdoppelung einer der beiden Stimmen in Oktaven schematisiert. Doch stellte schon Guido von Arezzo (1026) die ältere Art des Organums wieder her.

Den Abschluß dieser musikalisch sehr unproduktiven Epoche bilden die Versuche, an Stelle der nicht mehr genügenden Neumenschrift eine bessere, die Tonhöheveränderungen unzweideutig ausdrückende Notenschrift zu setzen. Solche Versuche machten die beiden schon genannten Theoretiker Hucbald und Hermann von Vehringen (1050), beide ohne durchzudringen, weil eine inzwischen wohl für die Instrumente (Orgel, Rotta, Viella) aufgekommene Notierung mit den ersten Buchstaben des lateinischen Alphabets ihren Versuchen durch Einfachheit überlegen war. Aber auch diese trat bald in den Hintergrund. (wenn sie auch wohl für Instrumente im Gebrauch blieb; im 15. Jahrh. finden wir sie wieder als deutsche Tabulatur), als die bereits von Hucbald angebahnte Vervollkommnung der Neumenschrift durch Stellung der Neumen auf Linien durch Guido von Arezzo perfekt wurde, indem derselbe unser noch heute übliches Linien- und Schlüssel system ins Leben rief. Fast noch wichtiger ist eine andre Neuerung Guidos, nämlich die Begründung der bis ins 18 Jahrh. hin ein die Theorie beherrschenden Methode der Solmisation (s. d.), der endgültigen Beseitigung der antiken Tetrachordenlehre (vgl. Griechische Musik I.). durch seine Hexachordenlehre, d.h. die Annahme einer Skala von nur sechs Stufen (c d e f g a), deren Überschreitung in der Höhe oder Tiefe als Übergang in eine Transposition eben dieses Hexachords (f g a b c d = hexachordum molle oder g a b c d e = hexachordum durum) definiert wurde (die sogen. Mutation). Damit war der Melodik wieder eine freiere Bewegung erschlossen, und bald genug entwickelte sich nun auch wieder eine reichere Produktivität.

III. Die Mensuralmusik und der Kontrapunkt.

Die nächste Folgezeit (das 12. Jahrh.) brachte endlich auch das letzte Element, das der Notenschrift noch fehlte, nämlich die Möglichkeit genauer Bestimmung der Tondauerverhältnisse, des Rhythmus. Das wechselnde Auseinandertreten und Zusammenlaufen der Stimmen des Organums hatte sich inzwischen zu dem fortgesetzt strenge Gegenbewegung, wechselnd zwischen Oktave (Einklang) und Quinte, einhaltenden Discantus fortentwickelt:

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und durch Zulassung figurativer Zwischen töne in der der Choralmelodie gegenübergestellten Stimme eine reifere Gestaltung angenommen; da aber auch für diese die Regeln so streng waren, daß jeder Ton fest bestimmt war, so bedurfte es noch immer nicht einer Fixierung des Rhythmus. Erst die Hinzufügung einer dritten (triplum) oder gar vierten Stimme (quadruplum) zum Organum oder Discantus machte die Feststellung von Tondauerzeichen gebieterisch notwendig. So entstand im 12. Jahrh. die Mensuralnotenschrift (s. d.). Die ersten Meister des Satzes mit 2–4 mehr oder minder selbständig rhythmisierten Stimmen sind Leonin us (nichts erhalten), Perotinus (einzelne Stücke in Coussemakers »L'art harmonique aux XII. et XIII. siècles«), Robert von Sabilon, Petrus de Cruce, Johannes de Garlandia, Franco von Paris und Franco von Köln. Die ersten Kompositionsformen dieser Zeit sind das Organum (figuriert, auch mit dritter und vierter Stimme), der M: detus (dreistimmig, die Mittelstimme [medius cantus] einen bestimmten Rhythmus festhaltend), die Copula (fortgesetzt mit zweitönigen Ligaturen in der Gegenstimme), der Hoquetus (mit abwechselndem Pausieren der Stimmen), der Conductus, in dem alle (2–4) Stimmen frei erfunden sind, und der Rondellus, die erste Art kanonisch imitierender Setzweise.

Von allergrößter Wichtigkeit wurde der im 13. Jahrh. von England aus bekannt werdende, dort wohl schon im 12. Jahrh., wenn nicht früher, gepflegte Gesang in parallelen Sexten (gymel), oder dreistimmig in parallelen Terzen und Sexten (faux-bourdon), jener beginnend und schließen d in der Oktave, dieser beginnend mit Oktave und Quinte, z. B.:

Tabelle

Die Figuration des dreistimmigen faux-bourdon führte geradeswegs zu derjenigen Setzweise, die wir in den Erstlingen des voll ausgebildeten Kontrapunkts nach 1300 antreffen; Tonsätze, die noch heute Kunstwert haben. Doch besitzen wir schon einen gut gesetzten sechsstimmigen Kanon (rota) aus dem Jahre 1240 (»S unter is icomen in«). Einen höchst merkwürdigen plötzlichen Aufschwung erfuhr die weltliche Kunstmusik im 14. Jahrh. in Italien (Florenz, Padua) in den Gesang und Instrumentalbegleitung verbindenden Madrigalen und Caccias (Giovanni da Cascia, Jacopo da Bologna, Ghirardello, Landino). Erst in dem durch Philippe de Vitry vermittelten Anschluß an diese italienische Kunst des 14. Jahrh. entwickelte[307] sich auch in Frankreich (Guill. Machault, gest. 1372), den Niederlanden und England die kunstvoll imitierende Setzweise, deren erste hervorragende Vertreter der Engländer Dunstaple und die Nordfranzosen Binchois und Dufay sind.

Diese neue Epoche der Musikgeschichte bringt die Ausstellung des strengen Verbotes der parallelen Oktaven und Quinten; gleichzeitig tritt an die Stelle des alten Terminus Discantus der neue Contrapunctus. Marchettus von Padua und zwei Johannes de Muris treten in dieser Zeit als Theoretiker hervor. Marchettus lehrt die freie Einführung chromatischer Fortschreitungen, der englische Johannes de Muris sträubt sich gegen die Neuerungen de Vitrys (deren theoretischer Perfechter der Pariser Muris ist) und meldet, daß die neuen Komponisten die alten Formen (s. oben) vernachlässigen und mit Vorliebe die Chanson (cantilena) und den Kanon (fuga) kultivieren.

Die Pflege der Kunstmusik war damals und noch lange (bis zu dem großen Wendepunkt in der Musikgeschichte um 1600) fast ausschließlich Sache der kirchlichen Kreise (Mönche, Kapellsänger, zuletzt auch Organisten); man würde aber doch sehr fehlgehen, wollte man darum annehmen, daß in den breiten Schichten des Volkes der Musiksinn ganz geschlummert oder sich nur rezeptiv verhalten hätte. Die fahrenden Spielleute reichen tief ins frühe Mittelalter zurück, im 11. Jahrh. mehren sich die Beweise, daß auch die Edlen auf ihre Weise die Kunst nicht gering achteten. Reliefs aus dieser Zeit zeigen Damen, welche die Drehleier (das Klavier jener Zeit) spielen; Völker im Nibelungenlied ist ein ritterlicher Spielmann. Welcher Art diese weltliche M. war, von der leider nichts erhalten ist, können wir zuerst nur aus den naturwüchsigen Volksliedermelodien schließen, die uns die Kontrapunktisten seit dem 12. Jahrh. bis in das 15. und 16. hinein als Tenore ihrer künstlichen Sätze erhalten haben. Doch bringen das 12.–14. Jahrh. mit einer neuen Blüte der Poesie zugleich ein neues Aufblühen der weltlichen M. in den Gesängen der provenzalischen und französischen Troubadoure (Chatelain de Coucy, Adam de la Halle u.a.) und der deutschen Minnesinger, deren ansprechende Melodien in großer Zahl erhalten sind.

Die eigentliche Blütezeit des streng polyphonen Stiles, des imitierenden Vokalsatzes, ist die von 1450–1600, ihre vornehmsten Repräsentanten sind die Niederländer Okeghem, Isaak, Hobrecht. Josquin de Prés, Larue, Willaert (der Begründer der venezianischen Schule) und Orlando di Lasso, die Deutschen P. Hofhaimer, Heinrich Finck, Ludwig Senfl, Jakobus Gallus und H. L. Hasler sowie die Italiener Palestrina und Giov. Gabrieli. Die Formen der von diesen Meistern gepflegten und in einer schier unermeßlichen Fülle von Drucken und Handschriften erhaltenen Werke sind außer den überkommenen, aber erweiterten und vertieften der Motette und Chanson die aus einer Reihe motettenartiger Sätze bestehende vollständige Messe sowie das weltliche und geistliche Madrigal; die Zahl der Stimmen ist bis um 1450 gewöhnlich drei, nach Dufay aber bis um die Mitte des 16. Jahrh. fast ausschließlich vier, doch kam durch die venezianischen und römischen Meister der mehr als vierstimmige Satz immer mehr in Aufnahme (in der römischen Schule des 17. und 18. Jahrh. bis auf 16 und noch mehr Stimmen gesteigert). Das Madrigal des 16. Jahrh. war meist fünfstimmig (schon bei Arcadelt 1539). Die kanonischen Künste wurden besonders durch die Meister der sogen. zweiten niederländischen Schule (Okeghem, Josquin, Larue etc.) ins Unglaubliche gesteigert, so daß man schließlich dahin kam, einen kunstvollen, vierstimmigen Satz in Gestalt nur einer Stimme zu notieren und nur durch (meist noch obendrein rätselartig verhüllte) Vorschriften anzudeuten, wie aus ihr die sämtlichen Stimmen zu entwickeln waren. Doch macht sich gerade um die Zeit dieser höchsten Verkünstelung bereits die Reaktion bemerkbar; einerseits in der mehr und mehr wachsenden Pflege des mehrstimmigen Liedes (von der simpeln Frottola und Kanzonette [Villanelle, Gassenhawerlin] bis zur edlern Chanson und dem geistvollen Madrigal), anderseits in der Vereinfachung der kunstvollen Sätze im Arrangement für eine Singstimme mit Laute; der gesunde Sinn des Volkes für die schlichte musikalische Deklamation des Liedes fand auch Unterstützung der Gelehrten, die auf eine natürliche Scansion der Verse drangen und zur Komposition antiker und moderner Metra Anregung gaben (Horazische Oden, auch Sonette etc.). Besonders aber erwuchs in der allmählich sich heranbilden den selbständigen Instrumentalmusik (für Laute, Orgel, Klavier, Streichinstrumente) ganz unmerklich ein Faktor, der den imitierenden Vokalsatz von seinem Throne zu stürzen berufen war.

IV. Die begleitete Monodie. Oper, Oratorium, Kantate und Instrumentalmusik.

Wie mit einem Zauberschlage verwandelt sich die gesamte äußere Erscheinung und auch das innere Wesen der musikalischen Kunst in den Jahrzehnten um das Jahr 1600. Denn ungefähr gleichzeitig entstehen die neuen Kunstformen der Oper, des Oratoriums und der Instrumentalkanzone oder Sonate und zwar allem An scheine nach alle drei in Italien, wo der wiedererwachte Sinn für das Studium der Alten auch den Wunsch zeitigte, die Wunderwirkungen der griechischen M. zu erneuern. Auf dem Wege ästhetischen Räsonnements wurde in Florenz im Hause des Grafen Bardi der stile recitativo oder rappresentativo gefunden, dessen erste Vertreter die Musiker Emilio Cavalieri, Jacopo Peri und Giulio Caccini sind; 1594 wurde die von Rinuccini gedichtete erste wirkliche Oper, Peris »Dafne«, im Hause des Jacopo Corsi ausgeführt, 1600 folgte in Emilio Cavalieris »Rappresentazione di animo e di corpo« das erste Oratorium, und ungefähr um die gleiche Zeit fällt die erste Ausbildung eines selbständigen Instrumentalsatzes durch die beiden Gabrieli in Venedig, und der erste nachweisbare Gebrauch des Generalbasses, jener dem Kontrapunkt einen tödlichen Streich versetzenden abgekürzten Notierung der instrumentalen Nebenparte, fällt ebenfalls in die 90er Jahre des 16. Jahrh. Auch Viadanas 1602 erschienene Kirchenkonzerte bilden den Ausgangspunkt eines ganz neuen Literaturzweiges (1–4 stimmige geistliche Gesänge mit Orgel). Alle diese neuen Triebe schossen mächtig empor und überschwemmten die Welt mit neuer M. (Nuove musiche nannte Caccini seine 1602 erschienenen Arien und Kantaten für eine Singstimme mit Generalbaß); der neue Stil verbreitete sich außerordentlich schnell, so daß die an dem stile osservato, dem a cappella-Stil, festhaltende römische Schule bald genug wie ein Denkmal vergangener Zeiten in die neue Welt hineinragte. Deutschland und England brachten als neues Element dazu die kunstvollere Ausgestaltung der bereits im 16. Jahrh. in mehrstimmigen Instrumentalsätzen allmählich breiter entwickelten Tanztypen und deren Zusammenstellung zur drei-, fünf- und mehrsätzigen Variationen-Suite[308] (4–8stimmig), deren Verschmelzung mit der durch die Gabrieli begründeten und durch eine schier unübersehbare Menge andrer italienischen Komponisten (darunter von 1617 ab eine große Zahl von Berufsgeigern) ausgebildeten Instrumentalkanzone oder Sonate (sonata da chiesa) um die Mitte des Jahrhunderts zur Entstehung der Kammersonate führte (Ahle, Rubert, Löwe, Reusner, Rosenmüller, Becker), deren weitere Entwickelung zur Orchestersuite mit vorangestellter französischen Ouvertüre (Steffani, Cousser, Fux, Telemann, Fasch) und dem concerto grosso (Corelli, Torelli) direkt in die Orchestermusik unsrer Altmeister Händel und Bach überführt. Naturgemäß zog aber nun die Oper das Interesse des großen Publikums ganz besonders auf sich, sobald sie ihren privaten Charakter einer Hoffestlichkeit abgestreift hatte und nach Eröffnung des ersten Operntheaters (San Cassiano in Venedig, 1637) zu einer öffentlichen Schaustellung geworden war. Den nüchternen und erfindungsarmen ersten Opernkomponisten folgten schon nach wenigen Jahren genialere Meister, nämlich Claudio Monteverde (»Orfeo«, 1608), Cavalli und Cesti, und gar nicht lange währte es, so faßte die Oper auch im Auslande Fuß, zunächst mit italienischen Werken und italienischem Personal (1645 in Paris, wenig später auch in Wien, München, Dresden, Stuttgart), bald aber auch mit nationaler Selbständigkeit (Hamburg 1678, Paris 1671 [Perrin, Lully], London [Purcell]). Die eigentliche Glanzzeit der Oper beginnt indessen erst mit Alessandro Scarlatti und seinen Schülern, d.h. mit der neapolitanischen Schule (gegen Ende des Jahrhunderts), die der Melodie, dem eigentlichen Gesange (gegen den ebenso wie gegen den Kontrapunkt sich die Florentiner Reform gerichtet hatte), nicht nur wieder zu seinem Rechte, sondern nun zu einer beispiellosen Alleinherrschaft verhalf. Durch die unglaublichen Dimensionen, welche die Pflege der Oper annahm (Venedig allein besaß um 1700 etwa zwölf Opernbühnen), wurde die Gesamtphysiognomie der musikalischen Welt gänzlich verändert, sofern die Opernkapellmeister (die fast alle auch das verwandte Gebiet des Oratoriums kultivierten) nunmehr an Stelle der Kapellsänger und Leiter der Vokalkapellen als Komponisten in die erste Reihe rückten und die gar well lichen Opernsänger und Opernsängerinnen nun statt der dem Priesterstande angehörigen Kapellsänger die Vermittler der Kunstgenüsse wurden. In zweiter Linie aber traten in die Reihe der Komponisten an Stelle der seit der Mitte des 16. Jahrh. allmählich die Aufmerksamkeit erregenden, der Kirche noch nahestehenden Organisten (Buus, Merulo, A. und G. Gabrieli, Frescobaldi, Froberger, Sweelinck) die mit der Vervollkommnung des Violinbaues aus der früher verfemten und gering geachteten Gilde der Musikanten auftauchenden Violinisten (Marini 1617, Farina [Dresden 1626], T. Merula, Vitali, Bassani, Torelli u.a.) und vom Ende des 17. Jahrh. ab auch die Klavierkomponisten (d'Anglebert, Kuhnau, Couperin, D. Scarlatti). Kurz, die Musikübung und die musikalische Produktion wurde im 17. Jahrh. in einem Maße verweltlicht, wie man es im vorhergehenden nicht ahnen konnte. Daneben wurde aber auch die kirchliche M. weiter gepflegt, nicht nur in der römischen Schule, sondern vornehmlich auch durch die protestantischen Kirchenkomponisten (Kantoren und Organisten), aber überwiegend in den neuen, durch die venezianische Schule und die Florentiner Reform beeinflußten Formen der Vereinigung von Singstimmen mit Instrumenten (Heinrich Schütz, M. Prätorius, J. Eccard, A. Hammerschmidt). So finden wir denn gegen Ende des 17. Jahrh. alle die Fel der der musikalischen Kunst angebaut und in ersprießlicher Entwickelung begriffen, auf denen Bach und Händel ihre Riesengröße entfalten sollten.

V. Die Musik des 18. Jahrhunderts. Bach, Händel, Gluck, Haydn, Mozart.

(Hierzu die Porträttafel »Deutsche Tondichter I u. II«.)

Wenn die Instrumentalmusik des 17. Jahrh. bis auf die Orgelliteratur und wenige einer Neubearbeitung unterzogene Stücke für mehrere Instrumente von Corelli und in weitem Abstande Giovanni Gabrieli so gut wie ganz für die Gegenwart in Vergessenheit geraten ist, so trägt daran ohne allen Zweifel der Umstand die Hauptschuld, daß in derselben der bezifferte Baß (Generalbaß) nicht eine akzessorische, sondern eine substantielle Bedeutung hat, daß diese Werke zum großen Teil ohne eine kunstgerechte vollstimmige Ausführung des bezifferten Basses der Mittelstimmen entbehren und daher dürftig und unvollständig klingen. Selbst J. S. Bachs und Händels Sonaten für ein oder mehrere Melodieinstrumente mit Generalbaß gehören daher, soweit sie nicht überarbeitet wurden, heute zur abgestorbenen Literatur, obgleich ihr Inhalt hochbedeutend ist. Ja selbst die gewaltigen Orchestersuiten und Konzerte dieser Meister kommen nur zur vollen Geltung, wenn sie entweder mit Ausführung des vorgeschriebenen Continuo oder aber in einer denselben anderweit ersetzenden Überarbeitung gespielt werden. Doch ist besonders J. S. Bach von der herkömmlichen Vernachlässigung der Mittelstimmen, für die der Generalbaß (Continuo) zu sorgen hatte, wieder einigermaßen zurückgegangen, so daß bei ihm der Generalbaß wieder mehr seine allerursprünglichste Rolle (bei Gabrieli, Banchieri u.a. vor 1600) der bloßen Verstärkung der Begleitung spielt. Die gänzliche Beseitigung des Generalbasses aber, den selbst Philipp Emanuel Bach noch in der Weise des 17. Jahrh. festhielt, erfolgte durch die Darmstädter (Graupner) und Mannheimer Symphoniekomponisten (Richter, Stamitz, Filtz) um 1750, an die Joh. Christian Bach, Dittersdorf, Haydn und Mozart anschließen, welche damit zu den eigentlichen Schöpfern der neuern (vollständig ausgearbeiteten) Instrumentalmusik wurden. Die Bedeutung Händels wie Bachs (s. d.) beruht nicht im Finden neuer Formen und Wege, sondern vielmehr in der Erfüllung der vorgefundenen Formen mit hochbedeutendem Inhalt. Für Johann Sebastian Bach (1685–1750) sind es in erster Linie die kirchlichen Vokalwerke mit Orchester (Oratorien [Passionen], Kantaten, Messen), welche die bedeutsamen Anfänge bei G. Gabrieli und L. Viadana auf dem von H. Schütz und andern protestantischen Meistern des 17. Jahrh. betretenen Weg zur höchsten Vollendung und unübertrefflichen Großartigkeit der Gesamtanlage wie der Durchführung im einzelnen geführt zeigen; auch auf dem Gebiete der Orgelmusik erreichte Seb. Bach den Gipfel, auf den ihm die Folgezeit vergeblich nachstrebte. Seine Klaviermusik ist zwar ebenfalls bewunderungswürdig und (besonders das »Wohltemperierte Klavier«) von hochbedeutendem Inhalt, steht aber teilweise im Banne des Geschmacks und der Stileigentümlichkeiten der Epoche und konnte daher noch durch ihm folgende Meister, denen die gewaltige Vervollkommnung des Baues der Klavierinstrumente zugute kam, überboten werden (Beethoven). Die Größe Georg Friedr. Händels (1685–1759) beruht[309] ebenfalls im Oratorium, das derselbe aber nach einer ganz andern Richtung entwickelte; wie Bach mit der Kirche und der Orgel, so ist Händel mit der Opernbühne verwachsen, sein eigentliches Gebiet ist daher das Dramatische, Drastische und Plastische, während das Bachs das Lyrische in seinen erhabensten Formen ist. Händels Oratorien, auch der »Messias«, sind daher gewaltigen Fresken vergleichbar; die großen Konturen, weniger das seine Detail sind seine Stärke, der gewaltige Aufbau seiner Chorfugen ist vorbildlich für alle Zeiten. Dieselbe reckenhafte Kraft offenbart sich auch in seinen Orchesterwerken. Seine Opern bilden den Höhepunkt der Leistungen der neapolitanischen Schule, der man ihn beizuzählen versucht ist, sind aber heute kaum mehr lebensfähig, weil sich der Zeitgeschmack von der den bel canto in die erste Linie stellenden Richtung abgewendet hat und für die dramatische M. andre Ideale verlangt. Er wurde auf diesem Gebiete geschlagen durch seinen jüngern Zeitgenossen Christoph Wilibald Gluck (1714–87), dessen Größe durchaus auf dem Gebiete der Oper liegt, und der bewußt eine Reaktion, ähnlich der zuerst auf die Oper führenden der Florentiner, gegen das Überwuchern des melodischen Elements über den natürlichen Ausdruck der Worte vollzog (»Orpheus«, 1762). Für seine Ideen fand er das Verständnis in Paris, wo von jeher die italienische Oper eine starke Gegnerschaft gehabt und bereits Rameau wenige Jahrzehnte früher in ähnlichem Sinne gewirkt hatte. Auch die um die Mitte des Jahrhunderts durch in Nachbildung der neapolitanischen Opera buffa (Pergoleses »Serva padrona«) entstandene komische Oper war eine Reaktion gegen die italienische Oper, die für Glucks Erfolge den Boden bereitete (Duni, Monsigny, Grétry). Was Gluck auf dem Boden der heroischen Oper, leistete Wolfgang Amade Mozart (1756–91) auf dem Boden der komischen für Deutschland, indem er aus den harmlosen und unbedeutenden Ansätzen des deutschen Singspiels (Hiller, Schenk) heraus die vollendeten Kunstschöpfungen seiner italienischen Melodienschmelz mit deutscher Innigkeit und Wahrheit des Ausdrucks vereinenden Opern entwickelte (»Figaros Hochzeit«, 1785; »Don Juan«, 1787; »Zauberflöte«, 1791). Die fast unvergleichliche natürliche Beanlagung Mozarts für melodischen Wohllaut hat denselben auf allen Gebieten, die er betrat, Werke von unvergänglicher Schönheit schaffen lassen, so besonders auf dem der Kirchenmusik (Requiem, Ave verum) und Orchester (Symphonien in C dur, G moll und Es dur) und Kammermusik. Für diese beiden letzten Gebiete aber hatte er in Joseph Haydn einen großen Vorgänger, dessen Lebenszeit freilich die seine mit 34 Jahren Überschuß umschließt, so daß der spätere Haydn wieder das Erbe Mozarts antrat. Joseph Haydn (1732–1809), eine ebenso ursprüngliche Musiknatur wie Mozart, aber weniger streng geschult, schrieb unbeirrt durch doktrinäre oder traditionelle Einflüsse irgend welcher Art, noch obendrein angeregt zum Betreten des ihm von Natur sympathischen Weges durch die Mannheimer, und wurde so zum Befreier der Instrumentalmusik aus den letzten Fesseln. Die moderne Homophonie des Instrumentalsatzes, die nicht mehr eine Art Verpflichtung fühlt, die verschiedenen beteiligten Stimmen abwechselnd den Hauptinhalt übernehmen zu lassen, sondern die vielmehr in der Gesamtheit der zur Verfügung stehen den Organe nur ein einziges sieht, ist auf dem von Johann Stamitz (1714–57) gewiesenen Wege durch Haydn zur Vollendung geführt worden. Den Generalbaß konnte er dabei nicht gebrauchen und warf ihn beiseite. Diejenigen Organe, mit denen er dieses Werk am vollkommensten verwirklichen konnte und verwirklichte, sind das Streichquartett und die Symphonie. Hier liegt der Schwerpunkt seines Schaffens, hier ist er nicht eigentlich überboten, sondern nur erreicht worden (bei Mozart und Beethoven ist nur der Inhalt gelegentlich ein tieferer, die Form aber war nicht zu übertreffen). Haydns Naivität des Schaffens und Mangel jeglicher Bedenklichkeit ließ ihn auch an Aufgaben herantreten, die ihm von Natur fern lagen, wenn es von ihm verlangt wurde. So hat er denn auch eine ganze Reihe kirchlicher Werke geschaffen, und als er in höherm After aufgefordert wurde, Oratorien zu schreiben, schrieb er sie und mit welchem Erfolg! Seine »Schöpfung« (1798) und »Jahreszeiten« (1801) sind ewig jugendfrische, unverwelkliche Schöpfungen eines Greises. Auf dem Gebiete der Klavier komposition ist Haydn nicht bahnbrechend geworden, sondern knüpft an Scarlatti und Ph. Em. Bach an und halt in der Folge ungefähr Schritt mit seinem Zeitgenossen M. Clementi (1752–1832), der auf diesem Gebiet ein bei weitem nicht hinlänglich geschätzter wirklicher Bahnbrecher war, und Mozart. Die Kammermusik für Klavier (an Stelle des General basses) mit Streichinstrumenten wurde durch Haydn und Mozart eigentlich zuerst begründet, freilich durch ihre Nachfolger weit überboten.

Der gewaltige Umschwung in der Richtung der gesamten musikalischen Produktion seit dem 16. Jahrh. hatte ganz allmählich auch das zugrunde liegende theoretische System über den Haufen geworfen und an Stelle der alten Anschauungen vom Wesen der Tonarten gänzlich neue gesetzt. Während die Theoretiker der vorausgehenden Epoche immer nur von den Intervallen sprechen, die mehrere gleichzeitig sich bewegende Stimmen (Melodien) ergeben, haben es nun die Theoretiker mit der Lehre von den Akkorden zu tun. Schon ZarlinoIstituzioni armoniche«, 1558), ein Zeitgenosse Glareans, des vielleicht vollendetsten Darstellers des alten SystemsDodekachordon«, 1547), definiert den Durakkord (divisione armonica) und Mollakkord (divisione aritmetica) als die beiden Pole, um die sich alle M. dreht. Der wenig später aufkommende Generalbaß (um 1600) führte zu abgekürzten, der Praxis bequemen Bezeichnungen ganzer Kategorien von Akkorden, wodurch die Weiterentwickelung der spekulativen Theorie vorerst zurückgehalten wurde. Erst J. Ph. Rameau (1722) unternimmt die Begründung der Harmonie durch die akustischen Phänomene (Obertöne) und begründet eine Lehre von tonalen Funktionen der Harmonien; einen Fortschritt über ihn hinaus macht Tartini (1754, Kombinationstöne). Die zeitgenössischen Theoretiker, wie Kirnberger und Marpurg, kommen über Rameau nicht hinaus, verdunkeln vielmehr zum Teil wieder Rameaus Erkenntnisse, die erst im 19. Jahrh. ihre Weiterbildung finden (G. Weber, M. Hauptmann). Ganz rückwärts schauend (d.h. schließlich wieder mit Glarean übereinstimmend) sind die Werke von J. J. Fux (»Gradus ad Parnassum«, 1725) und Padre MartiniSaggio di contrappunto«, 1774), denen gleich noch ihr Nachfolger im 19. Jahrh., H. Bellermann, angeschlossen sei. Tatsächlich ist das System der Kirchentöne seit dem Ende des 17. Jahrh. veraltet und durch das der Dur- und Molltonart und ihre Transpositionen, die Glarean als Ergänzung des alten Systems in die Theorie einführte (ionisch und äolisch), verdrängt.[310]

VI. Die Musik des 19. Jahrhunderts. Beethoven. Die Romantiker.

Wie man sagen kann, daß in J. S. Bach sich noch einmal der hohe Wert der Ideale der ihm vorausgegangenen Jahrhunderte zeigt, wie er gleichsam der letzte und größte Repräsentant des schon bei seinen Lebzeiten in Verfall geratenen polyphonen Stils ist, ein würdiger Partner von Palestrina und Orlando Lasso, aber zugleich groß auf dem jenen noch fast unbekannten Gebiete der Instrumentalmusik, so verkörpern sich auch in Ludwig van Beethoven (1770 bis 1827) die Ideale zweier Zeitalter, das ihm vorausgehende der Epoche Haydn-Mozart und das ihm folgende der musikalischen Romantik. Die gesteigerte Subjektivität des Ausdrucks ist wohl zuerst in stärkerm Maße bei Beethoven fühlbar, doch noch ohne Überschreitung der Linie der Schönheit. »M. soll dem Menschen Feuer aus dem Geiste schlagen« war der Wahlspruch Beethovens, der sich deshalb nirgends mit harmlosem Tändeln oder naivem Schwelgen im Wohlgefühl des Daseins genügen läßt, sondern überall über die Grenze der Alltäglichkeit hinausgeht und ebenso, wo er im lichten Gebiet entzückten Schauens wandelt, wie da, wo er an den dunkeln Schleier rührt, mit dem die Gottheit das Jenseitige bedeckt, Saiten zu rühren weiß, die noch nie erklungen, und das Herz in seinen Tiefen bewegt. Eine eminente Vornehmheit, ein unvergleichlicher Adel ist in der Tat allen Konzeptionen Beethovens eigen, ebenso wie auf dem Gebiete seiner größten Kunsttaten, dem der Symphonie und Ouvertüre, dem der Kammermusik (Quartett, Trio, Sonate), so auch auf dem der Vokalkomposition (Missa solemnis, Oper, Lied, Chorlied). Im Liede hat er noch nicht die Biegsamkeit der Melodik gefunden, die Franz Schubert (1797–1828) zum eigentlichen ersten und nicht wieder überbotenen Interpreten der jungen deutschen Lyrik machte, steht aber jedenfalls an Wahrheit des Ausdrucks hoch über seinen Vorgängern (Reichardt, Zelter). Beethovens einzige Oper, »Fidelio« (1804), tritt nicht nur ebenbürtig neben die Opern Glucks und Mozarts, sondern vermittelt zwischen diesen und Wagner, doch ohne eine Spur von doktrinärer Tendenz; sie ist mit dem Herzblut eines echten, wahren Künstlers geschrieben, und darum vermag sie jeder künftigen ästhetischen Analyse standzuhalten. In der Tat antizipiert sie in ihren hervorstechenden Momenten die Lösung von Aufgaben, die sich die Opernkomponisten des 19. Jahrh. stellten, die erhöhte Teilnahme des Orchesters am Ausdruck der seelischen Vorgänge, die Steigerung des Rezitativs zum lebensvollen Ausdruck. Obgleich der Text des »Fidelio« auf dem Boden der italienischen opera semiseria steht (Gaveaux schrieb mit demselben eine französische komische Oper), so erreichte es doch Beethoven, aus ihm eine echt deutsche Oper zu machen, die der Zeit trotzt.

Wenn überhaupt nicht zu leugnen ist, daß das herrliche Emporblühen der deutschen Poesie einen bedeutsamen Einfluß auf die gleichzeitige Entwickelung der Schwesterkunst ausübte, so tritt das besonders in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrh. deutlich hervor, wo die Ideale der romantischen Dichtung allmählich auch ihren adäquaten musikalischen Ausdruck finden, zunächst auf dem Gebiete der Oper bei Ludw. Spohr (1784–1859, »Faust«, 1816), Karl Maria v. Weber (1796–1826, »Der Freischütz«, 1821; »Euryanthe«, 1823; »Oberon«, 1826) u. Heinr. Marschner (1795–1861, »Der Vampir«, 1828; »Hans Heiling«, 1833) als Wiedererweckung der Gestalten der Volkssage und ihrer Geisterwelt, im Lied als verfeinertes Verständnis der Naturpoesie (Schubert und an ihn anknüpfend Mendelssohn, Schumann und die neuern R. Franz, Ad. Jensen, Joh. Brahms und Hugo Wolf), aber bald auch auf dem Gebiete der Instrumentalmusik als Streben nach charakteristischem Ausdruck eines bestimmten Vorwurfs: Mendelssohns »Sommernachtstraum« etc. knüpft direkt an Webers Romantik des Waldes an, Robert Schumann entwickelt besonders die Klaviermusik zu redendem Ausdruck, und schließlich wächst die ganze Programmusik von Berlioz und Liszt bis auf Richard Strauß in der natürlichsten Weise aus diesen Ansätzen heraus.

Richard Wagner (1813–83) endlich steht zwar mit seinem »Rienzi« (1842) noch ganz auf dem Boden der französischen großen Oper, wie dieselbe durch Cherubini und Spontini (»Vestalin«, 1807) inauguriert, in Halévy (»Die Jüdin«, 1835) und Meyerbeer (»Die Hugenotten«, 1836; »Der Prophet«, 1843) ihre stärksten Repräsentanten fand, der aber auch Aubers »Stumme von Portici« (1828) und Rossinis »Tell« (1825) angehören. Übrigens vertritt AuberFra Diavolo«, 1830) neben Boieldieu (»Die weiße Dame«, 1825), Herold (»Zampa«, 1831) und Adam (»Der Postillon von Lonjumeau«, 1836) die französische komische Oper, Rossini (»Der Barbier von Sevilla«, 1816) die italienische Operabuffa in ihrer letzten Blüte. Mit dem »Fliegenden Holländer« (1843) knüpft dagegen Wagner direkt an Marschner und Weber an und bleibt fortan der erste Vertreter der romantischen Richtung in der TonkunstTannhäuser«, 1843; »Lohengrin«, 1850; »Tristan und Isolde«, 1865; »Die Meistersinger«, 1868). Sein an die Florentiner Reform und die Glucksche Reaktion gegen den bel canto gemahnendes Ideal der radikalen Umgestaltung der Oper zu einem die Schwesterkünste mehr auf gleiche Stufe stellenden Musikdrama hatte er bereits 1851 in dem didaktischen Werke »Oper und Drama« auseinandergesetzt. Die volle Verwirklichung seiner Ideen brachte aber erst die von der deutschen Volkssage wieder auf den altnordischen Göttermythus zurückgreifende und damit die romantischen Ideale vertiefende, den Gesichtskreis erweiternde gewaltige Trilogie »Der Ring des Nibelungen« (erste Ausführung des ganzen Werkes in Bayreuth 1876). Der »Parsifal« (1882), in der musikalischen Faktur mit den »Nibelungen« zusammengehörig, steht dagegen wieder auf dem Boden der mittelalterlichen Romantik.

Seit Wagners Triumphen steht die Opernkomposition des Auslandes unleugbar unter deutschem Einfluß; das gilt zunächst von den Franzosen GounodFaust«, 1859), Ambroise ThomasHamlet«, 1868), BizetCarmen«, 1875), aber auch von den Italienern Verdi (seit »Aida«, 1871; »Othello«, 1887; »Falstaff«, 1893) und Boito (»Mefistofele«, 1868) und den slawischen Komponisten (Smetana, Dvořak). Die Orchester- u. Kammermusikkomposition fand nach Beethoven zunächst Pflege durch die Romantiker (Schubert, Mendelssohn, Schumann), denen sich wieder als bemerkenswert anschlossen Franz Lachner, Niels W. Gade, Joachim Raff, Anton Rubinstein, R. Volkmann, Anton Bruckner, C. Saint-Saëns, Vincent d'Indy, F. Dräsecke, Hermann Götz, der Norweger Edvard Grieg und Johannes Brahms (1833–97), letzterer durch Zurückgreifen auf Bach und Händel sich einer Verschmelzung des Beethovenschen und Bachschen Stils nähernd, während Berlioz, Liszt und die ihnen nachfolgenden slawischen Komponisten[311] (Glinka, Dvořak, Smetana, Tschaikowsky) sowie Richard Strauß mit den alten Formen mehr und mehr brachen und neue anstrebten. Die Übertragung des Wagnerschen Stils auf das Gebiet der absoluten M. versuchte Anton Bruckner (1824–96). Das Gebiet des Oratoriums, überhaupt der Komposition im großen Stil für Chor und Orchester, wurde nach Haydn von MendelssohnPaulus«, 1836; »Elias«, 1846) und SchumannParadies und Peri«, »Szenen aus Faust«), Hector BerliozFausts Verdammnis«, »Requiem«), Franz Liszt (»Graner Messe«, »Christus«, »Heilige Elisabeth«), Johannes BrahmsDeutsches Requiem«), RubinsteinMoses«, »Christus«), Fr. KielRequiem«, »Christus«), Ludwig MeinardusSimon Petrus«), H. v. HerzogenbergRequiem«, »Messe«, Oratorien), Edg. Tinel (»Franciscus«), Edw. Elgar (»Der Traum des Gerontius«, »Die Apostel«) bebaut. Als geschickte Eklektiker, die sowohl auf instrumentalem als vokalem Gebiete Achtunggebietendes leisteten, haben wir noch anzuführen die Namen Ferd. Hiller, Karl Reinecke, Fr. Kiel, Jos. Rheinberger, Mar Bruch, Heinrich Hofmann, Fr. Gernsheim, K. Goldmark, Emil Hartmann, M. Moszkowski. Besondere Beachtung beansprucht auch das seit dem Beginn des 19. Jahrh. sich mehr und mehr in den Vordergrund drängende musikalische Virtuosentum, das in seinen beiden berühmtesten Hauptvertretern, dem Violinisten Niccolò Paganini und dem Pianisten Franz Liszt, zugleich nicht gering begabte Komponisten hinstellte, durch welche die Produktion in besondere Bahnen gedrängt wurde. Beide sind allerdings nicht Ausgang, sondern eigentlich Abschluß einer vorgängigen allmählichen Steigerung der Anforderung an die technischen Leistungen der Konzertspieler; durch die tonangebende Rolle aber, die sie in Musikerkreisen zu spielen berufen waren, gewannen sie einen lange nachwirkenden Einfluß auf die gesamte Musikbildung und Musikübung, ja die Produktion selbst. Auf dem Gebiete des Klavierspiels hat hier die Vorgeschichte die Namen Clementi, Hummel, Czerny, Henselt und Thalberg mit Auszeichnung zu nennen; mehr in den Lisztschen Kreis selbst gehören Fr. Chopin, der eigentliche lyrische Romantiker unter den Pianisten, und der mehr didaktische Hans v. Bülow. Als spezielle Pfleger des kleinern Genres der Klaviermusik sind hervorzuheben Stephen Heller und Theod. Kirchner. Auf dem Gebiete des Violinspiels seien nur Tartini, Nardini und Spohr genannt (vgl. die einzelnen Artikel). Die Gegenwart befindet sich unzweifelhaft in einem Zustande der Gärung, des Suchens und Ringens nach neuen Formen und Ausdrucksmitteln einerseits und der Regeneration durch das Schöpfen aus dem Jungbrunnen der großen Vergangenheit. Immer breitern Raum gewinnt die Würdigung und das Studium der Schöpfungen Bachs, der mehr und mehr als gleichwichtiger Faktor neben Beethoven tritt, und monumentale Ausgaben der Werke der Altmeister (Händel, Bach, Palestrina, Orlando Lasso, Schütz, Sweelinck, Purcell, Vittoria etc.) treten ins Leben. – Die Bildnisse einiger hervorragenden deutschen Tondichter zeigt beifolgende Tafel.

[Literatur.] Dieselbe Tendenz offenbart sich auch in der schriftstellerischen Tätigkeit der Musiker, sofern die musikalische Geschichtsforschung einen starken Aufschwung genommen hat: Hawkins, Burney, Forkel, Gerbert, Fétis, Kiesewetter, Ambros, Coussemaker, Gevaert; dazu die Biographen O. Jahn (Mozart), Chrysander (Händel), Spitta (Bach), Thayer (Beethoven). Auch auf dem Gebiete der musikalischen Ästhetik ist eine erhöhte Tätigkeit bemerkbar, namentlich durch die Schriften von E. Hanslick (»Vom Musikalisch-Schönen«, Leipz. 1854; 10. Aufl. 1902), Ambros (»Die Grenzen der M. und Poesie«, 2. Aufl., das. 1874), G. EngelÄsthetik der Tonkunst«, Berl. 1884), H. Ehrlich (»Die Musikästhetik in ihrer Entwickelung von Kant bis zur Gegenwart«,. Leipz. 1881), Wallaschek (»Ästhetik der Tonkunst«, Stuttg. 1886), F. v. Hausegger (»Die M. als Ausdruck«, 2. Aufl., Wien 1887), O. Hostinsky (»Das Musikalisch-Schöne«, Leipz. 1877), A. Seidl (»Vom Musikalisch-Erhabenen«, das. 1887), W. Wolf (»Musikästhetik«, Stuttg. 1896–1906, 2 Bde.), K. R. Hennig (»Die Ästhetik der Tonkunst«, Leipz. 1898), H. RiemannElemente der musikalischen Ästhetik«, Berl. 1900), MoosModerne Musikästhetik in Deutschland«, Leipz. 1902). Auch Schumann, Liszt, Wagner und Berlioz sind hier zu nennen. Die gänzlich neuen Gebiete der Tonphysiologie (Helmholtz) und Tonpsychologie (Stumpf) gewannen einen starken Einfluß auf die Gestaltung der Musiktheorie (v. Öttingen, Riemann). Die Literatur über die einzelnen Zweige der M. siehe unter den betreffenden Artikeln (Harmonielehre, Kompositionslehre, Instrumentalmusik, Kirchenmusik etc.).

Von zusammenfassenden Darstellungen der Geschichte der M. vgl. Kiesewetter, Geschichte der europäisch-abendländischen M. (2. Aufl., Leipz. 1846); Ambros, Geschichte der M. (2. Aufl., das. 1880–81, 4 Bde., unvollendet); Fétis, Histoire générale de la musique (Brüss.u. Par. 1868–76, 5 Bde., unvollendet); Reißmann, Allgemeine Geschichte der M. (Münch. 1863–65, 3 Bde.); Brendel, Geschichte der M. in Italien, Deutschland und Frankreich (Leipz. 1851, 7. Aufl. 1887); A. v. Dommer, Handbuch der Musikgeschichte (2. Aufl., das. 1878); H. A. Köstlin, Geschichte der M. im Umriß (5. Aufl., Tüb ing. 1898); Langhans, Die Musikgeschichte in zwölf Vorträgen (2. Aufl., Leipz. 1878) und Geschichte der M. des 17., 18. und 19. Jahrhunderts (das. 1882–87, 2 Bde.); Riemann, Katechismus (2. Aufl., das. 1901) und Handbuch der Musikgeschichte (das. 1904 ff.) und Geschichte der M. seit Beethoven (Berl. 1901); Storck, Geschichte der M. (Stuttg. 1903–04); Keller, Illustrierte Geschichte der M. (2. Aufl., Münch. 1904, 2 Bde.); Merian, Illustrierte Geschichte der M. im 19. Jahrhundert (2. Aufl., Leipz. 1905); »The Oxford History of Music« (hrsg. von W. H. Hadow, Lond. 1901–05, 6 Bde.); die Sammelwerke: »Berühmte Musiker« (hrsg. von H. Reimann, Berl. 1898 ff.). und »Die Musik« (hrsg. von Richard Strauß, das. 1904 ff.).

Lexika: Schilling, Universal-Lexikon der Tonkunst (Stuttg. 1834–42, 6 Bde.); A. v. Dommer, Musikalisches Lexikon (auf Grundlage des Kochschen, Leipz. 1865); Mendel. Reißmann, Musikalisches Konversations-Lexikon (Berl. 1870–79, 11 Bde.; Supplement 1881); Riemann, Musiklexikon (6. Aufl., Leipz. 1904); Eitner, Biographisch-bibliographisches Quellen lexikon der Musiker etc. (das. 1900–05, 10 Bde.); Fétis, Biographie universelle des musiciens (2. Aufl., Par. 1860–65, 8 Bde.; Supplement von Pougin 1878–80, 2 Bde.); Grove, Dictionary of music and musicians (Lond. 1878–89, 4 Bde. und Supplement; neue Ausg. von Maitland, 1904 ff.).

Wichtigste musikalische Zeitschriften: die von Rochlitz begründete Leipziger »Allgemeine musikalische Zeitung« (1799, 50 Jahrgänge), Schumanns »Neue Zeitschrift für M.« (gegründet 1834), Fétis' »Revue musicale« (1827), G. Webers »Cäcilia« (1824–48), Marx' »Berliner allgemeine musikalische[312] Zeitung« (1824–30), der Pariser »Ménestrel« (1835), Dwights »Journal of Music« (1852–81, Boston), die Mailänder »Gazetta musicale« (1845), die Londoner »Musical Times« (1859), Eitners »Monatshefte für Musikgeschichte« (Leipz., seit 1869), die »Vierteljahrsschrift für Musikwissenschaft« (das. 1884 bis 1894), die »Rivista musicale italiana« (Turin, seit 1894), die »Zeitschrift« und die »Sammelbände« der Internationalen Musikgesellschaft (Leipz., seit 1900), das »Musikalische Wochenblatt« (das., seit 1870), der Brüsseler »Guide musical« (seit 1854), die »Signale für die musikalische Welt« (Leipz., seit 1843), Leßmanns »Allgemeine Musikzeitung« (Charlottenb.), »Neue Musikzeitung« (Stuttg.), »Die Musik« (Berl.).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 14. Leipzig 1908, S. 304-313.
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