[294] Preußen (Preußischer Staat, hierzu Karte »Preußen«), der wichtigste Staat im Deutschen Reich, besteht seit 1866 im wesentlichen aus einem zusammenhängenden Gebiet, das freilich eine Anzahl von kleinern Staaten (beide Mecklenburg, die Freien Städte, Oldenburg, Braunschweig, Anhalt, Lippe, Schaumburg-Lippe, Waldeck, Oberhessen, Teile der thüringischen Staaten) umschließt, und grenzt gegen N. an die Nordsee, Dänemark und die Ostsee, gegen O. an Rußland und Galizien, gegen S. an die österreichischen Kronländer Schlesien, Mähren und Böhmen, ferner an das Königreich Sachsen, die thüringischen Staaten, Bayern, das Großherzogtum Hessen, die bayrische Pfalz und Elsaß-Lothringen und gegen W. an Luxemburg, Belgien und die Niederlande. Getrennt vom preußischen Staatsgebiet sind außer mehreren Enklaven innerhalb der von P. umschlossenen Staaten die Kreise Schleusingen, Schmalkalden und Ziegenrück sowie die Exklaven Wandersleben in Thüringen und Hohenzollern in Süddeutschland. Die äußersten Punkte des Staates, abgesehen von Hohenzollern, sind folgende: der nördlichste bei Nimmersatt, nördlich von Memel, unter 55°54' nördl. Br., der östlichste bei Schilleningken unweit Schirwindt an der Scheschuppe unter 22°53' östl. L., der südlichste bei Hanweiler am Einfluß der Blies in die Saar unter 49°7' nördl. Br. und der westlichste bei Isenbruch im Regbez. Aachen (4 km von der Maas) unter 5°52' östl. L. In Rücksicht auf den Flächeninhalt nimmt P. die sechste Stelle unter den europäischen Staaten ein, indem es Rußland, Österreich-Ungarn, Frankreich, Spanien und Schweden nachsteht.
Bodengestaltung.
Der größere Teil des preußischen Staates gehört dem Norddeutschen Flachland an. Von den Küstenprovinzen reicht nur Hannover in das deutsche Bergland (Harz) hinein; die andern, Schleswig-Holstein, Pommern, West- und Ostpreußen sowie die beiden Binnenprovinzen Brandenburg und Posen, liegen ganz innerhalb des Norddeutschen Flachlandes, während Schlesien und Sachsen zum kleinern, Westfalen und die Rheinprovinz zum größern Teil und Hessen-Nassau ganz dem Bergland angehören. Auf das Tiefland kommen vom Staatsgebiet etwa 268,000 qkm (4867 QM.), auf das Bergland 80,300 qkm (fast 1459 QM.). Das Bergland geht zwischen Minden und Hannover mit dem Bückeberg und Deister am weitesten gegen N. vor. Von hier aus tritt es gegen[294] O. mit der Linie Quedlinburg-Görlitz-Tarnowitz nach S. zurück, während es auf der Westseite der Weser zwischen dem Flachland und den Flachlandsbusen an der obern Ems und Lippe und bei Köln und Bonn halbinselartig vorgeht, einmal bis Osnabrück, das andre Mal bis zum Steinkohlengebirge an der Ruhr. Das Bergland, soweit es innerhalb des preußischen Staates liegt, besteht, abgesehen von der Rauhen Albin Hohenzollern, aus folgenden Hauptgruppen: dem Rheinischen Schiefergebirge im W., dem Hessischen Berg- und Hügelland, dem Harz und Thüringer Wald in der Mitte, dem Subherzynischen Hügelland im N. und den Sudeten im SO.
Das Rheinische Schiefergebirge bildet in fast allen seinen Teilen ein Plateau ohne bedeutende Höhenzüge, das aber von tiefen Flußtälern vielfach zerrissen ist. Die einzelnen Teile des Schiefergebirges sind: 1) der Hunsrück (s. d.) zwischen Rhein, Nahe, Saar und Mosel, eine 400500 m hohe Platte, auf der sich einige Bergzüge befinden (Hochwald 816 m); 2) die Eifel (s. d.) auf der Nordseite der Mosel, ein Hochland ohne Bergrücken, wenn man von der rauhen Schneifel (Schneeeifel) absieht, mit der fruchtbaren Ebene des Maifeldes an der Nette, der Hohen Acht (760 m) und dem schönen Ahrtal; 3) das Hohe Venn (s. Venn) südlich von Aachen, mit großen Torfmooren, bei dem Signal Botrange 695 m hoch; 4) der Taunus (s. d.) zwischen Rhein, Main und Lahn, wie die folgenden auf der Ostseite des Rheins, in seinem westlichen Teile das Rheingaugebirge genannt (woselbst der Niederwald über Rüdesheim), in seinem östlichen mehr als Gebirgsrücken ausgeprägt (Großer Feldberg 880 m), mit zahlreichen Mineralquellen und den schönsten Weinlagen des Deutschen Reiches an seinem südlichen Fuß; 5) der Westerwald (s. d.), ein Plateau zwischen Rhein, Lahn und Sieg, mit dem Fuchskauten (657 m) und dem merkwürdigen Siebengebirge (s. d.) als Vorposten des Berglandes bei Königswinter am Rhein; 6) das Sauerländische Gebirge an der Lenne und Ruhr, das den größten Teil des westfälischen Regierungsbezirks Arnsberg erfüllt, mit vielen Verzweigungen: dem Quellgebiet der Sieg, Lahn und Eder, einer 600700 m hohen Platte, die nach allen Seiten zwischen den Flüssen sich abdacht und vom Härdler (696 m) an sich in dem Rothaar- oder Rotlagergebirge bis zum Plateau von Winterberg an der Quelle der Lenne (Kahler Astenberg 827 m) und Ruhr fortsetzt; 7) die Haar (380 m) bildet mit dem Ruhrkohlengebirge das nördlichste Glied des Schiefergebirges und fällt allmählich gegen das nördliche Tiefland ab.
Jenseit der Hessischen Senke, die in der Wetterau beginnt und sich in nördlicher Richtung bis zur mittlern Weser bei Höxter zieht, dehnt sich das Hessische Berg- und Hügelland aus, dem das Hessische Waldgebirge mit dem Knüllgebirge (632 m), dem Seulingswald (474 m), dem Meißner (749 m), dem Kaufunger Wald (640 m), dem Habichtswald (595 m), dem Reinhardswald (468 m) und dem Solling (51 dm), ferner die Hohe Rhön (Wasserkuppe 950, Milseburg 833 m) angehören. Durch die Göttinger Senke wird das Hessische Waldgebirge vom Thüringer Becken getrennt, dessen westlichsten Teil das Obere Eichsfeld bildet. Auf der sich zwischen Thüringer Wald und Harz erhebenden Muschelkalkplatte ragen mehrere Höhenzüge hervor, die nach O. zu an Höhe abnehmen (im N. Dün, Ohmgebirge, im S. Hainich, im O. Finne u. a.). Vom Thüringer Wald gehört nur der Südabfall des nordwestlichen Teiles P. an, während dies den ganzen Oberharz (Brocken 1142 m) und einen großen Teil des Unterharzes besitzt.
Nördlich und westlich vom Harz breitet sich zwischen dem Teutoburger Wald (484 m) im W. und Elm und Huywald im O. das Subherzynische Hügelland aus, das wegen des nordwestlichen Streichens seiner Bergzüge diesen Namen erhalten hat. Im Harzvorland sind die Höhen unbedeutend, im ostfälischen Hügelland schwellen sie schon zu 400 man (Hils, Ith, Deister u. a.). Westlich schließt sich daran das Weserbergland (Säntel, Westfälische Pforte am Durchbruch der Weser, Wiehengebirge).
Das Herzynische oder Sudetensystem enthält in Schlesien auf der Grenze gegen Österreich die höchsten Gebirge des Staates. Das kleine, aber mannigfach verzweigte Glatzer Gebirgssystem (s. Glatz, S. 12), das den Glatzer Kessel (ca. 320 m) einschließt, enthält: an der preußisch-österreichischen Grenze das Glatzer Schneegebirge (Großer Schneeberg 1422 m) auf der Wasserscheide zwischen Oder, Elbe und Donau, das Reichensteiner Gebirge (902 m), beide im O., sodann das Mensegebirge (Hohe Mense 1085 m) im W., endlich innerhalb des preußischen Staatsgebietes das Habelschwerdter Gebirge (962 m), das Eulengebirge (Hohe Eule 1014 m) und das Neuroder Gebirge. In der nordwestlichen Fortsetzung dieses Gebirgssystems erscheinen: das Plateau der Heuscheuer (920 m), das Waldenburger Gebirge (Heidelberg 936 m), durch das Tal des obern Bober vom Riesengebirge geschieden, sodann das Katzbachgebirge (724 m) und unter den einzelnen Bergen der schlesischen Ebene vor allen der Zobten (718 m). Das Riesengebirge, auf der Grenze von Schlesien und Böhmen, enthält die höchsten Berge des Staates (Schneekoppe 1603, Hohes Rad 1509 m); seine westliche Fortsetzung bildet der Hohe Iserkamm (Hinterberg 1126 m, Tafelfichte 1122 m), von dem in veränderter Richtung das Lausitzer und Erzgebirge außerhalb der Staatsgrenzen zum Fichtelgebirge leiten, während in der ursprünglich nordwestlichen Richtung sich eine nicht hohe Granitplatte bis zur Elbe bei Meißen hinzieht, zu der in Schlesien bei Görlitz die Landeskrone (427 m) und die Königshainer Berge gehören. Innerhalb der Gebirge Schlesiens sind unter den Tälern außer dem Glatzer Kessel das Landeshuter und Hirschberger Tal (300400 m hoch), beide am Bober, nennenswert.
Das Tiefland ist im W. von der Elbe einförmiger als im O. derselben. Am Gestade der Nordsee und längs der Flüsse gibt es dort vortreffliche Marschländer; sodann treten gewöhnlich Moore auf, die mit Sandflächen abwechseln und mit denselben als Geest zusammengefaßt werden. Von großem Umfang sind die Moore namentlich zu beiden Seiten der Ems bis Westfalen hinauf, ferner zwischen Weser und Elbe im Regbez. Stade, an der Aller, zu beiden Seiten der Weser unterhalb der westfälischen Grenze etc. Große Sandflächen bieten in Hannover die Lüneburger Heide (bis 171 m hoch) zwischen Aller und Ilmenau und der Hümling auf der östlichen Seite der Ems im Kreis Meppen dar. In dem Becken von Münster bildet die Senne weite unfruchtbare Strecken, die teils sandig und wasserarm, teils versumpft sind. Unter den Hügelgruppen dieses Beckens sind die Schöppinger Berge (154 m) und die Stromberger Hügel (190 m), diese auf der Platte von Beckum, die bedeutendsten. In der Provinz Sachsen bildet die Platte der Altmark (Hellberge bei Zichtau 160 m) die Fortsetzung der Lüneburger Heide. Im O. der Elbe[295] entwickeln sich im Tiefland zwei Landrücken. Der südliche, der Märkisch-schlesische (s. d.), zieht sich durch das südliche Brandenburg und das nördliche Schlesien und trägt verschiedene Namen: Fläming (Hagelberg 201 m) im Regbez. Potsdam, Lausitzer Grenzwall (Rückenberg 229 m) im Regbez. Frankfurt, Katzenberge (200 m) in Schlesien zwischen Bober und Oder, Trebnitzer Berge (311 m) zwischen Bartsch und Weida und Oberschlesischer Jura (357 m) im N. von der Malapane; der letztere schließt sich in Polen an die Ausläufer der Karpathen an. Der nördliche, der Norddeutsche Landrücken oder die Baltische Seenplatte, durchstreicht die Provinzen Schleswig-Holstein, Brandenburg, Pommern, West- und Ostpreußen. Er wird von der Oder und Weichsel durchbrochen, ist im allgemeinen sehr breit und wasserreich und trägt die meisten sowie (außer den Hassen) auch die größten Landseen in P. und Norddeutschland. Seine bedeutendsten Höhen sind: in Schleswig-Holstein der Bungsberg (168 m), in Pommern der Schimmritzberg im Kreise Bütow (256 m), in Westpreußen der Turmberg (331 m) auf der Platte von Karthaus, endlich in Ostpreußen die Kernsdorfer Höhe (313 m), südlich von Osterode, und die Seesker Höhen (309 m), östlich von den großen Masurischen Seen auf der Ostpreußischen Seenplatte. Zwischen beiden Landrücken herrscht eine große Abwechselung von Tief- und Hügelland, namentlich in Brandenburg; da sind das Havelländische Luch, das Rhinluch, das Oderbruch, der Spreewald, sodann die Platte von Barnim (157 m), die Rauenschen Berge (152 m) an der Spree etc., in Posen das Obrabruch. Merkwürdig sind die breiten und tiefen Talsenkungen im S. des Norddeutschen Landrückens, die nach der mittlern Elbe hin konvergieren (s. Deutschland, S. 764). In dem Bereich der eigentlichen Küstenebene sind nennenswerte Hügellandschaften: die Stubbenkammer auf Rügen (159 m), der Gollenberg bei Köslin (144 m), die Trunzer Berge bei Elbing (198 m), der Stablack mit den Höhen von Wildenhof (Schloßberg 216 m) im Kreis Preußisch-Eylau und der Galtgarben (110 m) im Samland bei Königsberg. Hervorragende Landspitzen an der Ostsee sind Arkona auf Rügen (46 m), Rixhöft (53 m) und Brüsterort (34 m) zu beiden Seiten der Danziger Bucht. Über die geologische Beschaffenheit Preußens vgl. die Textbeilage bei Deutschland, S. 762, mit Karte, und die Artikel »Norddeutsches Tiefland«, »Harz«, »Riesengebirge«, »Thüringer Wald« etc.
Nutzbare Mineralien (vgl. auch Textbeilage bei Deutschland, S. 764, mit Karte). Zunächst sind mehrere Steinkohlenbecken zu nennen: das kohlenreiche Oberschlesische Becken, an mehreren Stellen, inbes. bei Gleiwitz, aus dem bedeckenden Diluvium aufragend; das Niederschlesische Becken, eine von NW. nach SO. gerichtete, in ihrer Mitte von Rotliegendem und Kreide ausgefüllte Mulde, deren östlicher Flügel bei Waldenburg bergbaulich ausgeschlossen ist; die Steinkohlenablagerungen von Wettin und Löbejün; das Kohlenbecken von Ilfeld und schließlich das vielleicht mit dem Westfälischen Steinkohlengebirge unterirdisch zusammenhängende Steinkohlenbecken von Ibbenbüren. In der Dyasformation (s. d.), die den Harz und den Thüringer Wald umgürtet und im Kyffhäuser, bei Riechelsdorf in Hessen u. a. O. unter hangenden Schichten emportaucht und auch in Schlesien entwickelt ist, sind von technischer Bedeutung der Kupferschiefer, der im Mansfeldischen Gegenstand eines sehr ausgedehnten Bergbaues ist, ferner Eisenstein, der namentlich in Thüringen verbreitet vorkommt, vor allem aber das Steinsalz, das bei Staßfurt, von wertvollen Kalisalzen und Gips bedeckt, etwa 900 m mächtig ist und sich in ähnlicher und zum Teil noch größerer Mächtigkeit unter dem Diluvium Norddeutschlands über weite Flächenräume verbreitet. Die Triasformation (s. d.) führt in Oberschlesien bei Tarnowitz Lager von Zinkerzen und Bleiglanz, bei Erfurt auch Gips mit Steinsalz, beides im Muschelkalk, ist aber sonst im allgemeinen arm an nutzbaren Mineralien. Das gleiche gilt von der Juraformation. Die Kreide enthält in ihrer untern am Deister, dem Osterwald und dem Bückeberg brackisch entwickelten Abteilung, der sogen. Wealdenformation, gute bituminöse Kohlen und bei Salzgitter und bei Peine in verschiedenen Niveaus bauwürdige Eisenerze. Auch die Tertiärablagerungen, die die Niederung des Odergebietes von Liegnitz und Breslau bis Neiße und Oppeln erfüllen, die sogen. niederschlesische Bucht bildend, führen ebenso wie das Tertiär der thüringisch-sächsischen Bucht, das zwischen Halle und Wurzen bis weit nach Thüringen in das Gebiet älterer Formationen eindringt und offenbar mit dem großenteils von Diluvium bedeckten norddeutschen Tertiär zusammenhängt, bauwürdige Braunkohlen, die zum Teil miocänes Alter besitzen, also jünger als die Hauptmasse der oligocänen Tertiärschichten sind, zum Teil aber auch, wie gerade zwischen Halle und Leipzig und in der Egelner Mulde, unteroligocän sind. Braunkohlenkomplexe miocänen Alters finden sich aber außer in der Mark Brandenburg und in Pommern auch in dem zum Oberrheinischen Gebirgssystem gerechneten Bergland, so in der Gegend von Kassel (im Habichtswald und am Meißner), in der Rhön, am Vogelsberg und in der Wetterau, an vielen dieser genannten Orte mit marinen und brackischen Ablagerungen miocänen oder auch oberoligocänen Alters verknüpft und in der Regel durchbrochen und überlagert von vulkanischen Gesteinen.
Das deutsche Küstenland an der Ost- und Nordsee gehört überwiegend dem preußischen Staat an, da an die Ostsee sonst nur Mecklenburg-Schwerin, Lübeck und das oldenburgische Fürstentum Lübeck, an die Nordsee nur hamburgisches und bremisches Gebiet und Oldenburg heranreichen (Näheres s. Deutschland, S. 764 f.). Was die fließenden Gewässer anlangt, so hat P. 119 schiff- und flößbare und 4050 nur flößbare Flüsse und 90 schiffbare Kanäle, von denen einige sehr verzweigt, andre nur sehr kurz sind. Unter den Flüssen sind 10, die auf preußischem Gebiet mehr als 200 km weit mit Schiffen befahren werden können. Den preußischen Staat durchfließen 6 Ströme (Memel, Weichsel, Oder, Elbe, Weser, Rhein) und 3 wichtige Küstenflüsse (Pregel, Eider, Ems); außerdem durchströmt noch die Donau in ihrem obern, nicht schiffbaren Lauf Hohenzollern. Von den genannten Flüssen gehören nur Pregel, Eider und Ems ausschließlich dem preußischen Staat an; Memel, Weichsel und Oder entspringen im Ausland, durchfließen aber, sobald sie die deutsche Grenze überschritten, nur preußisches Gebiet. Auch die Elbe und der Rhein entspringen außerhalb Deutschland, berühren aber auch andre deutsche Staaten und zwar die Elbe Sachsen, Anhalt, Mecklenburg und Hamburg, während der Rhein erst unterhalb Bingen in P. eintritt, dann aber diesem Staat bis zu seinem Übertritt nach den Niederlanden angehört. Die Weser ist vorherrschend ein preußischer Fluß, berührt aber auch braunschweigisches, bremisches und oldenburgisches Gebiet (Näheres s. Deutschland, S. 765 f., und die einzelnen[296] Artikel). Zwischen Weichsel und Oder sind zahlreiche Küstenflüsse (Rheda, Leba, Lupow, Stolpe, Wipper mit Grabow, Persante, Rega) vorhanden, die alle auf dem Norddeutschen Landrücken entspringen. Unter den Küstenflüssen zwischen Oder und Elbe sind, von der Eider abgesehen, die Recknitz, Trave und Schwentine die bedeutendsten. Der Neckar berührt Hohenzollern, der Main (mit Kinzig und Nidda) die Südgrenze von Hessen-Nassau. Zur Maas in den Niederlanden fließen die Roer und Niers, ebendaselbst zur Neuen Yssel die Berkel und zum Zuidersee die Vechte. Unter den Kanälen sind der Bromberger Kanal (26,3 km) zwischen Brahe und Netze (Weichsel und Oder), der Finowkanal (43,1) zwischen Oder und Havel, der Müllroser oder Friedrich Wilhelms-Kanal (27) und der Oder-Spreekanal (100,6) zwischen Oder- und Elbgebiet sowie der Kaiser Wilhelm-Kanal (98,6), der Dortmund-Emskanal (271,3) und der 1905 vom Landtag bewilligte Mittellandkanal (s. d.) zur Verbindung des Rheins mit der Leine bei Hannover (213,2) am wichtigsten. Sonst sind noch bemerkenswert: in Ostpreußen der König Wilhelm-Kanal (25, e) zur Verbindung der Stadt Ruß mit der Stadt Memel, der Seckenburger Kanal (4,8) und der Große Friedrichsgraben (19) zwischen Gilge und Deime zur Umgehung des Kurischen Haffs, die Masurische Wasserstraße (86,4) zwischen Angerburg und Johannisburg nebst Verzweigungen von Nikolaiken nach Lippa (43) und von Nikolaiken nach Rhein (19,8) und der Elbing-Oberländische Kanal (82,1, mit seinen Verzweigungen und den Seen 176) zwischen den Seen auf der Grenze von Ost- und Westpreußen; in Westpreußen der Weichsel-Haffkanal (19,7) zwischen Danziger Weichsel und Tiege; in Brandenburg der Templiner Kanal (23,2), der Ruppiner Kanal (15,1), der Große Hauptgraben im Havelländischen Luch (76,4, davon schiffbar 15), der Emsterkanal (16,5), der Niederneuendorfer Kanal (8,7), der Fehrbelliner Kanal (13), der Werbellinkanal (10,7), der Rheinsberger Kanal (13,1), der Sakrow-Paretzer Kanal (16) nördlich von Potsdam, der Berlin-Spandauer Kanal (12,1), der Landwehrkanal (10,5) südlich von Berlin, der Teltowkanal (37,2) zwischen Spree und Havel mit Umgehung von Berlin, der Notte- (22) und der Storkowkanal (34,7, davon 24,2 km Seen); in Schlesien der Klodnitzkanal (45,6); in Sachsen der Alte (34,6) und der Neue (30) Plauesche Kanal zwischen Havel und Elbe; in Schleswig-Holstein der Elbe-Travekanal (67,2); in Hannover neben vielen kleinern Kanälen in den Mooren und Marschländern (darunter die Ostfriesischen Moorkanäle, 275,9) der Bederkesa-Geeste- und Hadelner Kanal (11,4 und 33,7) zwischen Geeste und Außen-Medem sowie der Oste-Hammekanal (16) zwischen Weser und Ems, der Emskanal (25,7) an der Ems, der Ems-Vechtekanal (21,3) zwischen Ems und Vechte, der Ems-Jadekanal (70), die Papenburger Kanäle (34), der Südnordkanal (45,6), der Kanal Haaren-Rütenbrock (13,5) sowie der Picardie-Koeverdenkanal (23,5 km) auf der Grenze gegen die Niederlande. Vgl. die »Übersicht der deutschen Schiffahrtskanäle« und die Karte beim Artikel »Kanal« (im 10. Band). An Landseen ist P. in einzelnen Teilen, z. B. auf dem Norddeutschen Landrücken, außerordentlich reich; in andern, z. B. im W. von der Elbe, fehlen sie dagegen fast gänzlich. Von besonderer Wichtigkeit sind die Seen aber nur in der Provinz Ostpreußen, wo eine Anzahl derselben auf der Grenze von West- und Ostpreußen (Geserich-, Drewenz-, Drausensee) und im Masurenland des Regbez. Gumbinnen (Rosch-, Spirding-, Löwentin-, Mauersee) durch schiffbare Kanäle, den Elbing-Oberländischen Kanal dort, die Masurische Wasserstraße hier, miteinander in Verbindung stehen. Unter den übrigen Seen verdienen an dieser Stelle noch eine Erwähnung: der Goplosee an der obern Netze in Posen; der Vilmsee an der Küddow, der Dratzigsee an der Drage, die Madüe an der Plöne, der Dammsche See bei Altdamm und der Kummerowsee an der Peene in Pommern; der Werbelliner, Paarsteiner, Ruppiner, Schwielow- (an der Havel), Schwielug- (an der Spree), Scharmützelsee und die Uckerseen in Brandenburg; der Süße See bei Eisleben in Sachsen; der Selenter, Plöner, Ratzeburger und Schalsee in Schleswig-Holstein; das Steinhuder Meer in Hannover und der Laacher See in der Rheinprovinz. Sümpfe, Moore und Brücher in großer Ausdehnung gibt es vorzüglich in den vier Küstenprovinzen, mehr vereinzelt auch in den andern Provinzen: in Ostpreußen in der Tilsiter Niederung am Kurischen Haff und zwischen Gilge und Deime (das Große Moosbruch); in Pommern große Moore an der Leba, zwischen der Persante bei Kolberg und der Dievenow bei Kammin, auf der Ostseite des Pommerschen Haffs und an der Peene; in Brandenburg im Havelländischen und Rhinluch, im Warthe- und Netzebruch sowie im Spreewald; in Posen an der Netze und Obra (Obrabruch); in Sachsen das Fiener Bruch unweit des Plaueschen Kanals, das Halberstädter Bruch zwischen Bode und Oker und der Drömling an der Aller und Ohre, in Schleswig-Holstein auf der Geest zwischen Flensburg, Tondern und Husum, zwischen Eider und Stör, so auch in Dithmarschen auf der Ostseite der Marschländer. In Hannover sind sie ganz besonders umfangreich, so zwischen Elbe und Weser, wo bei Bremen blühende Moorkolonien sich gebildet haben, an der Aller, zu beiden Seiten der Weser bei Nienburg, im Emsgebiet (das 1300 qkm große, fast noch ganz unkultivierte Bourtanger Moor auf der Grenze gegen die Niederlande) und in Ostfriesland, woselbst durch die Anlegung zahlreicher Kanäle (Fehne genannt) viele blühende Fehnkolonien entstanden sind; in Westfalen gibt es Moore an der Bastau bei Minden und in den Sennegebieten an der obern Ems und bei Koesfeld, in der Rheinprovinz auf dem Hohen Venn. Durch ihre Lage sind noch bekannt: die Seefelder in der Grafschaft Glatz, die Moore auf dem Isergebirge in Schlesien und das Brockenfeld auf dem Harz. Über Mineralquellen s. unten, S. 301. Über Klima, Pflanzen- und Tierwelt s. Deutschland, S. 766768, und Klimakarte nebst Textbeilage.
[297] Volkszahl, Zu- und Abnahme. Die Bevölkerung des preußischen Staates ist in stetigem Steigen begriffen. Während man 1816: 10,349,031, 1831: 13,038,960, 1840: 14,928,501, 1852: 16,935,420 Einw. zählte, betrug die Bevölkerung des Staates 1864: 19,255,139, 1867 (mit Einschluß der neuerworbenen Provinzen und des Herzogtums Lauenburg) 24,021,440, 1871: 24,689,252, 1875 (mit Lauenburg) 25,742,404, 1880: 27,279,111, 1885: 28,318,470, 1890 (einschl. Helgoland) 29,957,367, 1895: 31,855,123, 1900: 34,472,509 und 1905: 37,293,324 Seelen. Die Volksvermehrung bezifferte sich im jährlichen Durchschnitt mehrjähriger Perioden im 19. Jahrh. auf 0,71,58 Proz. der mittlern Bevölkerung. Die jährliche Zunahme der Bevölkerung betrug 186771: 166,953, 187175: 263,288, 187580: 307,341, 188085: 207,872, 18851890: 327,779, 189095: 379,551, 18951900: 523,477 und 190005: 564,163 Seelen. Seit 1867, wo der preußische Staat im wesentlichen seine jetzige Ausdehnung erreicht hatte, nahm seine Volkszahl um 13,271,884 Personen oder 55,25 Proz. der am 3. Dez. 1867 gezählten Bevölkerung, alljährlich somit im Durchschnitt um 1,45 Proz., zu. Während dieser 38 Jahre war die Volkszunahme Preußens jederzeit höher als in fast allen übrigen europäischen Staaten und im Deutschen Reich durchschnittlich. In den einzelnen Landesteilen stellte sich die Volkszunahme während des Jahrfünfts 190005 sehr verschieden. Unter den Provinzen zeigten die stärkste Zunahme Brandenburg (13,62 Proz.) und Westfalen (13,5 Proz.), die geringste Ostpreußen (1,68 Proz.) und Hohenzollern (2,25 Proz.). Von den Regierungsbezirken treten Potsdam (20,76), Münster (16,94), Düsseldorf (14,98) und Arnsberg (14,13) durch die größte, Gumbinnen (0,43), Stralsund (1,90), Frankfurt (1,93) und Königsberg (1,98) durch die geringste Volkszunahme hervor.
Auswanderung. Seit 1887 werden nur noch Nachrichten über die aus deutschen Häfen abreisenden Auswanderer nach überseeischen Ländern erhoben. Ihre Zahl stieg von 40,956 im J. 1871 allmählich auf 145,679 Köpfe im J. 1881, verminderte sich dann aber mit mehrfachen Schwankungen bis auf 16,206 Köpfe im J. 1905. Die stärkste Auswanderung erfolgte aus den Provinzen Posen, Hannover und Brandenburg. Als Reiseziel sind in erster Linie die Vereinigten Staaten von Nordamerika zu nennen, wohin seit vielen Jahren etwa 90 Proz. der Auswanderer übersiedeln (1905 von den überhaupt zur See ausgewanderten preußischen Staatsangehörigen 15,133 Personen). Daneben kommen vornehmlich noch Großbritannien und Argentinien in Betracht.
Dichtigkeit. P. umfaßt seinem Areal nach mehr als 5/8 der Gesamtfläche Deutschlands und macht seiner Volkszahl nach etwas über 3/5 des Reiches aus. Die durchschnittliche Bevölkerungsdichtigkeit für das QKilometer stellte sich zu Ende 1905 für P. auf 106,9 Köpfe (gegen 112,1 im Deutschen Reiche) und schwankte innerhalb der preußischen Provinzen, mit Ausschluß von Berlin, zwischen 238,4 im Rheinlande und 54,9 in Ostpreußen. Außer der Hauptstadt Berlin mit den Vororten weisen einerseits die mineralreichen Industriegegenden mit Kleingrundbesitz (Rheinland, Regierungsbezirke Arnsberg, Wiesbaden und Oppeln) und einzelne waldreiche Gegenden mit Klein- und Hausindustrie (Teile des Regbez. Breslau) eine starke Bewohnerzahl im Verhältnis zur Fläche auf, anderseits sind die unfruchtbaren Gebirgsgegenden sowie die Heide- und Moorlandschaften nebst den Landesteilen mit ausgedehnten Brachländereien und geringen Weiden (Lüneburger Heide, Teile der Regierungsbezirke Aurich und Schleswig, ferner Pommern und Ostpreußen) schwach bevölkert. Nach dem endgültigen Ergebnis der Volkszählung von 1905 hatte Berlin 2,040,148 Einw. Dasselbe hat sich im Jahrfünft 190005 nur um 151,300 Köpfe (gegen 263,507 während des Jahrfünfts 188590) vermehrt; aber die Volkszahl in den Berlin umgebenden 28 Vororten ist im Jahrfünft 190005 um 299,924 Köpfe (45,8 Proz.) gestiegen, so daß Groß-Berlin 1905 fast 3 Mill. Einw. umfaßt. 1905 zählte ferner Breslau 470,904, Köln 428,722, Frankfurt a. M. 334,978, Düsseldorf 253,274, Hannover 250,024, Magdeburg 240,633, Charlottenburg 239,559, Essen 231,360, Stettin 224,119, Königsberg i. Pr. 223,770 Einw., wobei jedoch zu berücksichtigen ist, daß die Volksziffer bei den meisten Städten vornehmlich durch Eingemeindung von Vororten gestiegen ist. Vgl. die Karte der Bevölkerungsdichtigkeit in Deutschland (Bd. 4) mit Textbeilage.
Geschlecht. Obgleich in P. etwa 6 Proz. mehr Knaben als Mädchen geboren werden, überwiegt in der Bevölkerung dennoch das weibliche Geschlecht. 1905 wurden durchschnittlich 102,6 Frauen gegen 100 Männer ermittelt. Während das weibliche Geschlecht in den Regierungsbezirken Breslau, Liegnitz, Gumbinnen, Posen, Oppeln noch mehr überwog als im Gesamtstaate, blieb es in den Regierungsbezirken Arnsberg, Münster, Trier, Stade, Schleswig, Düsseldorf hinter dem Durchschnitt zurück. In Berlin war bis 1875 das männliche Geschlecht im Übergewicht, die Zählungen seit 1880 ergaben jedoch einen beträchtlichen Überschuß des weiblichen Geschlechts (1905 um 70,540 Personen, allerdings um 12,226 weniger als im J. 1900).
Familienstand. Von der ortsanwesenden Bevölkerung waren 1900: 59,62 Proz. ledig, 34,68 Proz. verheiratet, 5,53 Proz. verwitwet und 0,17 Proz. geschieden. Im produktiven Alter vom vollendeten 15. bis 70. Lebensjahr standen 61,72 Proz., im Greisenalter (über 70 Jahre) 2,69 und im Kindesalter (unter 15 Jahren) 35,59 Proz. der Bevölkerung.
Bewegung der Bevölkerung. 1904 fanden 1,304,797 Geburten, 294,732 Eheschließungen und 742,366 Sterbefälle statt. Sowohl bei den Geburten wie bei den Sterbefällen sind 40,166 Totgeburten hinzugerechnet. Die natürliche Volksvermehrung, d. h. der Überschuß der Gebornen über die Gestorbenen, stellte sich auf 562,431 Personen oder 1,54 Proz. der Bevölkerung. 7290 Personen endeten 1904 durch Selbstmord. Auf 1000 Einw. entfielen 1904: 8,1 Eheschließungen, 35,8 Geburten, 20,4 Sterbefälle. Unehelich geboren waren 1904: 92,503 Kinder (2,52 auf 100 nicht verheiratete Frauen im Alter von 16 bis 50 Jahren).
Wohnplätze, Haushaltungen. Die Zahl der Städte betrug 1905: 1281, diejenige der Landgemeinden 36,081 und die der Gutsbezirke 15,799. Über 100,000 Einw. hatten 28 Städte (1871: 3), 26 (1871: 14) je 50100,000 Einw., 89 (1871: 31) je 2050,000 und 119 (1871: 88) je 1020,000 Einw. Die Zahl der Landgemeinden mit mehr als 10,000 Einw. betrug 91. Auf die städtische Bevölkerung (Gemeinden mit mehr als 2000 Einw.) entfielen 1900: 54,38, auf die ländliche 45, 62 Proz. der Gesamtbevölkerung. Die Zahl der Haushaltungen belief sich 1900 auf 7,456,683, davon waren 6,886,676 Familien-, 516,132 Einzel- und 53,875 Anstaltshaushaltungen.[298] Bewohnte Wohnstätten wurden 1900: 3,603,183, davon 3,557,366 Wohnhäuser ermittelt. Auf eine Wohnstätte kommen im Durchschnitt 9,57 Personen in 2,07 Haushaltungen. 32,962,344 Personen lebten in Familieneinheiten und 994,033 in Anstalten. Auf eine Familienhaushaltung entfielen durchschnittlich 4,78 Personen gegen 4,92 im J. 1871.
Nationalität (Staatsangehörigkeit). Nach der bei der Volkszählung vom 1. Dez. 1900 angestellten Erhebung über die Muttersprache waren in P. 30,383,089 Deutsche (88,14 Proz. der Bevölkerung), davon 49,23 Proz. männlichen und 50,77 Proz. weiblichen Geschlechts. 211,110 Personen (0,61 Proz.) sprachen außer dem Deutschen eine fremde Sprache, und 3,878,310 Personen (11,25 Proz.) sprachen ausschließlich eine fremde Sprache. Unter letztern sprachen:
Die Polen wohnen vornehmlich in den Provinzen Posen, Schlesien, Westpreußen und neuerdings auch in Westfalen, die Masuren in Ostpreußen, die Kassuben in Westpreußen, die Wenden in Brandenburg und Schlesien, die Mähren und Tschechen in Schlesien, die Dänen in Schleswig, die Holländer in Rheinland und Westfalen. Außerdem sind noch Wallonen (11,750), meist im Rheinland, Friesen (20,640) in Schleswig-Holstein und Italiener (21,789) in Rheinland und Westfalen zu erwähnen. Der Staatsangehörigkeit nach zählte man 1905 in P. 524,874 Reichsausländer, d. h. 14,1 vom Tausend der Bevölkerung. Unter ihnen nahmen die Österreicher mit 210,960 die erste Stelle ein; es folgten die Niederländer mit 95,969, die Russen mit 75,796, die Italiener mit 34,463, die Dänen mit 24,064, die Ungarn mit 21,450, die Schweizer mit 17,396, die Belgier mit 9421, die Briten mit 9108, die Angehörigen der Vereinigten Staaten von Amerika mit 8293 Köpfen etc.
Religionsbekenntnis. Die Zahl der Angehörigen der einzelnen Religionsgemeinschaften stellte sich 1905 wie folgt: Evangelische 23,341,502 (62,59 Proz.), Römisch-Katholische 13,334,765 (35,80 Proz.), Griechisch-Orthodoxe und -Katholische 17,679, Mennoniten 13,860, Baptisten 42,370, Apostolische (Irvingianer) 45,654, Freireligiöse 11,004, christliche und andre Dissidenten 51,076, sonstige Christen 18,569 (davon waren 1900: Herrnhuter 4031, Anhänger der englischen und schottischen Hochkirche 2557, Methodisten und Quäker 5226 etc.); Juden 409,501 (1,10 Proz.), andre Religionen 6081, ohne Angabe 1263.
Über die örtliche Verteilung der Evangelischen, Katholiken sowie der Juden im J. 1900 vgl. die beiden Karten und die Textbeilage bei Artikel »Deutschland«, S. 774.
Für Unterrichtszwecke gibt P. mehr aus als alle europäischen Länder. Die Gesamtkosten des öffentlichen Unterrichts (ohne die Unterrichtsanstalten der Armee und Marine) sind 1902 auf mindestens 372,300,000 Mk. zu veranschlagen, d. h. 9,98 Mk. auf den Kopf der Bevölkerung. Geschöpft wurden diese Ausgaben aus folgenden Quellen:
Von den Gesamtausgaben entfielen auf die
Volksbildung. Die preußische Volksschule steht gegenwärtig neben der andrer deutscher Staaten auf der ersten Stufe unter den Völkern der Erde. Infolge der allgemeinen Schulpflicht müssen alle Bewohner ihre nicht anderweit gehörig unterrichteten Kinder vom zurückgelegten 6. bis zum vollendeten 14. Lebensjahr zur öffentlichen Schule schicken. Die Volksschule untersteht den Bezirksregierungen und in oberster Instanz der Staatsregierung, während die unmittelbare Aussicht seitens der Gemeinden durch Deputationen und Kommissionen sowie durch Lokal- und die staatlich bestellten Kreisschulinspektoren ausgeübt wird. Für die Unterhaltung der öffentlichen Volksschulen wurden 1901 in P. 269,9 Mill. Mk. verwendet, davon wurden aufgebracht durch Einkünfte von Schul- etc. Vermögen 2,75 Proz., von den Gemeinden 65,92 Proz., aus Staatsmitteln 27,18 Proz., durch Schulgeld 0,31 Proz., der Rest kam aus andern Quellen. Zum Volksunterricht gehören außer den Volksschulen die Mittelschulen, eine große Zahl von Privatschulen und Schulen in verschiedenen Anstalten; bei allen diesen waren 1901 vorhanden:
Höhere Lehranstalten. Im Winter 1903/04 zählte man 324 Gymnasien, 39 Progymnasien, 93 Realgymnasien, 23 Realprogymnasien, 47 Oberrealschulen und 145 Realschulen, zusammen mit 11,018 Lehrern und 208,949 Schülern (einschließlich der Vorschüler). Zur Ausstellung des Befähigungszeugnisses für den einjährig-freiwilligen Militärdienst waren außer diesen noch 33 andre Anstalten (darunter 16 Landwirtschaftsschulen) berechtigt. Vgl. Wiese, Das höhere Schulwesen in P. (Berl. 186474, 3 Bde.); Schneider und v. Bremen, Das Volksschulwesen im preußischen Staat (das. 188687, 3 Bde.).
Die Universitäten bestehen in der Regel aus vier Fakultäten: einer theologischen, juristischen, medizinischen und philosophischen. Die Universitäten Bonn und Breslau haben außer der evangelisch- auch eine katholisch-theologische Fakultät, während die Universität in Münster nur drei Fakultäten, eine katholisch-theologische, eine philosophische und eine juristische, und das Lyzeum in Braunsberg nur eine katholisch-theologische Fakultät hat. Im Winter 1904'05 wurden die 11 preußischen Hochschulen: Berlin, Bonn, Breslau, Göttingen, Greifswald, Halle a. S., Kiel, Königsberg i. Pr., Marburg, Münster und Braunsberg (Lyzeum) von zusammen 19,722 Studierenden (ohne[299] ca. 4000 zum Besuch der Vorlesungen Berechtigte) besucht. Dazu kommt noch die Kaiser Wilhelm-Akademie in Posen (1139 Hörer) und 7 kath. Priesterseminare (555 Studierende). Das Lehrpersonal beläuft sich insgesamt auf 1725, darunter 611 ordentliche Professoren.
Fachlehranstalten. Zur Vorbereitung für den landwirtschaftlichen Beruf dienen die landwirtschaftliche Hochschule in Berlin, die landwirtschaftliche Akademie in Poppelsdorf (bei Bonn) sowie die landwirtschaftlichen, mit den Universitäten verbundenen Institute in Königsberg (mit einem agrikulturtechnischen Laboratorium), Breslau, Halle, Kiel (nebst agrikulturchemischer und milchwirtschaftlicher Versuchsstation) und Göttingen (mit einem Tierarzneiinstitut nebst agrikulturchemischem Laboratorium und landwirtschaftlicher Versuchsstation), zusammen 7 Hochschulen mit (1904/05) 117 Lehrern und 2172 Studierenden. Ferner gibt es 2 tierärztliche Hochschulen, eine in Berlin und eine in Hannover. An mittlern und niedern landwirtschaftlichen Lehranstalten sind zu nennen: 16 berechtigte Landwirtschaftsschulen, 19 Ackerbauschulen, 128 landwirtschaftliche Winterschulen, 5 Wiesenbauschulen, 3 pomologische Institute und Gärtnerlehranstalten, 15 Garten- und Obstbauschulen, das Lehrinstitut für Zuckerfabrikation in Berlin, die Brennereischule in Berlin, die Brauerei-Versuchs- und Lehranstalt in Berlin, 64 Molkerei- und Haushaltungsschulen, 49 Lehrschmieden und Hufbeschlagsschulen, die Imkerschulen zu Fintel (Kreis Rotenburg in Hannover) und Flacht (Unterlahnkreis). Endlich gehören hierher die 1604 ländlichen Fortbildungsschulen (die meisten in Hessen-Nassau und der Rheinprovinz). Forstliche Lehranstalten sind außer den königlichen Forstakademien in Eberswalde und Münden mit zusammen (Winter 1904/05) 134 Studierenden die königlichen Forstlehrlingsschulen in Groß-Schönebeck und Proskau. Lehranstalten für die Baukunst und das Ingenieurfach sind die 4 Technischen Hochschulen in Berlin, Hannover, Aachen und Danzig (1905 mit 341 Lehrern, 299 Assistenten und 4664 Studierenden), ferner 22 Baugewerkschulen, 19 Maschinenbauschulen und Fachschulen für Metallindustrie. In Berlin und Klausthal bestehen Bergakademien, während die Zahl der Bergschulen 10 und diejenige der Bergvorschulen 43 beträgt. Zahlreich sind auch die gewerblichen Fachschulen (darunter 7 höhere und 6 niedere Webschulen), 23 Handwerker-, Kunstgewerbe- und Zeichenschulen, 3 Handelshochschulen (Köln, Frankfurt a. M. und seit 1906 in Berlin), 1290 gewerbliche und kaufmännische Fortbildungsschulen, 83 Handels-, Gewerbe- und Haushaltungsschulen für Mädchen. Die Zahl der Navigationsschulen beträgt 12 nebst 7 Navigationsvorschulen, ferner bestehen 3 Seedampfschiffs-Maschinistenschulen und 41 Schifferschulen für Binnenschiffahrt. Der Pflege der bildenden Künste widmen sich die staatlichen Kunstakademien in Berlin, Königsberg, Düsseldorf, Kassel, ferner die Zeichenakademie in Hanau, und neben den 3 staatlichen Kunstschulen in Berlin (2) und in Breslau (1) gibt es noch derartige Privatinstitute in Königsberg, Danzig und Magdedurg. Die Tonkunst wird vorzugsweise in Privatanstalten geübt; doch bestehen in Berlin eine akademische Hochschule für Musik, eine akademische Meisterschule für musikalische Komposition und ein akademisches Institut für Kirchenmusik. Der Vorbereitung für den Kriegsdienst und allgemeinen militärischen Zwecken dienen die Kriegsakademie, die vereinigte Artillerie- und Ingenieurschule in Berlin sowie die Marineakademie in Kiel, die militärische Hochschulen sind, ebenso wie die zunächst militärärztlichen Zwecken dienende Kaiser Wilhelms-Akademie für das militärärztliche Bildungswesen in Berlin (1904/05: 313 Studierende). Zur Versorgung der Armee mit Roßärzten besteht in Berlin die Militärroßarztschule. Kriegsschulen sind in Anklam, Engers, Glogau, Hannover, Hersfeld, Kassel, Neiße und Potsdam; Kadettenhäuser in Köslin, Potsdam, Wahlstatt, Bensberg, Plön, Oranienstein, Naumburg a. S. und die Hauptkadettenanstalt in Groß-Lichterfelde. Eine Marineschule hat Kiel. Außerdem sind als Militärlehr- und -Erziehungsanstalten hier zu nennen: die Artillerieschieß-, die Oberfeuerwerkerschule, die Militärturnanstalt in Berlin und das Militärreitinstitut in Hannover; die Unteroffizierschulen in Potsdam, Jülich, Biebrich, Weißenfels (Ettlingen in Baden), Marienwerder, die Unteroffiziervorschulen in Annaburg (mit Militär-Knabenerziehungsinstitut), Bartenstein, Greifenberg in Pommern, Weilburg und Wohlau und die Militärwaisenhäuser in Potsdam und Schloß Pretzsch (Kreis Wittenberg). Unter den Bibliotheken ist die königliche (Staats-) Bibliothek in Berlin die bedeutendste, der sich zunächst einige Universitätsbibliotheken sowie die Landesbibliotheken in Fulda, Kassel, Wiesbaden und Düsseldorf anreihen. Unter den Fachbibliotheken verdient vor allen Erwähnung diejenige des königlichen Statistischen Bureaus in Berlin. Sternwarten bestehen in Berlin, Danzig (Observatorium der Naturforschenden Gesellschaft), Düsseldorf (städtische), Bothkamp in Schleswig-Holstein (Privatsternwarte des Kammerherrn v. Bülow), Potsdam (astro-physikalisches Observatorium, Sonnenwarte), Wilhelmshaven sowie an den Universitäten in Königsberg, Breslau, Kiel, Göttingen, Marburg und Bonn. Das geodätische Institut und Zentralbureau der internationalen Erdmessung, das meteorologische Institut, die 1700 gegründete, 1740 neuorganisierte Akademie der Wissenschaften in Berlin dienen in erster Linie wissenschaftlichen Zwecken, in gewisser Beziehung auch die Staatsarchive. Vortreffliche Kunstsammlungen bilden die königlichen Museen, das Museum für Völkerkunde, das Kunstgewerbemuseum, die Nationalgalerie für Werke deutscher Meister des 19. Jahrh., das Kaiser Friedrich-Museum, das Rauch-Museum etc., sämtlich in Berlin. Von großem Interesse sind ferner das Hohenzollern-Museum (im königlichen Monbijouschloß), das Postmuseum im Generalpostamtsgebäude, das Hygiene-, das Kolonial-, das Geologische, das Landwirtschaftliche, das Museum für Naturkunde in Berlin. Nennenswerte Museen sind außerdem in Breslau, Kassel (nebst Bildergalerie), Danzig, Kiel, Stettin, Stralsund, Bonn, Frankfurt a. M., Halle a. S., Hannover, Wiesbaden, Köln, Düsseldorf u. a. O. Botanische Gärten bestehen, außer an den Universitäten, in Köln, Düsseldorf, Frankfurt a. M. und Frankfurt a. O.; zoologische Gärten in Berlin, Köln, Breslau, Frankfurt a. M. und Hannover. Die Presse hat in den letzten Jahrzehnten einen außerordentlichen Umfang gewonnen (s. Zeitungen).
Gesundheitspflege. Die neueste Erhebung des Heilpersonals von 1904 ermittelte 18,480 Ärzte (gegen 9284 im J. 1887) und 1338 Zahnärzte. Die Apo- (heken vermehrten sich 18871904 von 2532 auf 3218, und die Zahl der Hebammen betrug 1903 19,727. Die 2145 allgemeinen Heilanstalten in P. hatten 1904 (ohne Irre, Augenkranke, Gebärende und [300] Militärlazarette) 118,623 Betten und 897,424 verpflegte Personen. Es bestehen 332 öffentliche und private Irrenanstalten (mit 70,355 Betten), in denen 1903: 101,782 Krankheitsfälle behandelt wurden. Die Zahl der Idiotenanstalten beträgt 38, diejenige der Anstalten (bez. Abteilungen) für Epileptische 17 und der Trinkerasyle 4; ferner gibt es 121 Augenheilanstalten und 144 Entbindungsanstalten. Vgl. »Das Gesundheitswesen des preußischen Staates« (amtlich, erscheint jährlich; zuletzt für 1904, Berl. 1906). P. besitzt 263 Bäder und Trinkquellen, darunter 146 Mineralbäder verschiedenster Art, 20 Trinkquellen nur zum Versand, 80 Ostsee- und 17 Nordseebäder. Der Besuch der Mineralbäder belief sich 1901 auf 339,239 Kur- und Badegäste, in den Seebädern auf 298,312 Badegäste. Der Versand von Mineralwasser aus 48 Mineralbädern und 20 Trinkquellen betrug 71,37 Mill. Flaschen oder Krüge. Am besuchtesten sind Wiesbaden und Homburg v. d. H. (Kochsalzwässer), Ems, Neuenahr (alkalische Wässer), Salzbrunn (Glaubersalzwässer), Kreuznach (jod- und bromhaltige Kochsalzwässer), Aachen, Landeck (Schwefelwässer), Langenschwalbach (Eisenwasser), Reinerz (indifferente Thermen); unter den Seebädern Norderney, Borkum und Westerland auf Sylt an der Nordsee, Kolberg (zugleich Solbad), Heringsdorf, Miodroy, Zoppot, Ahlbeck, Saßnitz, Swinemünde und Kranz an der Ostsee.
Die Landwirtschaft bildet heute noch den wichtigsten Zweig der produktiven Tätigkeit des preußischen Volkes. Nach den Ermittelungen von 1900 beträgt der Flächeninhalt des preußischen Staates (einschließlich Hohenzollern) 34,864,866 Hektar, nämlich 17,661,548 Hektar Acker- und Gartenland, 3,273,378 Hektar Wiesen, 2,064,907 Hektar Weiden und Hutungen, 21,153 Hektar Weingärten, 8,270,133 Hektar Forsten und Holzungen, 363,969 Hektar Haus- und Hofräume, 1,595,388 Hektar Öd- und Unland, 1,614,388 Wegeland, Gewässer etc. Der prozentuale Anteil dieser Kulturarten etc. an der Gesamtfläche der Provinzen ist folgender:
Für die wichtigsten Feldfrüchte stellten sich die Ertragszahlen (in Tonnen zu 1000 kg):
Nach der Grundsteuerregulierung von 186165 in den acht alten und von 187175 in den drei neuen Provinzen beläuft sich der Gesamtreinertrag des Staates (ohne Hohenzollern) auf 445,9 Mill. Mk., nämlich 308,8 Mill. Mk. für das Ackerland, 9,9 Mill. Mk. für die Gärten, 62,5 Mill. für die Wiesen, 23,5 Mill. für die Weiden, 40,1 Mill. für die Waldungen, 1 Mill. für die Wasserstücke und 36,914 Mk. für das Ödland. Mit der Bodenfruchtbarkeit verhält es sich in den einzelnen Provinzen folgendermaßen: Die Provinz Ostpreußen hat das beste Ackerland an der Memel und in dem Landstrich von Stallupönen bis Mohrungen, das schlechteste in den südlichen Grenzkreisen (Neidenburg, Ortelsburg und Johannisburg); Westpreußen das beste in den Weichselwerdern und im Kulmer Lande, das schlechteste im Kreis Löbau und auf der Höhe des Landrückens längs der pommerschen Grenze. In Brandenburg zeichnen sich durch Bodenfruchtbarkeit das Oderbruch und ein Teil der Ukermark aus; der Sandboden ist in den südlichen Kreisen durchaus vorherrschend. Pommern hat vorzüglichen Boden in Vorpommern mit Ausnahme des Kreises Uckermünde, in Hinterpommern bei Pyritz und in der Küstengegend nach O. bis über Stolp hinaus; dagegen hat der Landrücken, namentlich im Regbez. Köslin, ganz vorwiegend Sandboden. In Posen sind die Kreise längs der nördlichen und westlichen Grenze am wenigsten fruchtbar; das Gegenteil zeigt sich in den polnischen Kreisen an der Ostgrenze. Schlesien hat einen vorzüglichen Boden in der ganzen Landschaft längs des Fußes der Gebirge von Görlitz bis Ratibor; der schlechteste Boden findet sich in Oberschlesien auf der östlichen Seite der Oder und in der westlichen Spitze der Provinz. In Sachsen sind die Bodenverhältnisse in den ebenen Landschaften zwischen Magdeburg, Halberstadt, Erfurt und Zeitz außerordentlich günstig, die Ackerländereien überaus umfangreich (bis 85 Proz. von der Gesamtfläche), am wenigsten fruchtbar die Altmark sowie die Kreise im O. von der Elbe und des Thüringer Waldes. Schleswig-Holstein hat den vorzüglichsten Boden in der westlichen Marsch, sodann in der Küstenlandschaft an der Ostsee; die Mitte ist am unfruchtbarsten. Hannover zeigt die geringste Ackerfläche, da die großen Sandstriche der Lüneburger Heide und des Hümmling sowie die bedeutenden Moore größtenteils den Weideländereien zugezählt sind. Sehr fruchtbaren Boden besitzen die ausgedehnten Marschländereien, nächstdem mit Ausnahme der Gebirge die Kreise, die südlich von der Stadt Hannover liegen. Westfalens Ackerländereien sind wegen der umfangreichen Weiden in[301] den Sennegebieten und der großen Waldungen nächst denen in Hannover und Hessen-Nassau am wenigsten groß, in den Ebenen, namentlich im Hellweg zwischen Ruhr und Lippe, vielfach vortrefflich, in den höchsten Teilen des Sauerländischen Gebirges aber nicht bedeutend und dabei, teilweise wegen der klimatischen Einflüsse, wenig ergiebig. Hessen-Nassau hat vorzügliche Ackerflächen im S. am Main, ferner an der Lahn und Schwalm, bei Kassel und in dem abgelegenen Kreis Rinteln; am unfruchtbarsten sind die Kreise an der obern Fulda, der Thüringer Wald (Schmalkalden) und die höchsten Teile des Westerwaldes. Die Rheinprovinz besitzt die schlechtesten Ackerländereien auf der Höhe der Eifel, die vortrefflichsten zwischen Köln, Aachen und Krefeld im Jülicher Land.
In P. wurden bei der Berufs- und Gewerbezählung vom 14. Juni 1895: 3,308,126 Landwirtschaftsbetriebe ermittelt (gegen 3,040,196 im J. 1882); es muß indes bemerkt werden, daß die reinen Forstwirtschaftsbetriebe und die Molkereibetriebe 1882 nicht, 1895 dagegen mit gezählt wurden. Die Zahl der Hauptbetriebe, d. h. solcher, für welche die Landwirtschaft die Haupterwerbsquelle bildet, belief sich 1895 auf 1,200,560. Dieselben bewirtschafteten eine Gesamtfläche von 24,487,480 Hektar oder 86 Proz. der gesamten Wirtschaftsfläche des Staates; hierbei nahmen die Großwirtschaften (mit über 100 Hektar) 32,75 Proz. (besonders in Pommern, Posen, Westpreußen), die großbäuerlichen von 20100 Hektar 31,66 Proz., die mittelbäuerlichen von 520 Hektar 23,42 Proz., die kleinbäuerlichen von 25 Hektar 7,48 Proz., die Parzellenbetriebe (unter 2 Hektar) 4,69 Proz. der gesamten Wirtschaftsfläche ein. Die Staatsdomänen bestehen 1905 aus 1266 Vorwerken mit einer nutzbaren Fläche von 379,764 Hektar; das jährliche Einkommen aus denselben beläuft sich auf etwa 14,1 Mill. Mk. Die Gesamtzahl der Fideikommisse betrug 1904: 1165 mit einem Flächeninhalt von 2,232,592 Hektar (6,4 Proz. des gesamten Staatsgebiets), wovon 1,035,424 Hektar auf Waldungen entfallen. Am meisten sind Fideikommisse in Schlesien (besonders im Regbez. Oppeln), Hohenzollern und dem Regbez. Stralsund vertreten. Der Grundsteuer-Reinertrag der Fideikommisse beläuft sich auf 27,7 Mill. Mk. (6,2 Proz. desjenigen der gesamten Staatsfläche). Große Deichverbände bestehen in den Weichselwerdern, im Oder- und Warthebruch und in den Marschen an der Nordseeküste; auch gibt es viele Ent- und Bewässerungsgenossenschaften, so in der Tilsiter Niederung, für das Obrabruch, den Drömling, an der Schwarzen Elster etc.; außerdem bilden zahlreiche Moor- und Fehnkolonien (Ostfriesland) den Anfang zur Urbarmachung der gewaltigen Moore; seit 1876 besteht als beratendes Organ des Landwirtschaftsministers die Zentral-Moorkommission in Berlin mit der Moorversuchsstation in Bremen.
Von der 1900 als Acker- und Gartenland nachgewiesenen Fläche von 17,661,548 Hektar waren bestellt mit den Hauptgetreidearten 54,68 Proz., mit den andern Getreidearten und Hülsenfrüchten 6,93, mit Hackfrüchten und Gemüse 17,61, mit Handelsgewächsen 0,55, mit Futterpflanzen 9,47 Proz.; als Ackerweide wurden benutzt 5,07, als Brache 4,25 Proz., als Haus- und Obstgärten 1,44 Proz. Von Getreide und Hülsenfrüchten beansprucht der Anbau des Winterroggens und Hafers das größte Areal; mit ersterm waren 1900: 4,575, 449 Hektar oder 25,56 Proz., mit letzterm 2,697,573 Hektar oder 15,27 Proz. der Gesamtackerfläche bestellt, dem Weizen waren 6,86, der Gerste 5,18 Proz. gewidmet; von den Hackfrüchten nehmen die Kartoffeln, von den Handelsgewächsen der Raps und von den Futterpflanzen der Klee die größten Anbauflächen, nämlich 12,64, bez. 0,30 und 6,65 Proz., in Anspruch. Der Weizen ist durchschnittlich am ergiebigsten in den Regierungsbezirken Magdeburg, Merseburg, Hildesheim und Schleswig, der Roggen in Köln und Hildesheim, die Gerste in Sachsen und den Regierungsbezirken Hildesheim, Köln und Danzig, der Hafer in Sachsen, die Kartoffeln in Pommern, Brandenburg, Sachsen und Hannover. Spelz erzeugen in beträchtlicherer Menge nur Hohenzollern und die Rheinprovinz, Buchweizen Hannover und Schleswig-Holstein; Mais wird in Schlesien und Posen als Grünfutter angebaut, Hirse nicht bedeutend in Posen, Schlesien, Brandenburg. Im allgemeinen genügt die Getreideernte nicht dem Bedarf, und es findet eine bedeutende Getreideeinfuhr statt. Von Hülsenfrüchten werden, und zwar nur für den innern Bedarf, Erbsen in Ost- und Westpreußen, Posen und Pommern, Linsen (wenig) in Sachsen und Rheinland, Bohnen überall in den Gärten, Saubohnen in Hannover, Ostpreußen, Sachsen, Schleswig-Holstein, Westfalen, Wicken besonders in Ost- und Westpreußen, Posen, Pommern (zur Hälfte als Grünfutter), Lupinen in allen Sandgegenden der östlichen Provinzen angebaut. Futterkräuter liefern vornehmlich die reichlich bewässerten Täler. Raps und Rübsen werden besonders auf den größern Gütern in Schlesien gebaut. Mohn ist nur in den Regierungsbezirken Merseburg, Erfurt und Potsdam ein Gegenstand bedeutender Kultur. Von Farbepflanzen werden Krapp, Saflor und Scharte nur noch in geringer Ausdehnung kultiviert; der Waidbau bei Erfurt hat fast ganz aufgehört. Von Gewürzpflanzen werden Senf in Posen, Pommern und Brandenburg, Anis und Fenchel im Regbez. Erfurt förmlich angebaut. Von Fabrikpflanzen sind der Flachs, die Zuckerrübe und die Kartoffel die wichtigsten. Flachs findet man in allen Provinzen, in größter Quantität und bester Qualität aber in Schlesien, Ostpreußen, Pommern, Hannover und im Regbez. Minden. Der schönste Flachs ist der von Bielefeld. Der innere Bedarf wird jedoch längst nicht gedeckt; seine Anbaufläche betrug 1900 nur 21,288 Hektar; es findet Einfuhr aus Österreich, namentlich aber aus Rußland statt. Hanf wird ebenfalls in keineswegs genügender Menge in Hannover, Rheinland und Westfalen gezogen; auch von ihm findet alljährlich eine starke Einfuhr statt. Die Zichorie wird fast ausschließlich im Magdeburgischen kultiviert, die Kardendistel nur noch in Hannover. Der Anbau der Zuckerrübe, die einen sehr guten Boden verlangt, hat sich seit 1836 in großartiger Weise entwickelt. Das Hauptgebiet derselben befindet sich in der Provinz Sachsen (117,009 Hektar), und zwar in der Gegend zwischen Magdeburg, Halberstadt und Halle; ferner wird sie in größerer Menge in Schlesien zwischen Breslau und Schweidnitz, in Posen, in Hannover bei Hildesheim, in Pommern an der Oder und bis zur Rega, in Westpreußen und Brandenburg (Oderbruch) gebaut. Die ganze dem Zuckerrübenbau im Staat gewidmete Fläche ist (1900) 642,237 Hektar groß, davon dienten zur Zuckerfabrikation 363,686, zu Futterzwecken 263,617 und zur Samengewinnung 14,934 Hektar. Der Tabakbau nimmt ab; 1843 nahm derselbe noch über 10,000,1905 nur noch 3947 Hektar (Ertrag 73,928 dz) in Anspruch. Am meisten wird Tabak in der Provinz Brandenburg bei Schwedt und Vierraden und in den benachbarten Teilen Pommerns gebaut. Für den[302] Hopfenbau im Staat ist die Provinz Posen (Neutomischel) der Mittelpunkt, woneben nur noch die Regierungsbezirke Königsberg und Wiesbaden in Betracht kommen, insgesamt 2412 Hektar. Vgl. für diesen und den folgenden Abschnitt die Karte »Landwirtschaft in Deutschland« (Bd. 4), ferner Meitzen, Der Boden und die landwirtschaftlichen Verhältnisse des preußischen Staats (Bd. 14, Berl. 186873; Bd. 5 u. 6, nach dem Gebietsumfang der Gegenwart, 1895 u. 1901); »Handbuch des Grundbesitzes im Königreich P.« (das. 1895 ff., bisher erschienen 9 Bde., bez. Provinzen, zum Teil in wiederholten Auflagen).
Der Gartenbau wird sowohl als Haupt- wie als Nebenbeschäftigung betrieben; in ersterer Hinsicht zeichnen sich einige Gegenden besonders aus, vorzüglich die Stadt Erfurt (s. d.), daneben Quedlinburg am Nordfuß des Harzes und die Umgegend von Altona. Feine Gemüse werden in großer Auswahl bei sämtlichen größern Städten gebaut; die Zucht des Spargels ist am bedeutendsten in Hannover und den Regierungsbezirken Potsdam und Wiesbaden; Kraut und Feldkohl wird in Hannover und Schlesien, die Gurke in Sachsen, Schlesien und dem Regbez. Frankfurt (Spreewald), Meerrettich im Spreewald und dem Regbez. Stade gebaut. Die Blumenzucht blüht in den Gärten der größern Städte, so in Berlin und Potsdam. Neben dem Gartenbau hat sich die Gartenkunst selbständig bei den königlichen und fürstlichen Schlössern entwickelt, zu Sanssouci bei Potsdam und auf den großen Gütern in Schlesien etc., wo in großartigen Treib- und Gewächshäusern die Ananas kultiviert wird und (in Pleß) alte Feigenbäume vorkommen. Die Garten- und Obstländereien nahmen 1904 im Staat 254,594 Hektar ein. Der Obstbau ist ausgedehnter in den westlichen und südlichen Provinzen (besonders Sachsen, Rheinland, Schlesien, Hannover, Brandenburg) als in den östlichen und nördlichen. Bei der Obstbaumzählung 1900 wurden 90,2 Mill. Obstbäume ermittelt (verhältnismäßig die wenigsten in Schleswig-Holstein und Westpreußen). Am meisten werden gezogen: Pflaumen oder Zwetschen (Sachsen), Kirschen (am Harz, im Alten Land in Hannover etc.), Äpfel und Birnen; Pfirsiche kommen in größerer Menge nur in den Rheinlanden vor, Aprikosen und Walnüsse mehr vereinzelt, noch seltener sind die echte Kastanie und die Maulbeere. Zahlreiche Baumschulen und die pomologischen Institute in Geisenheim am Rhein und Proskau in Oberschlesien fördern den Obstbau; gleichwohl steht derselbe noch nicht auf der Höhe der süddeutschen Länder. Der Weinbau ist nur in den Rheingegenden von Belang. Hier liefern der Rheingau und der südliche Fuß des Taunus in Hessen-Nassau die schönsten Weine Deutschlands (Rüdesheim, Johannisberg, Geisenheim, Eltville, Erbach, Rauenthal, Hattenheim, Schierstein und Hochheim Weißweine; Aßmannshausen Rotwein). In der Rheinprovinz gibt es gute Weine am Rhein, an der Nahe, Mosel, Saar und Ahr. Die Polargrenze des Weinbaues trifft am Rhein Bonn, an der Werra Witzenhausen, an der Saale Merseburg, an der Havel Werder und in der Odergegend Züllichau in Brandenburg und Bomst in Posen. Im ganzen nimmt der Weinbau im Staat eine Fläche von 21,153 Hektar ein, und der jährliche Gewinn an Wein betrug 1903: 335,215 hl. Die Rheinprovinz treibt Weinbau auf 14,349, Hessen-Nassau auf 3956, Schlesien (bei Grünberg) auf 1324, Sachsen (an der Unstrutmündung) auf 920, Brandenburg auf 457 und Posen auf 146 Hektar.
Die Viehzucht in P. ist eng an die Wiesenkultur geknüpft. Umfangreiche und gute Wiesen gibt es an der Memel und dem Pregel in Ostpreußen, in den Weichselwerdern in der Nähe des Frischen Haffs in Westpreußen, an der Oder von Schlesien abwärts bis Stettin, an der Elbe und Saale in Sachsen; von geringerm Umfang sind die Wiesen in den westlichen Provinzen. Fettweiden von größerm Umfang gibt es in der Nordspitze der Rheinprovinz und in den Marschen an der Nordsee. Der Viehstand hat sich, abgesehen von den Schafen, neuerdings nicht unerheblich vermehrt. Man zählte 1. Dez. 1904: 2,964,408 Pferde (darunter 152,564 unter einem Jahr alte Fohlen), 5025 Maultiere, Maulesel u. Esel (1900), 11,156,133 Stück Rindvieh (darunter 754,352 Kälber unter 3 Monate alt), 5,660,529 Schafe, 12,563,899 Schweine und 2,116,360 Ziegen. Von hervorragender Bedeutung ist die Pferdezucht, die vornehmlich in den Provinzen Ost- und Westpreußen betrieben wird; 5 Hauptgestüte (Trakehnen, Graditz, Beberbeck, Neustadt a. D. und Zwion-Georgenburg) und 18 Landgestüte wirken auf die Veredelung der Rasse hin. Das trefflichste Rindvieh wird in den Marschländern an der Nordsee, in der Ebene der Rheinprovinz, auf dem Westerwald in Hessen-Nassau, in den Saalkreisen der Provinz Sachsen, den schlesischen Gebirgen und den Kreisen am Fuß derselben sowie in den Niederungen an der Oder, Weichsel und Memel gezogen. Die Schafzucht geht neuerdings immer mehr zurück (1867: 22,304,984, 1883: 14,752,328, 1900: 7,001,518 Schafe) auf Grund der Konkurrenz der von außerhalb eingeführten Wolle. Die meisten Schafe finden sich in der Provinz Pommern (1904: 1,113,686), dann folgen die Provinzen Sachsen, Brandenburg, Hannover, West- und Ostpreußen. Die Schweinezucht ist in der Provinz Hannover am stärksten, demnächst in Sachsen, Brandenburg, Pommern und Westfalen. Die Zahl der Ziegen nimmt fortwährend zu. Federvieh wird zwar in allen Provinzen gezogen (1900 zählte man 38,2 Mill. Gänse, Enten und Hühner), indes keineswegs ausreichend für den Bedarf, da noch große Mengen davon eingeführt werden müssen. Die Bienenzucht nimmt nach einem Rückgang neuerdings wieder zu (1900: 1,548,256 Bienenstöcke gegen 1,238,040 im J. 1883); sie blüht besonders in Hannover, demnächst in Ostpreußen, Schlesien, Pommern, Schleswig-Holstein und liefert Honig in genügender Menge, Wachs dagegen nicht ausreichend für den Bedarf im Innern.
Die Fischerei ist von großem Belang. Zu ihrem Schutz ist das Fischereigesetz vom 30. Mai 1874 erlassen. Für die See- und Küstenfischerei bestehen Oberfischmeisterämter in Altona, Kiel, Stralsund, Swinemünde, Neufahrwasser, Pillau und Memel. 1905 wurden für die Seefischerei 560 Fahrzeuge von 127,980 cbm mit 4524 Mann Besatzung benutzt, darunter 156 Dampfer von 75,951 Ton. Der Hauptfang besteht aus Schellfischen, Kabeljau, Seehechten, Schollen, Rochen und Knurrhahn; außerdem in Seezungen, Steinbutten und Kleißen. Während der Wintermonate wird auch vereinzelt Stör gefangen, für den in Glückstadt eine Anlage zur künstlichen Aufzucht eingerichtet ist. Ebenso werden in bestimmten Jahreszeiten Heringe in der Ostsee von Hela bis Schleswig-Holstein und in der Nordsee (Emden) gefangen. Sprotten gibt es in großer Menge an der Ostküste von Schleswig-Holstein. Austern werden besonders im Wattenmeer an der Westküste von Schleswig gezüchtet. Die Binnenfischerei[303] wird durch Fischzuchtanstalten sehr gefördert. Karpfen werden vornehmlich bei Kottbus in Brandenburg, Störe in der Elbe, Oder und im Frischen Haff (Elbkaviar, Kaviar von Pillau), Lachse im Rhein (Salm), in der Weser, Oder, Elbe etc., Weise (oft mehr als 50 kg schwer) in der Oder und Elbe, Aale in allen größern Gewässern Brandenburgs, Pommerns, Ost- und Westpreußens, Hechte allenthalben, Zander vornehmlich in den Gewässern der Provinz Brandenburg, Maränen im Madüesee in Pommern und in einigen Seen der Neumark, Forellen in den Flüssen und Bächen der gebirgigen Landesteile gefangen. Außerdem finden sich See- und Flußkrebse in Menge, hier u. da Perlenmuscheln (Queis) u. Blutegel.
Von der Gesamtfläche des Staates nehmen die Forsten und Holzungen (1900) 8,270,133 Hektar oder 23,7 Proz. ein; auf die Forsten der Krone entfallen 72,420, auf die Staatsforsten 2,557,334, die Staatsanteilsforsten 1135, die Gemeindeforsten 1,103,646, die Stiftungsforsten 97,972 und die Privatforsten 4,201,196 Hektar (darunter die Fideikommißförsten 1,031,932), der Rest besteht aus Genossenschaftsförsten. Die waldreichsten Provinzen sind Brandenburg und Schlesien, dann folgt die Rheinprovinz, während als die waldärmste neben Hohenzollern Schleswig-Holstein dasteht. Von der gesamten Forstfläche des Staates nimmt das Nadelholz 69,09, das Laubholz 30,91 Proz. ein; ersteres wiegt in den nordöstlichen und mittlern, letzteres in den westlichen Provinzen vor. Auf Eichenschälwald entfallen 329,881 Hektar (4 Proz. der Forstfläche). Die Staatsforsten befinden sich vornehmlich in den Provinzen Brandenburg, Ost- und Westpreußen mit einem Flächeninhalt von 398,884, bez. 383,380 und 335,939 Hektar, demnächst folgen Hessen-Nassau und Hannover mit 261,137, bez. 240,223 Hektar. Gar keine Staatsforsten befinden sich in Hohenzollern. Der größte Anteil vom Gemeindeforstbesitz entfällt auf die Rheinprovinz und Hessen-Nassau mit 330,012, bez. 212,928 Hektar. Der Forstbesitz der Genossenschaften erreicht mit 93,394 Hektar in Hannover seinen größten Umfang, hieran schließen sich Westfalen und Hessen-Nassau. Die Stiftungen treten als Eigentümer von Forsten vornehmlich in Hannover und Hessen-Nassau mit 20,973, bez. 12,528 Hektar hervor. Der Rohertrag der gesamten Forsten betrug 1899: 9,660,900 Festmeter Nutzholz und 8,394,600 Festmeter Brennholz, abgesehen von Stock- und Reisholz und Eichenlohe. Der Reinertrag der Staatsforsten stellte sich 1903 auf 109,7 Mill. Mk. Vgl. v. Hagen, Die forstlichen Verhältnisse Preußens (3. Aufl. von Donner, Berl. 1894).
Von jagdbaren Tieren finden sich Hafen und das gewöhnliche Hochwild in allen Provinzen; auch die Wildschweine sind in einigen Gegenden zahlreich und richten großen Schaden an. Das Elentier wird in dem Ibenhorster Forst am Kurischen Haff noch gepflegt. Wildes Geflügel, als Auer-, Birk-, Reb-, Hasel- und Wasserhühner, Schnepfen, Trappen, wilde Gänse und Enten, Drosseln, Krammetsvögel und Lerchen, ist in Menge vorhanden. Von Raubwild kommt der Luchs nur noch in vereinzelten Exemplaren, der Wolf in Ost- und Westpreußen und Posen, häufiger auf dem Hunsrück in der Rheinprovinz, die Wildkatze sehr selten, Füchse, Marder, Dachse und Iltisse in allen Provinzen, wenn auch nicht in großer Zahl, vor. Adler und Falken sind selten. Im ganzen ist die Jagd in P. von untergeordneter volkswirtschaftlicher Bedeutung. Vgl. hierzu die im Artikel »Jagd« (S. 135) gemachten Angaben über die Jagdverhältnisse und den Wildbestand im Königreich P.
Preußens Industrie hat noch kein hohes Alter; ihre erste Entwickelung fällt in die Zeit des Großen Kurfürsten, der in ihr eine feste Grundlage für die Wohlfahrt und Größe des Staates zu gewinnen suchte. Die nächsten Herrscher, vor allen Friedrich d. Gr., folgten seinem Beispiel. Die Gesetzgebung von 1810 gab der industriellen Tätigkeit die nötige Freiheit; während von seiten der Regierung durch Errichtung von Gewerbeschulen, Aussetzung von Prämien und andre Maßregeln der Gewerbfleiß gefördert wurde, geschah dies von seiten der Privaten durch Gewerbevereine, Gewerbeausstellungen, Hilfskassen etc. Eine Gewerbeordnung für den preußischen Staat erschien 17. Jan. 1845; sie hielt grundsätzlich an der Gewerbefreiheit fest, wenn diese auch in der Folgezeit einige Einschränkungen erlitt. Für den Norddeutschen Bund wurde 21. Juni 1869 eine neue Gewerbeordnung erlassen, die am 1. Jan. 1873 als Reichsgesetz in Kraft trat und 1. Juli 1883 und 26. Juli 1900 in neuer Fassung als Reichsgesetz herausgegeben wurde. Die Gewerbefreiheit wurde auch hierbei im ganzen als leitender Grundsatz anerkannt (s. Gewerbegesetzgebung, S. 787 f.). Die industriereichsten Provinzen sind die Rheinprovinz, Westfalen und Schlesien, dann Brandenburg, Sachsen und Hessen-Nassau.
An der Spitze aller gewerblichen Tätigkeit in P. steht der Bergbau. Für ihn ist das Staatsgebiet in fünf Oberbergamtsbezirke eingeteilt (vgl. »Übersichtskarte der Verwaltungsbezirke der königl. preuß. Bergbehörden etc.«, Berl. 1906, 2 Blatt). Der Bezirk des Oberbergamtes zu Breslau umfaßt die Provinzen Schlesien, Posen, West- und Ostpreußen, des zu Halle die Provinzen Sachsen, Brandenburg und Pommern, des zu Klausthal das östliche Hannover, den Regierungsbezirk Kassel und Schleswig-Holstein, des zu Dortmund das westliche Hannover, den größten Teil von Westfalen und von der rechtsrheinischen Seite des Regierungsbezirks Düsseldorf das Gebiet nördlich von der Düsseldorf-Schwelmer Landstraße, endlich der des Oberbergamtes zu Bonn den größten Teil der Rheinprovinz, den Regierungsbezirk Wiesbaden, Hohenzollern, von Westfalen das ehemalige Herzogtum Westfalen und die Kreise Siegen und Wittgenstein und das Fürstentum Waldeck. Die gesamte Bergwerksproduktion ergab 1904 auf 1201 Werken mit 569,583 Arbeitern eine Förderung an absatzfähigen Jahreserzeugnissen von 144,127,302 Ton. im Werte von 1086,7 Mill. Mk. Das wichtigste Mineral ist die Steinkohle, die in fünf größern Becken in Oberschlesien bei Königshütte, in Niederschlesien bei Waldenburg, in Westfalen und der Rheinprovinz an der Ruhr und in der Rheinprovinz an der Saar und am nördlichen Fuße des Hohen Venn bei Eschweiler, in kleinern Becken außerdem in Sachsen an der Saale bei Wettin, in Westfalen bei Ibbenbüren, in Hannover bei Osnabrück, ferner in der Wealdenformation der Gebirge zwischen Leine und Weser sowie über diese hinaus in den Provinzen Hannover, Hessen-Nassau (Rinteln) und Westfalen gefördert wird. 1864 betrug die Ausbeute 16,5 Mill., 1904: 105 Mill. Ton. zum Werte von 882,2 Mill. Mk. Die Braunkohle ist noch verbreiteter; vorzüglich mächtig aber sind die Lager derselben in der Provinz Sachsen von Zeitz bis Aschersleben[304] zu beiden Seiten der Saale, an der Mulde, an der untern Bode etc., in Brandenburg in den Hügelplatten zu beiden Seiten der Oder, in den Rauenschen Bergen etc. Gefördert wurden 1904: 31,9 Mill. Ton. im Werte von 74 Mill. Mk. Asphalt (26,348 T.) und Erdöl (67,604 T.) liefert Hannover. Der Bernstein hat seine eigentliche Heimat in den Provinzen Ost- und Westpreußen und wird teils gegraben, teils von der Ostsee aus Land gespült. Eisenerze finden sich in allen Provinzen, als Raseneisenstein in den Sumpfgegenden des Tieflandes. Reichhaltige Eisenerzlager liegen zwischen der Wied und den nördlichen Nebenflüssen der Sieg im Kreise Siegen in der Rheinprovinz und in Westfalen, an der Lahn in Hessen-Nassau, in Oberschlesien etc., im Ruhrkohlengebiet, in Hannover und auf dem Thüringer Wald. 1864 wurden 1,4 Mill., 1904: 3,7 Mill. T. Eisenerze im Werte von 29,1 Mill. Mk. gefördert. Zinkerze (1904: 710,599 T. im Werte von 39,2 Mill. Mk.) werden vorzüglich in Oberschlesien bei Beuthen gewonnen, dann auch in den Regierungsbezirken Köln, Trier, Aachen, Düsseldorf und Koblenz; Bleierze (1904: 148,061 T. im Werte von 14,1 Mill. Mk.) besonders in den Regierungsbezirken Aachen (Bleiberg), Köln, Oppeln und auf dem Oberharz; Kupfererze (1904: 782,049 T. im Werte von 21,5 Mill. Mk.) in der Zechsteinformation auf der Südostseite des Harzes im Mansfeldlichen und in derselben Formation in Westfalen und an der Diemel. Von geringerer Bedeutung sind die Gold- und Silbererze (1904: 8 T.) auf dem Oberharz; die Kobalterze in den Regierungsbezirken Kassel und Arnsberg, die Nickelerze (13,518 T.) meist in Schlesien, die Antimon- und Quecksilbererze im Regbez. Arnsberg, die Manganerze (1904: 51,832 T. im Werte von 535,721 Mk.) nur in den Regierungsbezirken Wiesbaden und Koblenz, der Schwefelkies (1904: 163,209 T. im Werte von 1,221,204 Mk.) meist im Regbez. Arnsberg und sonstige Vitriol- und Alaunerze (1904: 106 T.) im Unterharz. An Salz ist P. außerordentlich reich, denn in neuester Zeit sind nach der Auffindung der Steinsalzlager bei Staßfurt, Aschersleben, Erfurt und Stetten (Hohenzollern) noch andre von großer Mächtigkeit im Tiefland zu Sperenberg in Brandenburg, Segeberg in Schleswig-Holstein und Hohensalza und Wapno in Posen erbohrt worden. In den Steinsalzbergwerken wurden 1904: 1,552,874 Ton. Mineralsalze im Werte von 19,6 Mill. Mk. gefördert, und zwar 263,602 T. Steinsalze, 1,082,694 T. Kainit, 206,186 T. andre Kalisalze, 289 T. Bittersalze und 103 T. Boracit. Der Salinenbetrieb ergab 328,933 T. Kochsalz im Werte von 6,8 Mill. Mk., vorzüglich in Sachsen, Hannover, Westfalen und der Rheinprovinz. Außerdem wurden 183,694 T. Chlorkalium, 13,161 T. Chlormagnesium, 110,184 T. schwefelsaure Alkalien (darunter 61,097 T. Glaubersalz), 22,204 T. schwefelsaure Magnesia, 14,524 T. schwefelsaure Erden (darunter 13,216 T. schwefelsaure Tonerde, 1328 T. Alaun) gefördert. Vgl. die Karte »Nutzbare Mineralien in Deutschland« (Bd. 4, S. 764).
Edel- und Halbedelsteine finden sich nur zufällig, ohne bergmännische Förderung, namentlich im Schlesischen Gebirge (Chrysopras, Topas, Onyx, Karneole, Granate, Achate und Jaspis) und im Kreise St. Wendel der Rheinprovinz (Achate). Serpentin kommt in Schlesien im Kreise Frankenstein und am Zobten vor, Alabaster auf dem Thüringer Wald, Gips am Harz, Thüringer Wald, in Schlesien, an einigen Punkten des Norddeutschen Tieflandes, Marmor in Schlesien (Prieborn), in Westfalen (im Kreis Olpe) und in der Rheinprovinz. Kalkstein sehr häufig in den Gebirgen, ferner bei Oppeln und Gogolin in Oberschlesien, Rüdersdorf in Brandenburg, an der Dievenow in Pommern und bei Lüneburg in Hannover, Flußspat auf dem Unterharz. im Riesengebirge, in Sachsen (Sangerhausen), Schwerspat in Hessen-Nassau, in Westfalen, im Harz, Phosphorit im Regbez. Wiesbaden, Magnesit bei Frankenstein in Schlesien, Dachschiefer besonders im Schiefergebirge der Rheinprovinz und Westfalens, Sandstein als Baustein im Solling und Wesergebirge; Strontianit in Westfalen (in den Kreisen Beckum und Lüdinghausen); Mühlsteine werden aus der Lava zu Niedermendig im Regbez. Koblenz gefertigt. Von nutzbaren Erden sind zu erwähnen: Porzellanerde bei Halle in Sachsen, Walkerde in den Regierungsbezirken Wiesbaden und Koblenz, Ton in großen Lagern in allen Teilen des Staates, ebenso Lehm und Mergel, Ocker im Harz und im Kreis Mayen (Regbez. Koblenz), Kreide auf der Insel Rügen.
Hüttenwesen. Die Verhüttung der Erze ergab 1904 an Roheisen in 72 Werten mit 206 Hochöfen und 25,443 Arbeitern 6,573,507 T. im Werte von 363,7 Mill. Mk., vornehmlich in der Rheinprovinz, Westfalen, Schlesien und Hannover; Zink in Blöcken auf 26 Werken mit 11,406 Arbeitern 192,903 T. im Werte von 84,6 Mill. Mk., in den Regierungsbezirken Oppeln, Arnsberg u. Aachen; Blei in 24 Werken mit 2604 Arbeitern 130,811 T. im Werte von 31 Mill. Mk., vornehmlich in der Rheinprovinz, dann auch in Schlesien und Hannover; Kupfer in 17 We. ken mit 4359 Arbeitern 28,052 T. im Werte von 33,2 Mill. Mk., größtenteils im Regbez. Merseburg; Silber (Reinmetall) in 17 Werken mit 435 Arbeitern 252,020 kg im Werte von 19,6 Mill. Mk., größtenteils in Hannover. demnächst auch in der Rheinprovinz und in Sachsen; Gold (Reinmetall) 1082 kg im Werte von 3 Mill. Mk. in 9 Werken nur als Nebenprodukt, größtenteils in der Rheinprovinz; Nickel (reines Metall) in 3 Werken mit 357 Arbeitern 2333 T. im Werte von 6,9 Mill. Mk., in Westfalen; Zinn in 5 Werken 4998 T. im Werte von 11,7 Mill. Mk.; Antimon als Nebenprodukt 2774 T. im Werte von 1,3 Mill. Mk.; Arsenikalien 1573 T. im Werte von 408,902 Mk., vornehmlich in Schlesien; Schwefelsäure 688,783 T. im Werte von 22,5 Mill. Mk.; Vitriol 23,086 T. im Werte von 2,1 Mill. Mk. Das 1904 erzeugte Roheisen zerfiel in 1,214,183 T. Gießereiroheisen, 52,341 T. Gußwaren erster Schmelzung, 429,577 T. Bessemerroheisen, 3,673,553 T. Thomasroheisen, 507,612 T. Stahl- und Spiegeleisen, 683,105 T. Puddelroheisen und 13,136 T. Bruch- und Wascheisen. 1902/03 bestanden für Bergbau und Hüttenindustrie 202 Aktiengesellschaften mit 1218,9 Mill. Mk. Kapital, 196,7 Mill Mk. Reservefonds und 327,9 Mill. Mk. Schulden.
Was die Metallverarbeitung betrifft, so sind für Gold- und Silberwaren und Juwelierarbeiten Berlin und Hanau Mittelpunkte; in letzterer Stadt findet auch eine Platinverarbeitung statt. Die Kupfer-, Messing- und Bronzewarenfabrikation wird vorzugsweise in Westfalen (Iserlohn) und Brandenburg, Statuenguß in Bronze zu Berlin, Hannover und Lauchhammer betrieben. Galvanoplastische Anstalten sind in Berlin, Köln, Frankfurt a. M., Hannover; die Zinkgießerei hat sich hervorragend in Berlin entwickelt; vorzügliche Arbeiten in Britanniametall liefern Elberfeld und Berlin, Zinnspielwaren Hannover[305] etc. Die Verfertigung von kleinen Eisen- und Stahlwaren, Schneidwaren, Werkzeugen, Fabrikschlössern etc. hat ihren Mittelpunkt in den westfälischen Kreisen Altena, Hagen (Enneper Straße) und Iserlohn sowie in der Rheinprovinz (Remscheid und die Kreise Lennep und Solingen); nicht unbedeutend ist dieser Fabrikzweig auch in den Kreisen Schmalkalden und Schleusingen auf dem Thüringer Wald. Eiserne Schiffsketten liefern neben Werken in Rheinland-Westfalen besonders einige Seeplätze, Näh- und andre Nadeln Aachen, Burtscheid und Iserlohn, Feuergewehre für den Handel Suhl, Drahtfabrikate Altena in Westfalen, feuer- und diebessichere Schränke fast alle größern Städte, namentlich Berlin und Hannover.
Der Maschinenbau entwickelte sich in Rheinland-Westfalen im Anschluß an vorhandene Industriezweige, in Berlin selbständig aus der Eisengießerei heraus; 1895 zählte man 3925 Betriebe mit 147,672 Personen. Der Bau von Lokomotiven ward zuerst in Berlin (Borsig) in großem Umfang betrieben; gegenwärtig sind größere Lokomotivfabriken auch in Königsberg, Elbing, Stettin, Magdeburg, Hannover, Kassel. In den meisten dieser Orte sowie in Görlitz, Breslau, Greifswald, Düsseldorf, Hagen, Köln, Frankfurt a. M. sind Anstalten zum Bau von Eisenbahnwagen, bez. Teilen derselben vorhanden. Die Fabrikation von Nähmaschinen ist in Berlin von höchster Bedeutung, sie kommt aber auch an andern Orten vor; Hamm in Westfalen stellt Dampfhämmer her, Grevenbroich in der Rheinprovinz Prägmaschinen, Aachen und Berlin Feuerspritzen, Berlin, Magdeburg, Hannover Federmanometer, Berlin Gaszähler, Wassermesser, Elektrizitätsmesser, Köln, Magdeburg und Berlin Gasmotoren. Der Bau von Luxuswagen hält die Konkurrenz mit Frankreich vollständig aus. Für den Schiffbau sind Kiel, Flensburg, Altona, Stettin, Danzig, Elbing, Königsberg, Memel etc. wichtige Plätze. Wissenschaftliche Instrumente werden in Berlin, Kassel, Aachen, Bonn, Wetzlar, Bielefeld, Frankfurt a. M., Göttingen, Halle, Rathenow, Muskau, Breslau, Brieg angefertigt; von größter Wichtigkeit ist das Telegraphenbaugeschäft von Siemens u. Halske in Berlin. Elektrotechnische Fabriken von Weltruf bestehen in Berlin, Breslau, Hannover, Kassel, Frankfurt a. M., Köln, Aachen u. a. Für Uhren besteht eine größere Fabrik in Freiburg i. Schl. Für die Fabrikation von musikalischen Instrumenten (Flügeln, Pianinos) ist Berlin der wichtigste Platz im Staat; außerdem kommen noch namentlich Zeitz, Breslau, Kassel in Betracht. Auch Blasinstrumente werden mehrfach produziert, dagegen werden die Streichinstrumente größtenteils von außerhalb eingeführt.
Die Fabrikation von gebrannten Steinen, Bauornamenten und Drainröhren dehnt sich immer weiter aus. Zahlreiche Ziegeleien sind namentlich in Brandenburg sowie im rheinisch-westfälischen Industriebezirk, woselbst auch die Ringöfen die weiteste Verbreitung gefunden haben; große Kalkbrennereien zu Rüdersdorf bei Berlin, Gogolin in Oberschlesien, Lüneburg etc.; Gipsmühlen und Zementfabriken in den verschiedensten Teilen, Portlandzementfabriken bei Stettin, in Schlesien etc. Bekannt sind: die Fliesen und Mosaikarbeiten von Mettlach an der Saar, die Tonpfeifen und Krüge des Westerwaldes (Koblenzer Waren), die Tonpfeifen von Uslar in Hannover, die Tiegel von Großalmerode bei Kassel, die weißen Kacheln von Velten im Havelland, die Töpferwaren von Bunzlau. Die Porzellanfabrikation ist am bedeutendsten in Schlesien, dann folgen die Rheinprovinz und Brandenburg; die königliche Porzellanfabrik in Berlin steht mit ihren vorzüglichen Leistungen als Versuchs- und Musteranstalt allen voran. Die Glasindustrie blüht besonders in der Rheinprovinz, Schlesien, Westfalen und Brandenburg.
Für die Kaliindustrie ist Staßfurt (nebst Aschersleben und dem angrenzenden Leopoldshall in Anhalt) ein Ort von höchster Wichtigkeit. Die Darstellung von Farben aus einheimischen Pflanzen ist gering, bedeutender die aus fremden, eingeführten Farbhölzern. Unter den metallischen Farben nimmt an Größe der Produktion die Blei weiß- und Zinkweißdarstellung einen hervorragenden Platz ein. Von hoher Bedeutung ist die Fabrikation von Ultramarin, Anilin und Alizarin in größern Anstalten in der Rheinprovinz, Brandenburg und Hessen-Nassau. Mineralöle und Paraffin werden besonders in den Braunkohlengebieten der Kreise Weißenfels und Aschersleben in der Provinz Sachsen gewonnen; Rüböl wird überall erzeugt, obgleich die Produktion desselben seit dem Aufkommen des Petroleums erheblich abgenommen hat. Zündwaren liefern die Provinzen Schlesien, Sachsen und Hannover; für wohlriechendes Wasser sind Köln, Frankfurt a. M., Berlin die Hauptproduktionsplätze.
Die Papierfabrikation ist am bedeutendsten in den Regierungsbezirken Aachen (in den Kreisen Düren und Jülich), Arnsberg (zu beiden Seiten der untern Lenne) und Liegnitz. In den übrigen Teilen des Staates sind die Papierfabriken weniger zahlreich, nicht selten aber von ansehnlicher Größe; die meisten der ehemaligen kleinen Papiermühlen sind eingegangen, dagegen hat sich die Fabrikation von Holzstoff als Surrogat zur Papierfabrikation an sehnlich entwickelt. Papiertapeten werden in Berlin und der Rheinprovinz, Dachpappen in den Regierungsbezirken Potsdam und Liegnitz, Spielkarten in Stralsund, Papierwäsche in Berlin, Geschäftsbücher in Berlin, Frankfurt a. M., Hannover, Briefumschläge in Elberfeld, geschmackvolle Buchbinderwaren in Berlin, Striegau, Frankfurt a. M. etc. angefertigt. Die polygraphischen Gewerbe (Buchdruck, Buchhandel, Kartographie, Photographie) sind mehr oder weniger in den größern Städten vertreten und haben für den preußischen Staat in Berlin ihren Hauptsitz; für die Kartographie bestehen außerdem größere Anstalten zu Glogau i. Schl. und Frankfurt a. M. Die Fabrikation von Leder und Lederwaren ist am bedeutendsten in der Rheinprovinz (Malmedy), Westfalen (Siegen) und Hessen-Nassau (Eschwege), die Schuhmacherei in Berlin und einigen Städten der Provinzen Sachsen und Brandenburg (Kalau), die Anfertigung von Sattler-, Riemer- und Täschnerwaren in Berlin, Breslau, Aachen, Düsseldorf etc., von Ledergalanteriewaren in Berlin, Hanau etc. Für die Fabrikation von Gummi- und Guttaperchawaren bestehen große Anstalten in Berlin. Harburg und Hannover. Große Dampfsägewerke findet man in den Gegenden, wo der Holzhandel eine Konzentration gewonnen hat, so bei Memel, am Finowkanal etc. Tischlerwaren und Möbel liefern in größerm Umfang die großen Städte, namentlich Berlin. Schnitzwaren aus Holz werden im Riesengebirge, Drechslerwaren in Berlin etc. und (aus Bernstein) in Danzig gefertigt.
Die Textilindustrie hat neuerdings einen außerordentlichen Aufschwung genommen. Die Schafwollindustrie ist am bedeutendsten in der Rheinprovinz,[306] woselbst die Tuch- und Buckskinfabrikation auf der linken Rheinseite in den Städten Aachen, Eupen, Düren etc., auf der rechten in Lennep, Werden etc. in Flor steht. Dieselbe Fabrikation findet sich in den Provinzen Brandenburg und Schlesien, dort mehr im S. (Luckenwalde, Guben, Forst, Kottbus etc.), hier mehr im W. (Görlitz, Sagan, Grünberg), sodann noch in Sachsen (Burg) und Schleswig-Holstein (Neumünster). Glatte Woll- und Strumpfwaren werden in P. weniger erzeugt als in andern deutschen Staaten; dagegen werden Teppiche in Berlin, Schmiedeberg i. Schl. (geknüpfte Teppiche) etc. produziert. Die Baumwollindustrie, in P. nicht minder wichtig als in Sachsen und Elsaß-Lothringen, weist große Spinnereien, oft mit Webereien verbunden, in den Regierungsbezirken Düsseldorf und Köln der Rheinprovinz, in Schlesien, Hannover, Sachsen, Westfalen und Hohenzollern auf. Die Fabrikation von Baumwollwaren beschäftigt große Anstalten in den Städten Barmen, Elberfeld, München-Gladbach, Rheydt und Neuß im Regbez. Düsseldorf; außerdem ist sie sehr verbreitet in den Kreisen Reichenbach, Glatz, Waldenburg, Schweidnitz, Landeshut und Lauban in Schlesien, Nordhausen, Mühlhausen, Worbis und Heiligenstadt in Sachsen, Steinfurt, Borken, Koesfeld und Ahaus in Westfalen. Die Flachsspinnerei und Leinwandfabrikation haben ihre Mittelpunkte in den schlesischen Gebirgskreisen Lauban, Hirschberg, Bolkenhain, Landeshut und Waldenburg sowie in den westfälischen Kreisen Bielefeld, Herford und Warendorf; sodann ist dieser Industriezweig nicht unerheblich in Teilen von Hannover (bei Osnabrück und Hildesheim, wenn auch hier meist Hausindustrie und im Rückgang begriffen), in den Kreisen Worbis, Sorau etc. In den Provinzen Ost- und Westpreußen, Pommern, Posen und Brandenburg wird von der Landbevölkerung Leinwand als Nebenbeschäftigung erzeugt. Die Herstellung von fertiger Wäsche ist in Bielefeld und in Berlin in steigender Entwickelung begriffen. Die Erzeugung von Jutefabrikaten erfreut sich ebenfalls eines großen Ansichwunges und findet sich in Berlin (Stralau), Schlesien und am Rhein. Die Fabrikation von Seiden- und halbseidenen Waren hat ihren Hauptsitz in der Rheinprovinz, woselbst Krefeld der Mittelpunkt dieser Industrie ist, außerdem aber noch die Städte Elberfeld, Barmen, Rheydt, Viersen (Samt) u. a. in dieser Hinsicht hervortreten. Nennenswert für diese Industrie sind ferner noch die Städte Bielefeld und Brandenburg. Hilfsanstalten für die Garn- und Zeugindustrie sind: die Färberei, entwickelt in größter Vollkommenheit in den Webdistrikten (Seidenfärberei in Krefeld, Türkischrotfärberei in Elberfeld und Barmen, Wollgarnfärberei in Berlin); die Zeugdruckerei (Kattundruckerei in Berlin); die Bleicherei im Anschluß an die Leinwandfabrikation; die Appreturanstalten und Walkmühlen im Anschluß an die Tuchfabrikation.
Überall heimisch ist die Fabrikation in Nahrungsstoffen und Getränken. Getreidemühlen findet man überall, Windmühlen vorherrschend in den ebenen Teilen des Norddeutschen Flachlandes; die größern Wassermühlen, oft nach amerikanischem Muster eingerichtet, und die Dampfmühlen produzieren weit über den Bedarf der nächsten Umgegend hinaus. Die Zahl der Rübenzuckerfabriken belief sich 1904'05 auf 283, von denen die meisten auf die Provinzen Sachsen (106), Schlesien (53), Hannover (42), Posen (20) und Westpreußen (17) kamen, ihre Produktion auf 10,610,167 dz Rohzucker. Es gibt ferner 29 Zuckerraffinerien in der Provinz Sachsen, der Rheinprovinz, Schlesien etc. (Produktion 6,589,347 dz Verbrauchszucker), ferner 22 Stärkefabriken (die meisten in Brandenburg und Posen), Schokoladen-, Zichorien- und Senffabriken ganz besonders im Regbez. Magdeburg, Butter- und Käsefabriken in den Gebieten der Fettweiden am Unterrhein, in den Marschen der Nordsee etc. 1904/05 waren 4517 Bierbrauereien, die 31,951,506 hl Bier (zumeist untergäriges) erzeugten, und 6758 Spiritusbrennereien, die 3,140,904 hl reinen Alkohol herstellten und 107 Mill. Mk. Branntweinsteuer zahlten, im Betrieb. Schaumweinfabriken sind in der Umgegend von Koblenz, im Rheingau, in Frankfurt a. M., Naumburg (Provinz Sachsen), Grünberg etc.; 1905 bestanden 95 Fabriken, die Traubenwein, und 59, die Fruchtwein verarbeiteten, erstere stellten 5,8 Mill., letztere 0,24 Mill. Flaschen fertig; die Schaumweinsteuer lieferte einen Ertrag von 2,318,599 Mk. (für das Deutsche Reich). Die Industrie in Tabak und Zigarren ist in einigen Gegenden von großer Bedeutung, so in Berlin und Schwedt in der Provinz Brandenburg, in den Regierungsbezirken Minden (Vlotho, Bünde), Düsseldorf (Duisburg), Magdeburg (Magdeburg, Halberstadt), Merseburg, Breslau, Koblenz, Erfurt, Aachen, sodann in den Provinzen Hannover (Osnabrück, Hannover, Umgegend von Bremen) und Hessen-Nassau (Frankfurt a. M., Hanau, Kassel).
Bei der Berufszählung vom 14. Juni 1895 wurden ermittelt: 1,172,145 Gewerbebetriebe mit insgesamt 4,572,125 beschäftigten Personen, darunter 761,448 weibliche und 264,677 Personen unter 16 Jahren; dieselben verteilten sich auf die einzelnen Gruppen wie folgt:
Die Zahl der in den einzelnen Industriezweigen tätigen Aktiengesellschaften betrug 1902/03: 1636 mit einem Kapital von 3400,6 Mill. Mk.
Die Zahl der Dampfkessel und Dampfmaschinen in P. hat sich neuerdings außerordentlich vermehrt; es stieg von Anfang 1879 bis 1905 die Zahl der feststehenden Dampfkessel von 32,411 auf 74,807, diejenige der feststehenden Dampfmaschinen von 29,895 auf 81,756, die der beweglichen Dampfkessel (ohne Lokomotiven) und Lokomobilen von 5536 auf 24,539, die der Schiffsdampfkessel von 702 auf 2893 und die der Schiffsdampfmaschinen von 623 auf 2696. Die Pferdestärken aller Dampfmaschinen und Lokomobilen betrugen zusammen 5,437,123. Die Kessel und Maschinen der Armeeverwaltung und Kriegsmarine sind hierin nicht mit enthalten.
Der Handel Preußens ist ein wesentlicher Bestandteil von dem des Deutschen Reiches und daher nicht von diesem zu scheiden. Er wird gefördert durch die 410 km lange Nordsee-, die 1244 km lange Ostseeküste, die schiffbaren Flüsse und Kanäle und das ansehnliche Netz der Eisenbahnen und Kunststraßen. In[307] ca. 2670 Orten finden Jahrmärkte und Messen statt. Unter denen für eine bestimmte Gattung von Waren sind vor allen die Wollmärkte hervorzuheben, von denen die bedeutendsten die zu Berlin, Breslau, Königsberg i. Pr., Posen, Stettin, Landsberg a. d. Warthe, Stralsund, Hildesheim, Paderborn, Kassel und Hannover sind. Außerdem sind zu erwähnen die Flachs- und Leinwandmärkte in einigen Orten Schlesiens. Messen, die mehr dem auswärtigen Handel dienen, werden in Frankfurt a. O., Frankfurt a. M. und neuerdings auch in Berlin abgehalten; ihre Bedeutung nimmt jedoch ab. Die wichtigern Plätze für den auswärtigen Handel sind außer den drei genannten Metzstädten: Breslau, Posen, Königsberg, Danzig, Stettin, Magdeburg, Altona, Hannover, Köln, Barmen, Elberfeld und Krefeld. Über die Handelskammern in P. s. Handelskammern, S. 729. Im Interesse des Handels sind am Sitz der Landgerichte selbst oder auch außerhalb derselben Kammern für Handelssachen gebildet worden (an 28 Orten 38 Kammern), außerdem seit 1904 Kaufmannsgerichte (zurzeit 144, von denen 115 an bereits bestehende Gewerbegerichte angeschlossen sind).
Der Schiffahrtsverkehr der preußischen Seehäfen von 1904 ergibt sich aus folgenden Zahlen. Es waren angekommen 78,286 Schiffe mit einer Tragfähigkeit von 9,693,251 Reg.-Ton. In Ladung waren 69,282 Schiffe oder 88,48 Proz., in Ballast die übrigen angelangt. Abgegangen sind 76,472 Schiffe mit einer Tragfähigkeit von 9,408,862 Reg.-Ton. Unter allen abgegangenen Schiffen befanden sich 56,358 oder 73,67 Proz. beladene. Von den 1903 angekommenen handelstätigen Seeschiffen waren 46,115 Dampfer (61 Proz.) mit 7,964,160 Ton. Raumgehalt (84,8 Proz.), von den abgegangenen waren 45,812 Dampfer (61,9 Proz.) mit 7,612,257 T. Raumgehalt (85,9 Proz.). Während die Zahl aller preußischen Segelschiffe von 3133 mit 464,477 Reg.-Ton. im J. 1877 auf 1523 mit 65,167 Reg.-Ton. (netto) im J. 1904 sank, stieg die Zahl der Dampfschiffe von 138 mit 31,573 Reg.-Ton. auf 557 mit 212,338 Reg.-Ton. P. hat 209 schiffbare Flüsse und Kanäle (s. oben) mit einer Länge von über 10,000 km.
Unter den Verkehrsmitteln zu Lande nehmen die Eisenbahnen die erste Stelle ein. Die Länge sämtlicher preußischer Eisenbahnen belief sich im Betriebsjahr 1903 auf 31,813,6 km; davon 18,631,1 km Hauptbahnen und 13,182,5 km Nebenbahnen. Das Staatsbahnnetz hatte eine Ausdehnung von 29,804,4 km, die Privatbahnen von 2009,2 km. Der Personenverkehr belief sich auf 672,9 Mill. Personen (16,307 Mill. Personenkilometer), der Güterverkehr auf 269,2 Mill. Ton. (29,510 Mill. Tonnenkilometer). Der erste auf Lokomotivbetrieb eingerichtete Schienenweg wurde in einer Länge von 34,7 km im J. 1838 eröffnet. Näheres über die Organisation etc. der preußischen Eisenbahnverwaltungen s. Artikel »Eisenbahnbehörden«, S. 513, und besonders Tabelle bei S. 514. An Kleinbahnen waren 1904: 381 von 9974,7 km Länge vorhanden, darunter 149 Straßenbahnen (2343 km), die meisten in der Rheinprovinz. Die Länge sämtlicher Chausseen belief sich im April 1900 auf 95,945 km, davon waren 32,731 km Provinzial-, 46,198 km Kreis-, 14,721 km Gemeinde- und 2295 km Aktien- und sonstige Privatchausseen. Post, Telegraphie und Fernsprechwesen sind Angelegenheiten des Deutschen Reiches (s. Deutschland, S. 786).
An der Spitze des gesamten Geld- und Kreditwesens in P. steht die Reichsbank (s. Banken, S. 341), die 1904 in den wichtigern Orten des Landes 61 Reichsbankstellen mit einem Geschäftsumsatz von 162,497 Mill. Mk. besaß; sie hat jetzt in P. allein das Recht der Banknotenausgabe. Die Zahl der Aktiengesellschaften im Handelsgewerbe betrug 1902/03: 391 mit einem Kapital von 2255,3 Mill. Mk., davon waren 240 Effektenbanken (1811,4 Mill. Kapital), 14 Hypothekenbanken (214,8 Mill.), 105 Immobiliengesellschaften einschließlich Baubanken (204,5 Mill. Mk.). Außerdem gab es noch 1904: 505 Genossenschaften mit beschränkter Haftung für Geld- und Kredithandel (174,5 Mill. Mk. Stammkapital). Unter den Effektenbanken sind von größter Wichtigkeit: der Berliner Kassenverein, die Deutsche Bank, die Diskontogesellschaft, die Berliner Handelsgesellschaft, die Bank für Handel und Industrie in Darmstadt und Berlin, die Deutsche Effekten- und Wechselbank in Frankfurt a. M., der Schlesische Bankverein in Breslau, die Mitteldeutsche Kreditbank in Frankfurt a. M., die Nationalbank für Deutschland, der A. Schaaffhausensche Bankverein in Köln u. a.; auch sind hierher die Königliche Seehandlung und die Preußische Zentralgenossenschaftskasse zu rechnen. Dem Grundkredit dienen die Grundkreditinstitute der öffentlich-rechtlichen juristischen Personen und die landschaftlichen Kreditinstitute. Zu erstern gehören die sieben Rentenbanken zur Beförderung der Ablösungen der Reallasten, Landeskulturrentenbanken für die Provinzen Posen, Schlesien und Schleswig-Holstein, die Provinzialhilfskassen, die Meliorationsfonds und die landschaftlichen, bez. kommunalständlichen Darlehnskassen; zu den landschaftlichen Kreditinstituten gehören die Hannoversche Landeskreditanstalt, die Landeskreditkasse in Kassel, die Nassauische Landesbank in Wiesbaden, das Königliche Kreditinstitut für Schlesien in Breslau und 19 Gegenseitigkeits-Grundkreditinstitute. Die Maß- und Gewichtsordnung vom 16. Mai 1816 schaffte die besondern Provinzialmaße außer denen der Gespinste ab und setzte als Grundmaß den rheinländischen Werkfuß von 139,13 Pariser Linien = 31,385(35) cm; der Morgen enthielt 180 QRuten = 25,532(25) Ar, der Berliner Scheffel 16 Metzen von 1/9 Kubikfuß = 54,951(478) Lit., der Eimer 60 Quart von 1/3 Getreidemetze = 68,702 L. In Beziehung zu den Maßen wurde das Pfund von 2 Kölnischen Münzmark = 467,711 g gesetzt, 66 Pfund gleich dem Gewicht eines Kubikfußes destillierten Wassers im luftleeren Raum bei 15° R.; 1 Zentner = 110 Pfund zu je 32 Lot. Aber das Zollpfund von 30 Lot = 500 g wurde zu Anfang 1851 auch Post- und durch Gesetz vom 17. Mai 1856 allgemeines Landesgewicht. Laut Münz gesetz vom 30. Sept. 1821 sollten 14 Taler zu 30 Silbergroschen aus der Mark seinen Silbers und 35 Friedrichsdor aus 260 Grän Gold geprägt werden. Jetzt sind alle Maße, Gewichte und Münzen amtlich die des Deutschen Reiches (s. Deutschland, S. 786 f.).
Das Versicherungswesen hat in P. einen großen Umfang erreicht. 1902/03 waren 77 Aktiengesellschaften (mit 79,1 Mill. Mk. Kapital und 55,6 Mill. Mk. Reservefonds) und 3 Gesellschaften mit beschränkter Haftung der Versicherung gewidmet. Die 31 öffentlichen Feuerversicherungsanstalten wiesen eine Versicherungssumme von im ganzen 30,987 Mill. Mk. auf. Die Ausgabe für Brandschäden betrug 35,9 Mill. Mk. Die Zahl der Sparkassen belief sich 1903 auf 1549, die der Sparkassenbücher auf 9,773,103; die Einzahlungen mit gutgeschriebenen Zinsen betrugen 2092,38 Mill. Mk., die Rückzahlungen 1591,72[308] Mill. Mk. Die Zahl der auf Grund des Reichsgesetzes vom 15. Juni 1883 in P. bestehenden Krankenkassen belief sich 1903 im Durchschnitt auf 10,449 mit 5,559,718 Mitgliedern, davon waren 1853 Gemeinde-, 3129 Orts-, 4387 Betriebs-, 33 Bau-, 416 Innungskassen, ferner 711 eingeschriebene und 39 landesrechtliche Hilfskassen.
P. ist eine konstitutionelle Monarchie. Die Verfassungsurkunde vom 31. Jan. 1850 hat durch spätere Gesetze sowie durch die deutsche Reichsverfassung vom 16. April 1871 Änderungen erfahren. König ist gegenwärtig Wilhelm II. (deutscher Kaiser), geb. 27. Jan. 1859 und regiert seit 15. Juni 1888. Die Krone ist (mit der deutschen Kaiserwürde) erblich im Mannesstamm des königlichen Hauses Hohenzollern nach dem Rechte der Erstgeburt und der agnatischen Linealfolge. Der König wird mit Vollendung des 18. Lebensjahres volljährig. Der erstgeborne Sohn des Kaisers und Königs heißt »Kronprinz des Deutschen Reiches und Kronprinz von P.«; er bekleidet zugleich die Würde des Statthalters von Pommern. Falls der Bruder des Königs oder ein andrer Prinz des Hauses vermutlicher Thronfolger ist, führt er den Titel »Prinz von P.« Ist der König minderjährig oder dauernd an der Regierung verhindert, so hat der der Krone zunächst stehende volljährige Agnat, in Ermangelung eines solchen das Staatsministerium den Landtag zur Beschlußfassung über die Regentschaft zu berufen. Nach dem Antritt der Regierung legt der König den Eid auf die Verfassung ab. Der König ist unverletzlich und unverantwortlich, er bedarf für alle Regierungsakte der Gegenzeichnung der Minister, die damit die Verantwortlichkeit übernehmen. Der König ist Inhaber der gesamten Staatsgewalt; die vollziehende Gewalt übt er allein aus. Bei der Gesetzgebung ist er an die Mitwirkung des Landtags gebunden; aber er allein erteilt die Sanktion und ordnet die Verkündigung (Promulgation) der Gesetze an. Er erläßt die Ausführungsverordnungen. Eine nähere Regelung der im Artikel 61 der Verfassungsurkunde behandelten Ministerverantwortlichkeit ist nicht erfolgt. Keiner Gegenzeichnung bedürfen die Akte des Königs als obersten Kriegsherrn (Armeebefehle) und als Trägers des landesherrlichen Kirchenregiments. Der König hat das Recht der Begnadigung und Strafmilderung, er kann Orden und andre Auszeichnungen verleihen. Er ernennt und entläßt die Minister. Er beruft und schließt den Landtag, er hat das Recht, denselben zu vertagen sowie das Abgeordnetenhaus aufzulösen. Der König genießt nebst den Mitgliedern des königlichen Hauses und des fürstlich hohenzollerischen Hauses besondern strafrechtlichen Schutz, Steuer- und Portofreiheit etc. Soweit die Erledigung der Regierungsgeschäfte nicht durch Vermittelung der Ministerien erfolgt, bedient sich der König des Geheimen Zivil- und des Militärkabinetts.
In Artikel 342 der Verfassungsurkunde sind eine Reihe sogen. Grundrechte der Staatsangehörigen ausgeführt, so Gleichheit vor dem Gesetz (Standesvorrechte stehen nur den Mitgliedern des königlichen und des fürstlich hohenzollerischen Hauses und dem ehemals reichsunmittelbaren Adel zu), Gewährleistung der persönlichen Freiheit, Unverletzlichkeit des Eigentums, der Wohnung, des Briefgeheimnisses, Unstatthaftigkeit der Ausnahmegerichte und des bürgerlichen Todes; Freiheit der Auswanderung, des Glaubens, (in den Grenzen des Strafgesetzbuches), das Recht zu friedlichen, unbewaffneten Versammlungen in geschlossenen Räumen und der Vereinigung in nicht straffälligen Gesellschaften. Ebenso haben die (nun auf Reichsrecht beruhende) allgemeine Wehrpflicht, Schulpflicht etc. verfassungsmäßige Anerkennung gefunden.
Der Landtag hat zwei Kammern. Nach dem Gesetz vom 30. Mai 1855 heißt die erste Herrenhaus, die zweite Haus der Abgeordneten. Beide sind gleichberechtigt, die Beratungen erfolgen gesondert und nur bei der Beschlußfassung über Einsetzung einer Regentschaft gemeinsam. Beide Häuser können schriftliche Petitionen entgegennehmen und den Ministern überweisen, von diesen Auskünfte über eingehende Beschwerden verlangen (Interpellationsrecht) und Adressen an den König richten. Die materiellen Rechte des Landtags sind hauptsächlich das Recht der Mitwirkung bei der Gesetzgebung, bei Feststellung des Budgets, die in Form des Gesetzes geschieht, bei Aufnahme von Anleihen; hierzu kommt das Recht der Kontrolle über den Budgetvollzug und über die Staatsschuldenverwaltung. Das Herrenhaus besteht nach dem Gesetz vom 7. Mai 1853 und spätern königlichen Erlassen zurzeit (1907) aus 314 Mitgliedern (ohne die königlichen Prinzen). Die Kategorien der Mitglieder und Stimmen sind folgende: I. Die Prinzen des königlichen Hauses, sobald dieselben nach erlangter Großjährigkeit vom König in das Herrenhaus berufen werden; II. Mitglieder mit erblicher Berechtigung (im ganzen 98): 1) Haupt des fürstlichen Hauses Hohenzollern, 2) Häupter der vormals reichsständischen Häuser in den königlich preußischen Landen, 3) Fürsten, Grafen und Herren, 4) durch besondere königliche Verordnung; III. auf Lebenszeit berufene Mitglieder (46): 1) die Inhaber der vier großen Landesämter in P., 2) aus besonderm allerhöchsten Vertrauen berufen; IV. infolge von Präsentation berufene Mitglieder (im ganzen 170). Das Haus der Abgeordneten geht aus Wahl hervor und zählt 433 Mitglieder. Die Wahlen erfolgen auf Grund der Verordnung vom 30. Mai 1849 und des Gesetzes vom 29. Juni 1893. Die Abgeordnetenwahl ist mittelbar und geschieht mittels Wahl der Wahlmänner (Urwahlen) und mittels Wahl der Abgeordneten durch die Wahlmänner. Auf je 250 Seelen wird ein Wahlmann gewählt. Die Urwähler zerfallen nach Maßgabe der von ihnen zu entrichtenden direkten Staats-, Gemeinde-, Kreis-, Bezirks- und Provinzialsteuern in drei Abteilungen. Die Wahl der Abgeordneten erfolgt nach dem Gesetz vom 27. Mai 1888 auf fünf Jahre (Wahl- oder Legislaturperiode). Zum Abgeordneten ist jeder Preuße wählbar, der das 30. Lebensjahr vollendet hat, im Vollbesitz der bürgerlichen Rechte und, wenn er durch Naturalisation Preuße wurde, bereits seit einem Jahr preußischer Staatsangehöriger ist. Urwähler ist jeder selbständige, wenigstens 24 Jahre alte Preuße in der Gemeinde, wo er seit 6 Monaten wohnt, sofern er nicht öffentliche Armenunterstützung erhält oder der bürgerlichen Ehrenrechte verlustig ist. Die Kammern werden durch den König, sooft es die Umstände erheischen, berufen, sollen aber in jedem Etatsjahr (1. April bis 31. März) wenigstens einmal, und zwar spätestens Mitte Januar, zur Beratung des Staatshaushaltsgesetzes zusammentreten. Erfolgt eine Auflösung des Abgeordnetenhauses, so müssen innerhalb eines Zeitraums von 90 Tagen nach derselben die neugewählten Kammern versammelt werden. Beide Häuser werden gleichzeitig berufen, eröffnet, vertagt und geschlossen. Die Vertagung[309] des Landtags darf aber ohne Zustimmung desselben nicht über 30 Tage dauern und sich nicht während ein und derselben Session wiederholen. Jedes Haus regelt seinen Geschäftsgang und seine Disziplin durch eine Geschäftsordnung und wählt seinen Präsidenten, seine Vizepräsidenten und Schriftführer für die Dauer der Sitzungsperiode. Niemand kann Mitglied beider Häuser zugleich sein. Die Sitzungen sind öffentlich. Das Herrenhaus ist bei Anwesenheit von 60, das Abgeordnetenhaus bei Anwesenheit der Mehrzahl seiner Mitglieder beschlußfähig. Die Mitglieder beider Häuser können für ihre im Haus ausgesprochenen Meinungen nur innerhalb des Hauses zur Rechenschaft gezogen werden. Kein Mitglied des Landtags kann ohne Genehmigung des betreffenden Hauses während der Sitzungsperiode zur Untersuchung gezogen oder verhaftet werden, außer wenn es bei Ausübung der Tat oder im Laufe des nächstfolgenden Tages ergriffen wird. Die Minister oder deren Stellvertreter haben Zutritt in beide Häuser und müssen jederzeit auf ihr Verlangen gehört werden. Die Beschlüsse werden in beiden Häusern nach absoluter Stimmenmehrheit gefaßt, die auch für Verfassungsänderungen genügt; nur müssen bei solchen zwei Abstimmungen stattfinden, zwischen denen ein Zeitraum von wenigstens 21 Tagen liegen muß. Zu jedem Gesetz ist die Übereinstimmung des Königs und der beiden Häuser des Landtags erforderlich. Vgl. Plate, Die Geschäftsordnung des preußischen Abgeordnetenhauses (2. Aufl., Berl. 1904).
Die Staatsbehörden gliedern sich in Zentral-, Provinzial- (darunter die Bezirks- und Kreis-) sowie Orts- (Lokal-) behörden. Die obersten Staatsbehörden sind: das Staatsministerium, die einzelnen Ministerien, die Oberrechnungskammer, das Oberverwaltungsgericht, der evangelische Oberkirchenrat. Das Staatsministerium besteht unter dem Vorsitz eines Präsidenten aus den Ministern der einzelnen Geschäftskreise (zurzeit neun) sowie sonst ernannten Staatsministern ohne Portefeuille (gewöhnlich den Staatssekretären der Reichsämter entnommen) und dient insbes. zur Wahrung der erforderlichen Einheit in der Staatsverwaltung. Unmittelbar unter dem Gesamtstaatsministerium stehen: das Zentraldirektorium der Vermessungen im preußischen Staate, der Disziplinarhof für nichtrichterliche Beamte, der Gerichtshof zur Entscheidung der Kompetenzkonflikte, die Prüfungskommission für höhere Verwaltungsbeamte, Ansiedelungskommission für Westpreußen und Posen (in Posen), der deutsche »Reichs- und königlich preußische Staatsanzeiger«, die Redaktion der Gesetzsammlung; unter der obern Leitung des Präsidenten des Staatsministeriums die Generalordenskommission, die 18 Staatsarchive und das Gesetzsammlungsamt. Die neun Ministerien sind: das Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten (vereinigt mit dem Auswärtigen Amt des Deutschen Reiches), das Finanzministerium (demselben unterstehen unmittelbar die Generallotteriedirektion, die Münzanstalten, die Seehandlung, die Direktion für die Verwaltung der direkten Steuern und die Provinzialsteuerdirektionen, die Hauptverwaltung der Staatsschulden, die Zentralgenossenschaftskasse etc.), das Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten (Kultusministerium, diesem unterstehen die Universitäten, die Akademie der Wissenschaften, eine Mehrzahl wissenschaftlicher Anstalten, die Kunstakademien, Museen, die Provinzialschulkollegien, die Medizinalkollegien) und das Ministerium für Handel und Gewerbe; unter ihm stehen das Staats-, Berg-, Hütten- und Salinenwesen einschließlich der Bergpolizei, die Eichungsbehörden, die Navigationsschulen, die gewerblichen und kunstgewerblichen Fachschulen, die Verwaltungen der Porzellanmanufaktur und des Instituts für Glasmalerei sowie das Fortbildungsschulwesen; das Ministerium des Innern (unter ihm die statistische Zentralkommission und das Statistische Landesamt, die Strafanstalten, das Polizeipräsidium und der Bezirksausschuß in Berlin), das Justizministerium, das Kriegsministerium, das Ministerium für Landwirtschaft, Domänen und Forsten (Geschäftskreis: das Landesökonomiekollegium, das Oberlandeskulturgericht, die landwirtschaftlichen Kreditanstalten, die technische Deputation für das Veterinärwesen, die Zentralmoorkommission, die Tierarzneischulen, die Forstakademie, die höhern landwirtschaftlichen Lehranstalten, die Haupt- und Landgestüte), das Ministerium der öffentlichen Arbeiten (mit drei Abteilungen: 1) Verwaltung der Staatseisenbahnen; 2) des Bauwesens; 3) Führung der Staatsaufsicht über die Privateisenbahnen. Ihm untersteht die Akademie des Bauwesens. Zum gemeinschaftlichen Geschäftskreise der Minister der öffentlichen Arbeiten, für Handel und Gewerbe, für Landwirtschaft gehören der Landeseisenbahnrat, und die Bezirkseisenbahnräte, ebenso der Volkswirtschaftsrat. Selbständige staatliche Oberbehörden sind noch: der evangelische Oberkirchenrat für die elf ältern Landesteile (s. S. 313: Kirchenverwaltung) und die Oberrechnungskammer in Potsdam, die unmittelbar dem König untersteht. Letztere übt die Kontrolle über den Staatshaushalt. Vom Staatsministerium getrennt besteht noch das Ministerium des königlichen Hauses, dem das Heroldsamt, das königliche Hausarchiv, die Hofkammer der königlichen Familiengüter und das königlichprinzliche Familienfideikommiß unterstellt sind.
Das Staatsgebiet ist in 12 Provinzen eingeteilt, die (mit dem in keinem Provinzialverbande stehenden Stadt kreise Berlin und Hohenzollern [Sigmaringen]) in 37 Regierungsbezirke zerfallen, die zusammen 578 Kreise (89 Stadt- und 489 Landkreise) umfassen. Die Vertretung der obersten Staatsbehörde und des Staatsinteresses im allgemeinen sowie die Geschäfte der allgemeinen Landesverwaltung ruhen in den Provinzen bei den Oberpräsidenten, in den Regierungsbezirken bei den Regierungspräsidenten (Regierungen), in den Kreisen bei den Landräten und in den Gemeinden bei den Bürgermeistern, bez. Ortsvorstehern. Der Oberpräsident der Provinz Brandenburg ist zugleich Oberpräsident von Berlin und führt auch an Stelle des Regierungspräsidenten die Staatsaufsicht über die städtische Verwaltung. Im übrigen tritt an die Stelle des Regierungspräsidenten der Polizeipräsident von Berlin. In den hohenzollerischen Landen tritt an die Stelle des Oberpräsidenten sowie des Provinzialrats in der Hauptsache der zuständige Minister. Behufs Mitwirkung an den Geschäften der allgemeinen Landesverwaltung ist in jeder Provinz ein Provinzialrat gebildet. Dieser besteht aus dem Oberpräsidenten (oder dessen Stellvertreter) als Vorsitzendem, aus einem höhern Verwaltungsbeamten, der vom Minister des Innern auf die Dauer seines Hauptamtes am Sitze des Oberpräsidenten ernannt wird, und aus 5 (vom Provinzialausschuß aus den zum Provinziallandtag wählbaren Provinzialangehörigen)[310] auf sechs Jahre gewählten Mitgliedern. Der Bezirksausschuß besteht aus dem Regierungspräsidenten (in Berlin besonderer Präsident) als Vorsitzendem und aus 6 Mitgliedern. Zwei dieser Mitglieder werden vom König auf Lebenszeit ernannt, während die vier andern Mitglieder (sowie deren Stellvertreter) aus den Einwohnern des Regierungsbezirks durch den Provinzialausschuß gewählt werden. Mitglieder des Provinzialrats dürfen nicht dem Bezirksausschuß angehören. An der Spitze der Verwaltung des Landkreises steht der Landrat. Derselbe führt den Vorsitz im Kreisausschuß, der außerdem 6 vom Kreistag aus den Kreisangehörigen gewählte Mitglieder zählt. Dessen Zuständigkeit und Zusammensetzung ist durch das Gesetz über die allgemeine Landesverwaltung vom 30. Juli 1883 und durch die Kreisordnungen geregelt. Der Stadtausschuß (in Stadtkreisen) besteht aus dem Bürgermeister oder dessen gesetzlichem Stellvertreter als Vorsitzendem und 4 Mitgliedern, die vom Magistrat aus seiner Mitte für die Dauer ihres Hauptamtes gewählt werden. In Stadtkreisen, wo der Bürgermeister allein den Gemeindevorstand bildet, werden die sonst zu bestellenden Mitglieder von der Gemeindevertretung aus der Zahl der Gemeindebürger auf sechs Jahre gewählt. Das Verfahren des Kreis- (Stadt-) Ausschusses und des Bezirksausschusses in Angelegenheiten der allgemeinen Landesverwaltung ist einerseits ein beschließendes, anderseits ein entscheidendes. Sie üben mit dem Oberverwaltungsgericht als oberster Instanz die Verwaltungsgerichtsbarkeit aus; dagegen ist der Provinzialrat kein Glied dieser Gerichtsbarkeit (s. oben). Beratende Organe der Staatsverwaltung sind zunächst der Staatsrat, der durch königliche Verordnung vom 20. März 1817 ins Leben gerufen und 1853 und 1883 reaktiviert wurde. Er besteht aus den volljährigen königlichen Prinzen, den Ministern, dem ersten Präsidenten der Oberrechnungskammer, dem geheimen Kabinettsrat, höhern Militärs und Beamten und aus besonderm königlichen Vertrauen berufenen Staatsdienern. Die formellen Geschäfte besorgt der Staatssekretär. Der Volkswirtschaftsrat wurde 17. Nov. 1880 eingerichtet, um Entwürfe von Gesetzen und Verordnungen wirtschaftlichen Inhalts zu begutachten (Sitzungsperiode fünf Jahre). Durch Gesetz vom 1. Juli 1882 wurde der Landeseisenbahnrat und die Bezirkseisenbahnräte als Beiräte der Eisenbahnverwaltung errichtet. Die Aufgabe, den Minister der landwirtschaftlichen Angelegenheiten in der Förderung der Land- und Forstwirtschaft zu unterstützen, hat das Landes-Ökonomiekollegium (16. Jan. 1848 errichtet). An Stelle der seit 1884 errichteten, später aber aufgehobenen Gewerbekammern sind durch Reichsgesetz vom 26. Juli 1897 Handwerkskammern (s. d.) geschaffen worden. Eine ältere Institution sind die Handelskammern und kaufmännischen Korporationen, die jedoch teilweise durch Gesetz vom 24. Febr. 1870 und Novelle vom 19. Aug. 1897 eine neue Organisation erhalten haben. Das Gesetz vom 30. Juni 1894 läßt die Bildung von Landwirtschaftskammern, in der Regel für das Gebiet einer Provinz, zu. Von sonstigen Behörden mit beratenden Befugnissen sind noch zu nennen: die Akademie der Wissenschaften und die des Bauwesens, die technische Deputation für Gewerbe und die statistische Zentralkommission.
Die Selbstverwaltung beruht auf der Grundlage des Immobiliarbesitzes sowie der Wahl seitens der Eingesessenen. Die Vertretungskörper (Gemeindeversammlungen [Gemeinderäte], Stadtverordnetenversammlungen, Kreistage, Provinziallandtage) beraten und beschließen über die Angelegenheiten ihres Verbandes, während als ausführende Organe teils enger begrenzte Vertretungen (Magistrate, Kreisausschüsse, Provinzialausschüsse), teils gewählte, nur in Kreisen (auf Präsentation) ernannte Einzelbeamte (Gemeindevorsteher, Bürgermeister, Landräte, Landesdirektoren) tätig sind. Die Gemeindeverbände niederer Ordnung bilden die Ortsgemeinden (Stadtgemeinden, Landgemeinden, Gutsbezirke) nach Maßgabe der verschiedenen Gemeindeverfassungsgesetze. Bezüglich der Landgemeinden sind drei Gebiete zu unterscheiden: 1) die sieben östlichen Provinzen mit der Landgemeindeordnung vom 3. Juli 1891, die mit einigen nicht sehr belangreichen Änderungen durch Gesetz vom 4. Juli 1892 auch in Schleswig-Holstein eingeführt wurde; 2) die beiden westlichen Provinzen mit einer formell abgeschlossenen Gemeindegesetzgebung, aber zum Teil kümmerlichen Selbstverwaltung: westfälische Landgemeindeordnung vom 19. März 1856 und rheinische Gemeindeordnung vom 23. Juli 1845 nebst Städteordnung vom 15. Mai 1856; 3) die neuen Provinzen nebst Hohenzollern; für Hannover gilt das hannoversche Landgemeindegesetz vom 28. April 1859, das eine freie und gedeihliche Selbstverwaltung gewährleistet; für Hessen-Nassau gilt die Landgemeindeordnung vom 4. Aug. 1897, für den Regierungsbezirk Wiesbaden ist eine Städteordnung vom 8. Juni 1891 erlassen und für den übrigen Teil der Provinz Hessen-Nassau die Städteordnung vom 4. Aug. 1897; in den hohenzollerischen Landen gilt die Gemeindeordnung vom 2. Juli 1900 und zwar auch für die Stadtgemeinden. Die städtische Verfassung ist in den sieben östlichen Provinzen (ohne Neuvorpommern und Rügen, wo im wesentlichen die ältern Verfassungen durch Gesetz vom 31. Mai 1853 bestätigt sind) mit der Städteordnung vom 30. Mai 1853 zu den freiern Grundsätzen der Steinschen Periode zurückgekehrt. Sie beruht auf voller Selbstverwaltung. Sie hat den Städteordnungen für Westfalen vom 19. März 1856 und für die Rheinprovinz vom 15. Mai d. J. zum Muster gedient. Ebenso hat die Städte- und Fleckenordnung für Schleswig-Holstein vom 14. April 1869 und das Gemeindeverfassungsgesetz für Frankfurt a. M. vom 25. März 1867 enge Anlehnung an erstere gefunden, während Hannover seine besondere revidierte Städteordnung vom 24. Juni 1858 beibehalten hat. In Westfalen sind sodann zwischen die orts- und kreisgemeindliche Organisation die Ämter, in Rheinland die Bürgermeistereien als Zwischenglieder eingeschoben.
Für den weitern Aufbau der Gemeindeverfassung (Kreise und Provinzen) ist zunächst durch die Kreisordnung vom 13. Dez. 1872 für die östlichen Provinzen der Grundstein gelegt, auf dem die Provinzialordnung vom 29. Juni 1875 weiterbaut. Die Kreisordnung erfuhr mit dem Gesetz von 19. März 1881 Abänderungen und eine Neuredaktion, die Provinzialordnung wurde durch das Zuständigkeitsgesetz vom 1. Aug. 1883 abgeändert. In der Provinz Posen aber sind die genannten Gesetze noch nicht durchgeführt, vielmehr steht diese Provinz noch unter der veralteten kreisständischen Verwaltung (Kreisordnung vom 20. Dez. 1828 und Gesetz vom 19. Mai 1889). Dagegen sind die übrigen Provinzen mittels besonderer, provinzielle Eigentümlichkeiten berücksichtigender Gesetze nach und nach in der Weise angeschlossen,[311] daß die Kreis- und die Provinzialordnung gleichzeitig zur Einführung gelangten. Gemeindeverbände mittlerer Ordnung mit Körperschaftsrechten zur Selbstverwaltung ihrer Angelegenheiten bilden die Kreise (in Hohenzollern Oberämter). Die Vertretung des Verbandes und der Kreiseingesessenen erfolgt durch den aus Wahlen hervorgegangenen Kreistag (in Hohenzollern Amtsversammlung) unter dem Vorsitz des Landrats (Oberamtmanns). Als Organe der Kreisgemeindeverwaltung wirken der vom Kreistag gewählte Kreisausschuß (in Hohenzollern Amtsausschuß, in Stadtkreisen Stadtausschuß) mit dem Landrat (Oberamtmann) als Vorsitzendem, der zugleich die Geschäfte des Verbandes führt. Städte mit 25,000 und mehr Zivileinwohnern können einen eignen Stadtkreis bilden. Gemeindeverbände höherer Ordnung bilden die Provinzen und in Hessen-Nassau außerdem noch die Regierungsbezirke Kassel und Wiesbaden auf Grund folgender Gesetze. 1) Provinzen Ostpreußen, Westpreußen, Brandenburg, Pommern, Schlesien und Sachsen: Provinzialordnung vom 29. Juni 1875 nebst Gesetz vom 23. März 1881; 2) Hannover: Gesetz vom 7. Mai 1884; 3) Westfalen: Gesetz vom 1. Aug. 1886; 4) Rheinprovinz: Gesetz vom 1. Juni 1887; 5) Schleswig-Holstein: Gesetz vom 27. Mai 1888; 6) Hessen-Nassau (Kassel und Wiesbaden): Gesetz vom 8. Juni 1885; 7) hohenzollerische Lande: hohenzollerische Amts- und Landesordnung vom 2. April 1873, bez. 9. Okt. 1900. Die Vertretung dieser Verbände und die Beschlußfassung über die Angelegenheiten derselben steht den Provinzial, bei den unter 6) und 7) genannten Verbänden den Kommunallandtagen zu, die sich aus Abgeordneten der Kreise zusammensetzen und ihren Vorsitzenden wählen. Als Selbstverwaltungsbehörden zur Wahrnehmung der Geschäfte des Verbandes bestehen in den Provinzen kollegiale Provinzial-, in den Verbänden unter 6) u. 7) kollegiale Landesausschüsse. Die laufenden Geschäfte werden von gewählten Landesdirektoren (auch Landeshauptmännern), in Hannover von einem aus drei Oberbeamten unter Vorsitz des Landesdirektors zusammengesetzten Landesdirektorium, in Hohenzollern von dem Vorsitzenden des Kommunallandtags und Landesausschusses wahrgenommen. Für den Verband der Provinz Hessen-Nassau sind die Vorschriften über die Einsetzung eines Provinzialausschusses und eines Landesdirektors bisher nicht in Kraft getreten. Für die Provinz Posen besteht noch ein provinzialständischer Verband, vertreten durch einen Provinziallandtag, der durch Abgeordnete der drei Stände, bez. die Virilstimmen der vormals unmittelbaren Reichsstände gebildet wird. Die Geschäftsverwaltung des Verbandes geschieht durch die provinzialständische Verwaltungskommission mit dem Direktor derselben als Organ für die laufenden Geschäfte. Vgl. L. v. Rönne, Das Staatsrecht der preußischen Monarchie (4. Aufl., Leipz. 1881 bis 1884, 4 Bde.; Bd. 1 u. 2 in 5. Aufl. von Zorn, 1899 u. 1906), dazu als Ergänzungsband: Schön, Das Recht der Kommunalverbände in P. (das. 1896), und weitere Werke über das preußische Staatsrecht von H. v. Schulze-Gävernitz (2. Aufl., das. 1888 bis 1890, 2 Bde.), Bornhak (Freiburg 188890, 3 Bde.; Ergänzungsband 1893), v. Stengel (das. 1894, und Die Organisation der preußischen Verwaltung, Leipz. 1884); Graf Hue de Grais, Handbuch der Verfassung und Verwaltung in P. und im Deutschen Reiche (17. Aufl., Berl. 1906) und die betreffenden Teile in dessen »Handbuch der Gesetzgebung in P. und dem Deutschen Reich« (Bd. 3 ff., das. 1903 ff.); Grotefend, Lehrbuch des preußischen Verwaltungsrechts (Leipz. 189092, 2 Tle.); v. Brauchitsch, Die neuen preußischen Verwaltungsgesetze (6 Bde. in vielen Auflagen); Oppenhoff, Die Gesetze über die Ressortverhältnisse zwischen den Gerichten und den Verwaltungsbehörden in P. (2. Aufl., Berl. 1904); v. Bitter, Handwörterbuch der preußischen Verwaltung (mit andern, Leipz. 1906 ff.); »Verfassung und Verwaltungsorganisation der Städte« (in den »Schriften des Vereins für Sozialpolitik«), Bd. 1 u. 2: Königreich P. (das. 1906).
Die Rechtspflege wird von unabhängigen Staatsgerichten ausgeübt, die im Namen des Königs Recht sprechen. Als besondere Gerichte bestehen nur: die Militärgerichte, die Disziplinargerichte für Richter, Beamte und Studierende, die Austrägalgerichte der Standesherren, die auf Staatsverträgen beruhenden Rheinschiffahrts- und Elbzollgerichte, die Gerichte in Ablösungs- etc. Sachen (Generalkommissionen und Oberlandeskulturgericht), Gewerbegerichte und Kaufmannsgerichte. Die Richter werden vom König auf Lebenszeit ernannt, sind unabhängig und unabsetzbar und können unfreiwillig nur durch Richterspruch ihres Amtes enthoben oder in den Ruhestand versetzt werden. Die oberste Justizverwaltungsbehörde ist das Justizministerium. Organe desselben sind die Vorstände der Gerichte und die Staatsanwaltschaften. Die Gerichtsverfassung ist auf Grund des Reichsgerichtsverfassungsgesetzes vom 27. Jan. 1877 und des preußischen Ausführungsgesetzes vom 24. April 1878 seit 1. Okt. 1879 einhetlich gestaltet. Oberster Gerichtshof ist das Reichsgericht in Leipzig. Für den Staat bestehen sodann 14 (mit Jena 15) Oberlandesgerichte: 1) in Königsberg für Ostpreußen, 2) in Marienwerder für Westpreußen, 3) in Berlin (Kammergericht) für Berlin und die Provinz Brandenburg, 4) in Stettin für Pommern, 5) in Posen für die Provinz Posen, 6) in Breslau für Schlesien, 7) in Naumburg a. S. für die Provinz Sachsen, 8) in Kiel für Schleswig-Holstein, 9) in Celle für die Provinz Hannover etc., 10) in Hamm für Westfalen etc., 11) in Kassel, 12) in Frankfurt a. M., 13) in Köln und 14) in Düsseldorf für die Rheinprovinz, 15) in Jena. Innerhalb der Oberlandesgerichtssprengel bestehen Landgerichte und unter diesen Amtsgerichte (Näheres s. die Textbeilage zum Artikel »Gerichtsverfassung«). Vgl. »Allgemeine Darstellung der Gerichtsverfassung in P.«, bearbeitet im Justizministerium (1. Teil des »Jahrbuchs der preußischen Gerichtsverfassung«, zuletzt Berl. 1906).
Dem Strafvollzuge dienen die Gefängnisse und Strafanstalten. In letztern werden die Zuchthaus- und längern Freiheitsstrafen vollstreckt. Im ganzen kommen 50 Straf- und Gefangenanstalten sowie die 117 rheinischen Kantongefängnisse hier in Betracht. Sie gehören fast ausschließlich zum Geschäftskreis des Ministers des Innern und stehen mit unter der Aussicht des Regierungspräsidenten, während die Gerichts- und einzelne Strafgefängnisse, zusammen 989, zum Geschäftskreis der Justizverwaltung gehören. Daneben gibt es Polizeigefängnisse, Arbeitshäuser und Besserungsanstalten (letztere beiden Gattungen für Bettler, Trunkenbolde, Arbeitsscheue und jugendliche Verbrecher). Über die Kriminalität der preußischen Bevölkerung s. die »Kriminalistische Karte I« bei Art. »Kriminalität«. Vgl. v. Rhein haben, Die preußischen Disziplinargesetze (Berl. 1904).[312]
Die Verfassungsgemeinschaft der evangelischen Landeskirche in P. beschränkt sich lediglich auf die gemeinsame Spitze des obersten Kirchenregiments in der Person des Königs. In den elf ältern Landesteilen: Ostpreußen, Westpreußen, Stadtkreis Berlin, Brandenburg, Pommern, Posen, Schlesien, Sachsen, Westfalen, Rheinland und Hohenzollern bildet die Landeskirche ein Ganzes, in dem die Kirchengewalt von dem evangelischen Oberkirchenrat zu Berlin als Zentralbehörde und unter diesem durch je ein Provinzialkonsistorium ausgeübt wird, denen meistens je ein Generalsuperintendent zur Seite steht. Die Kirchengemeinde- und Synodalverfassung regelt die äußere Ordnung sowie die Selbstverwaltung der Kirche und deren Organe. Vertretungskörper bilden die Gemeinden, Kreise (Kirchenkreise), Provinzen und der alte Gesamtstaat mit der Vertretung im Gemeindekirchenrat (der Berliner Stadtsynode und den Verbandsvertretungen der Gesamtkirchengemeindeverbände), in der Kreis-, Provinzial- und Generalsynode. Die Generalsynode besteht aus von der Provinzialsynode erwählten Mitgliedern, aus Mitgliedern der evangelischtheologischen Fakultäten der Universitäten, aus den Generalsuperintendenten der betreffenden Provinzen und aus den vom König zu ernennenden Mitgliedern; die Provinzialsynode aus den von der Kreissynode zu erwählenden Abgeordneten, einem Mitgliede der evangelisch-theologischen Fakultät der Provinzialuniversität und aus vom König zu ernennenden Mitgliedern; die Kreissynode aus dem Superintendenten der Synode, sämtlichen innerhalb des Kirchenkreises ein Pfarramt verwaltenden Geistlichen und der doppelten Anzahl gewählter Laien. Die Landeskirchen der seit 1866 mit der preußischen Monarchie vereinigten Gebiete sind gemäß königlicher Verordnung vom 13. Mai 1867 unter dem Minister der geistlichen etc. Angelegenheiten als der für sie gemeinschaftlichen kirchlichen Zentralbehörde in ihrer bisherigen Selbständigkeit verblieben. Die evangelisch-lutherische Kirche von Schleswig-Holstein steht unter dem Konsistorium in Kiel, die evangelisch-lutherische Kirche der Provinz Hannover unter dem Landeskonsistorium in Hannover und den Spezialkonsistorien in Hannover, Stade und Aurich. Ebenfalls unter dem Konsistorium in Aurich steht die evangelisch-reformierte Kirche der Provinz Hannover. Die Verfassung der evangelisch-lutherischen Kirche in Hannover beruht auf dem Gesetz vom 9. Okt. 1864, nach dem es Kirchenvorstände für die einzelnen Gemeinden, Bezirkssynoden und eine Landessynode gibt. Im Regbez. Kassel besteht für die evangelische Kirche das Konsistorium in Kassel; im Regbez. Wiesbaden (ohne Frankfurt a. M.) fungiert das Konsistorium in Wiesbaden, während für und in Frankfurt a. M. ein evangelisch-lutherisches und ein reformiertes Konsistorium bestehen. Das Militärkirchenwesen ist dem Kriegsminister, dem Minister der geistlichen etc. Angelegenheiten und dem evangelischen Oberkirchenrat unterstellt und umfaßt auch die Militärgemeinden im Reichsland Elsaß-Lothringen. An der Spitze der evangelischen Militärgeistlichen steht der evangelische Feldpropst der Armee, und die Militärgeistlichkeit eines jeden Armeekorps, bez. der kaiserlichen Marine ist einem Militäroberpfarrer unterstellt. Vgl. Nitze, Die Verfassungs- und Verwaltungsgesetze der evangelischen Landeskirche in P. (Berl. 1895); Goßner, Preußisches evangelisches Kirchenrecht (das. 1899); Förster, Die Entstehung der preußischen Landeskirche (Tübing. 1905, Bd. 1).
Die Angelegenheiten der römisch-katholischen Kirche sind durch die päpstliche Bulle »De salute animarum« vom 16. Juli 1821 geordnet. Es bestehen zwei Erzbistümer: Köln und Gnesen-Posen. Die Erzdiözese Gnesen ist mit dem Erzbistum Posen auf immer vereinigt, doch besitzt jedes dieser Bistümer ein eignes Metropolitankapitel; der Bischof von Kulm ist Suffragan von Gnesen. Ferner bestehen zehn Bistümer; die vier exemten (d. h. unmittelbar dem päpstlichen Stuhl unterworfenen): Ermeland, Breslau (Fürstbistum), Osnabrück und Hildesheim (exemt ist auch die fürstbischöfliche Delegatur Berlin) und die Suffraganbistümer (von Köln): Trier, Münster, Paderborn, (von Gnesen) Kulm und (vom Erzbistum Freiburg im Breisgau) Fulda und Limburg. Der Sprengel des Fürstbischofs von Breslau begreift auch Österreichisch-Schlesien, während anderseits der Fürsterzbischof von Prag, bez. sein Vertreter für den auf preußischem Gebiet gelegenen Teil des Fürsterzbistums, der Großdechant der Grafschaft Glatz zu Neurode, die geistliche Jurisdiktion über die Kreise Neurode, Glatz und Habelschwerdt ausübt, ferner der Kreis Leobschütz sowie der südliche und westliche Teil des Kreises Ratibor (Regbez. Oppeln) mit dem Sitz des fürstbischöflichen Kommissars zu Katscher dem Fürsterzbistum Olmütz zugehören und endlich Hohenzollern dem Erzbischof von Freiburg unterstellt ist. Die sogen. Maigesetze (s. Kirchenpolitik, S. 51) der Jahre 187375 wurden zuerst durch verschiedene Novellen in manchen Punkten gemildert, 1886 aber im wesentlichen beseitigt, so daß mit Ausnahme des Jesuitenordens (dessen Angehörigen der Aufenthalt im Reiche feil 1904 wieder gestattet ist, s. Jesuitengesetz) alle Orden und Kongregationen im Deutschen Reich und in P. Niederlassungen gründen können. 1903 bestanden in P. 119 Ordensniederlassungen für Männer und 1367 für Frauen. Die Altkatholiken in P. und dem Deutschen Reich haben einen eignen Bischof (in Bonn) ohne abgegrenzten Sprengel, während die Katholiken auf der schleswigschen Insel Nordstrand dem jansenistischen Erzbischof in Utrecht unterstellt sind. Die kirchlichen Verhältnisse der separatistischen Altlutheraner sind durch das Patent vom 23. Juli 1845 geordnet. Der geistliche Vorstand derselben ist das Oberkirchenkollegium der evangelisch-lutherischen Kirche in Breslau. Vgl. Hinschius, Die Orden und Kongregationen der katholischen Kirche in P. (Berl. 1874) und Die preußischen Kirchengesetze 18731887 (das. 187487, 4 Bde.).
Die Kultusangelegenheiten der Juden sind durch Gesetz vom 23. Juli 1847, bez. durch Landesgesetze der neuen Landesteile geordnet. Nur in den Provinzen Hannover und Hessen-Nassau besteht eine staatliche Organisation der jüdischen Religionsgemeinden. In der Provinz Hannover ist für jeden Regierungsbezirk ein Landrabbiner vorhanden. Die Provinz Hessen-Nassau ist in sieben Rabbinatsbezirke geteilt. Die Kirchenaufsichts- und Verwaltungssachen, die im Staate dem Kultusminister zukommen, werden in den Provinzen von den Oberpräsidenten und Regierungspräsidenten, bez. den Kirchen- und Schulabteilungen der Regierungen geführt.
Das Eichungswesen ist für das Reich mit Ausschluß Bayerns reichsrechtlich geregelt und steht unter Oberaufsicht der kaiserlichen Normaleichungskommission in Berlin. Das Eichungswesen gehört in P. zum Geschäftskreise des Handelsministers. Landes- und Aufsichtsbehörden sind im Verein mit den Oberpräsidenten[313] die Eichungsinspektoren. Letztere sowie die am Sitz derselben befindlichen Eichungsämter sind königliche, alle übrigen dagegen Gemeindeanstalten. Wasserbau und Eisenbahnbau gehören besondern Verwaltungsgebieten an, so daß die Wirksamkeit der Staatsbauverwaltungim engern Sinne sich im wesentlichen als Baupolizei kennzeichnet, wobei allerdings den Staatsbaubeamten auch die unmittelbare Leitung der vom Staat auszuführenden Bauten obliegt. Zentralinstanz ist der Minister der öffentlichen Arbeiten, bez. die dritte Abteilung (für das Bauwesen) seines Geschäftskreises, der die Oberleitung des gesamten öffentlichen Land-, Wasser- und Chausseebauwesens untersteht. Unter ihr steht die Akademie des Bauwesens, die das gesamte Baufach in künstlerischer und wissenschaftlicher Beziehung zu vertreten hat. Die Provinzialbehörde bildet in Berlin einerseits das Polizeipräsidium, anderseits die Ministerialbaukommission für die fiskalischen Bauausführungen innerhalb der Stadt Berlin, im übrigen Staate die Regierungspräsidenten (Regierungen), denen Bauräte als technische Beamte beigegeben sind. Als örtliche Behörden sind die allgemeinen Polizeibehörden und neben diesen als technische Stellen die Kreisbaubeamten (Kreisbauinspektoren) tätig. Nach dem Übergang der Staatsstraßen auf die Provinzialverbände mittels Gesetzes vom 8. Juli 1875 beschränkt sich die Tätigkeit der königlichen Kreisbaubeamten vorzugsweise auf das Hoch- und Wasserbauwesen. Das Staatsgebiet ist zum Zwecke dieser Verwaltung innerhalb der Regierungsbezirke in Baukreise zerlegt, die meistens mehrere landrätliche Kreise oder Teile derselben umfassen. Neben den Hochbaukreisen bestehen für bestimmte Flußgebiete, bez. größere Landbezirke (mit Ausnahme der großen Flüsse) Wasserbaukreise mit Wasserbaubeamten. Besondere Verwaltungen bilden die zum unmittelbaren Geschäftskreis der Oberpräsidenten gehörenden: 1) Rheinstrom-, 2) Elbstrom-, 3) Oderstrom-, 4) Weichselstrombauverwaltung. Die Schiffahrts-, Hafen- und Strompolizei steht unmittelbar unter dem Handelsminister, ihre Verwaltung erfolgt durch diesen Minister in Verbindung mit den Oberpräsidenten und Regierungspräsidenten. In Memel, Königsberg und Pillau bestehen eigne Hafenpolizeikommissionen, in Emden, Geestemünde, Harburg, Leer, Norden und Köln eigne Hafenämter. In Danzig, Stettin und Kiel werden die Geschäfte von der königlichen Polizeibehörde, in Swinemünde von dem dortigen Landrat wahrgenommen. Seit dem 1. April 1897 ist die preußische Staatseisenbahn zu einer preußisch-hessischen Staatseisenbahngemeinschaft erweitert worden. Die Staatseisenbahnverwaltung im Geschäftskreis des Ministers der öffentlichen Arbeiten steht unter einem Unterstaatssekretär und zerfällt in 21 Eisenbahndirektionen: zu Altona, Berlin, Breslau, Bromberg, Danzig, Elberfeld, Erfurt, Essen, Frankfurt a. M., Halle, Hannover, Kassel, Kattowitz, Köln, Königsberg i. Pr., Magdeburg, Mainz, Münster i. W., Posen, St. Johann-Saarbrücken u. Stettin. An der Spitze dieser Direktionen steht ein Präsident. Zur Ausübung und Überwachung des örtlichen Dienstes bestehen Betriebs-, Maschinen-, Verkehrs- und Werkstätteninspektionen und Bauabteilungen zur Leitung der Neubauten. Die Bergwerksverwaltung untersteht demselben Minister. Das Staatsgebiet ist in die 5 Oberbergamtsbezirke: Breslau, Halle a. S., Klausthal, Dortmund und Bonn eingeteilt, unter den Oberbergämtern stehen die Berginspektionen, Hütten- und Salzämter, ebenso die Bergreviere zur Beaufsichtigung des Privatbergbaues etc. Auseinandersetzungsbehörden zur Regelung der gutsherrlichen und bäuerlichen Verhältnisse, der Gemeinheitsteilungen, Zusammenlegungen etc. sind die Generalkommissionen zu Königsberg für Ostpreußen; zu Bromberg für Westpreußen und Posen; zu Frankfurt a. O. für Berlin, Brandenburg und Pommern; zu Breslau für Schlesien; zu Merseburg für die Provinz Sachsen sowie für Schwarzburg-Sondershausen und -Rudolstadt, Anhalt und Sachsen-Meiningen; zu Hannover für Hannover und Schleswig-Holstein; zu Münster für Westfalen und die rheinischen Kreise Duisburg (Stadt), Essen (Stadt und Land), Mülheim a. d. R. (Stadt und Land), Ruhrort und Rees; zu Kassel für Hessen-Nassau sowie die Fürstentümer Waldeck und Schaumburg-Lippe; zu Düsseldorf für das ehemalige Geltungsgebiet des rheinischen Rechtes, den Bezirk des vormaligen Justizsenats zu Ehrenbreitstein und für Hohenzollern. Den Generalkommissionen sind Spezialkommissare beigegeben, die das Verfahren an Ort und Stelle einleiten. Die Verwaltung der direkten Steuern untersteht dem Finanzminister (zweite Abteilung des Ministeriums) und wird in den Provinzen von den Finanzabteilungen der Regierungen wahrgenommen. Seit dem 1. April 1895 sind zufolge des Gesetzes vom 14. Juli 1893 die Grund-, Gebäude-, Gewerbe- und Betriebssteuern an die Gemeinden überwiesen. Die staatliche Einkommen- und Ergänzungssteuer (Gesetze vom 24. Juni 1891, vom 14. Juli 1893) wird durch Veranlagungskommissionen (regelmäßig eine für den Kreis) veranlagt. Instanzen über diese sind die Berufungskommission und das Oberverwaltungsgericht. Steuern von Einkommen von nicht mehr als 3000 Mk. werden von den Gemeinde- oder Gutsbezirken erhoben; im übrigen erfolgt die Entrichtung direkt an die Kreiskassen. Die Grund- und Gebäudesteuer macht noch eine besondere Organisation erforderlich: die Katasterverwaltung. Im allgemeinen ist für jeden Kreis ein Katasteramt mit einem Katasterkontrolleur eingerichtet, der zunächst unter den Regierungen und dem Finanzminister steht, bei denen je ein Katasterinspektor, bez. der Generalinspektor des Katasters angestellt ist. Die Verwaltung der indirekten Steuern und Zölle, deren Erträge mit Ausnahme der Stempelsteuer und der Erbschaftssteuer an das Reich übergegangen sind, ist der dritten Abteilung des Finanzministeriums mit einem Generaldirektor der indirekten Steuern an der Spitze unterstellt; in den Provinzen besteht je eine Provinzialsteuerdirektion mit örtlichen Verwaltungsorganen (Hauptzollämter, Nebenzollämter, Hauptsteuer- u. Steuerämter). Vgl. Fuisting, Die preußischen direkten Steuern (3 Bde. in 6., 2. u. 3. Aufl., Berl. 190406).
Die Finanzen des preußischen Staates befinden sich seit jeher in gutem Zustand. Die Bilanz der Einnahmen und Ausgaben stellt sich für 18751903 in Millionen Mark wie folgt:
Das Budget für 1906 ist in Einnahmen und Ausgaben auf 2,910,344,396 Mk. veranschlagt; unter den Ausgaben sind 2,673,400,752 Mk. fortdauernde und 236,943,644 Mk. einmalige u. außerordentliche.[314]
Die Staatsschuld hat trotz ihrer Höhe an dem ausgedehnten Besitz des Staates an Domänen, Forsten, Bergwerken, Eisenbahnen etc. eine sichere Unterlage. Sie ist allerdings beträchtlich gewachsen; sie betrug 1867: 1322,7 Mill. Mk., am 1. April 1881: 1995,3 Mill. Mk. und stieg dann bis jetzt wie folgt (in Millionen Mark):
Diese starke Steigerung ist namentlich durch die Verstaatlichung und Neubauten von Eisenbahnen entstanden. Die Eisenbahnschuld wurde 1882 auf 1498,88 Mill. Mk. angenommen, sie betrug 1904 bereits 3656,49 Mill. Mk. Vgl. Sattler, Das Schuldenwesen des preußischen Staates etc. (Stuttg. 1893); O. v. Hoffmann, Die preußische Hauptverwaltung der Staatsschulden vom Jahre 18201896 (Berl. 1896); Schwarz und Strutz, Der Staatshaushalt und die Finanzen Preußens (das. 1900 ff.).
Die Flotte ist an das Reich übergegangen (s. Deutschland, S. 795 ff.). Das Kontingent des königlich preußischen Heeres umfaßt jetzt auf Grund verschiedener Verträge (Militärkonventionen) sämtliche Bundesstaaten mit Ausnahme von Sachsen, Württemberg und Bayern (s. Deutschland, S. 792 ff.).
(Hierzu Tafel »Preußische Provinzwappen«, mit Textblatt.)
Das Staatswappen ist ein dreifaches: das kleine (vgl. das mittlere Feld der zweiten Reihe in Fig. 1 der bei folgenden Tafel) ist mit der Königskrone bedeckt und enthält in Silber einen schwarzen, goldbewehrten, königlich gekrönten Adler mit roter Zunge, goldenen Kleestengeln auf den Flügeln und dem Namenszug des ersten Königs auf der Brust, mit Zepter und Reichsapfel in den Fängen. Das mittlere Wappen (Fig. 1 der Tafel) besteht in einem Schilde, der zweimal gespalten und dreimal quer geteilt ist, mit rotem Schildesfuß, in der Mitte belegt mit dem Schilde des kleinen Staatswappens. In den übrigen elf Feldern erscheinen die Wappen der Provinzen und Länder (Näheres im Erklärungsblatt zur Tafel). Der Schild ist ebenfalls mit der preußischen Königskrone bedeckt und wird von zwei wilden, mit Keulen bewaffneten Männern gehalten und von der Kette des Schwarzen Adlerordens umzogen. Das große Wappen enthält 48 Felder und 3 Mittelschilder. Unten erscheint ebenfalls ein roter Schildfuß, den Regalienschild repräsentierend. Der Schild ist von einem mit der preußischen Königskrone gekrönten goldenen [315] Helm bedeckt, von den preußischen Orden umgeben, und wird von zwei wilden, Fahnen tragenden Männern gehalten. Das Ganze ist von einem purpurnen, mit Adlern und Königskronen bestickten Wappenzelt umgeben, dessen Gipfel die Königskrone und das Reichspanier decken. Die blaue Randleiste des Zeltes trägt den Wahlspruch Friedrichs I.: »Gott mit uns!« Vgl. Gritzner, Landes- und Wappenkunde der brandenburgisch-preußischen Monarchie (Berl. 1894); Ströhl, Deutsche Wappenrolle (Stuttg. 1897). Die Landesfarben sind Schwarz und Weiß. Über die Wappen und Landesfarben der preußischen Provinzen s. bei folgende Tafel »Preußische Provinzwappen«, mit Textblatt. Die preußische Landesflagge (s. Tafel »Deutsche Flaggen«, Nr. 31 [Band 4, S. 799], daselbst auch die Standarten des Königs, der Königin und der Prinzen) ist weiß, hat keine Auszackung und wird sowohl an der obern als an der untern Seite von einem schwarzen Streifen eingefaßt. In dem weißen Felde zeigt sie den heraldischen preußischen Adler. Die preußische Kriegsflagge (s. Tafel, Nr. 35), die von Staatsfahrzeugen in Binnengewässern geführt wird, ist weiß und ohne schwarze Randstreifen. Ihre Länge verhält sich zur Höhe wie 5 zu 3. Die äußere schmale Seite ist auf ein Fünftel der Flaggenlänge ausgezackt. In der Mitte des nicht ausgezackten Teiles befindet sich der heraldische preußische Adler (schwarz mit roter Zunge, goldenen Fängen und Schnabel, im rechten Fange den goldenen Zepter, im linken den blauen Reichsapfel führend, mit goldenen Kleestengeln, auf der Brust ein goldenes FR, auf dem Kopfe die purpurgefütterte Königskrone), in der obern Ecke am Flaggenstocke das schwarze, weißgesäumte Eiserne Kreuz. Ritterorden (s. Tafel »Orden I«) sind: der Orden vom Schwarzen Adler, gestiftet 18. Jan. 1701, der höchste preußische Orden; der Verdienstorden der preußischen Krone, gestiftet 18. Jan. 1901; der Orden Pour le mérite, gestiftet 1740, erweitert 18. Jan. 1810, mit einer 31. Mai 1842 gestifteten Friedensklasse für Wissenschaft und Künste; der Rote Adlerorden, 1705 in Bayreuth gestiftet, durch Bestätigungsurkunde 12. Juni 1792 zum zweiten Ritterorden des königlichen Hauses erhoben, 1810, 1811, 1830, 1832, 1848, 1864 und 1865 erweitert; der königliche Kronenorden, gestiftet 18. Okt. 1861; der königl. che Hausorden von Hohenzollern, 7. Dez. 1849 in die Reihe der königlich preußischen Orden übergegangen, neue Statuten vom 23. Aug. 1851; die Ballei Brandenburg des ritterlichen Ordens St. Johannis vom Spital zu Jerusalem, bestand schon 1382, aufgelöst 23. Jan. 1811, wieder errichtet 15. Okt. 1852; der Orden des Eisernen Kreuzes, gestiftet 10. März 1813, erneuert 19. Juli 1870; der Wilhelmsorden (gestiftet 18. Jan. 1896); Frauenorden: der Luisenorden, gestiftet 3. Aug. 1814, erneuert 15. Juli 1850, erweitert 30. Okt. 1865; das Verdienstkreuz für Frauen und Jungfrauen, errichtet 22. März 1871. Ehrenzeichen sind: das allgemeine Ehrenzeichen, die Rettungsmedaille am Bande (s. Tafel »Verdienstmedaillen«, mit Textblatt), die Rote Kreuz-Medaille und verschiedene Militärehrenzeichen und Kriegsdenkmünzen. Oberhaupt aller Orden, mit Ausnahme der für Damen bestimmten, deren Vorsteherin die Königin ist, und aller Ehrenzeichen ist der König. Vgl. G. Lange, Die preußischen Orden und Ehrenzeichen (8. Aufl., Berl. 1896).
Die königliche Residenz ist Berlin, die zweite Residenz Potsdam. Königliche Schlösser sind in Königsberg, Breslau, Hannover, Kassel, Wiesbaden; königliche Lustschlösser: Monbijou, Bellevue, Charlottenburg, Sanssouci, Neues Palais, Charlottenhof, das Marmorpalais u. a.
Für die meisten Gebiete des preußischen Staats- und Wirtschaftslebens kommen hauptsächlich die Veröffentlichungen des königlichen Statistischen Landesamts (früher Bureaus) in Frage, insbes.: »Statistisches Jahrbuch für den preußischen Staat« (seit 1903) und dessen Vorgänger: »Statistisches Handbuch« (Bd. 1 u. 2,188889) und »Jahrbuch für die amtliche Statistik des preußischen Staats« (186183, 5 Bde.), die »Preußische Statistik«, amtliches Quellenwerk (seit 1859), »Gemeinde Lexiken für die einzelnen Provinzen auf Grund der Volkszählung vom 1. Dez. 1895« (13 Bde., Berl. 1897 ff.), »Viehstands Lexikon« (1895 ff.) und die »Zeitschrift des königlich preußischen Statistischen Landesamts« (seit 1861, mit Ergänzungsheften). Aus der übrigen Literatur vgl. Dieterici, Handbuch der Statistik des preußischen Staats (Berl. 1858 bis 1861); Neumann, Geographie des preußischen Staats (Ebersw. 1869; 2. Bearbeitung u. d. T.: »Das Deutsche Reich«, Berl. 187274, 2 Bde.) und das von Neumann begonnene »Orts- und Verkehrslexikon des Deutschen Reichs« (4. Aufl. von Brösike und Keil, Leipz. 1905); Kraatz, Topographisch-statistisches Handbuch des preußischen Staats (3. Aufl., das. 1880); »Landeskunde Preußens«, herausgegeben von Beuermann (in einzelnen Provinzheften, Berl. 1901); die betreffenden Teile (von A. Penck) in Kirchhoffs »Länderkunde«, Bd. 2 (Prag u. Leipz. 1887); Müller-Köpen, Die Höhen bestimmungen der königlich preußischen Landesaufnahme (einzelne Provinzhefte, Berl. 1880 ff.); »Die Ergebnisse der Grund- und Gebäudesteuerveranlagung«, für jeden Regierungsbezirk nach dem Umfang vor 1866 (das. 186670, 25 Bde.); Markow, Das Wachstum der Bevölkerung in P. 18241885 (Tübing. 1889); »Die Verwaltung der öffentlichen Arbeiten in P. 18901900« (amtlicher Bericht, das. 1900); das amtliche »Handbuch über den preußischen Hof und Staat« (jährlich). Weitere Literatur s. oben bei den betreffenden Abschnitten über: Unterrichtswesen, Gesundheitspflege, Landwirtschaft, Waldkultur, Staatsverfassung und Verwaltung, Finanzen und Staatsschuld, Rechtspflege, Kirchenverwaltung, Staatswappen, Ruterorden.
Von Karten des preußischen Staates kommen zunächst in Betracht die vom Generalstabe herausgegebenen Kartenwerke (s. die Textbeilage zum Artikel »Landesaufnahme«, Bd. 12); dann die betreffenden Blätter der »Topographischen Spezialkarte von Mitteleuropa« (Reymannsche Karte, 1:200,000) und Liebenows (1:300,000) Spezialkarten von Mitteleuropa; ferner (abgesehen von den größern Karten des Deutschen Reiches und den jetzt veralteten Kartenwerken von Engelhardt, Handtke u. a.) die »Karte vom preußischen Staat, mit besonderer Berücksichtigung der Kommunikationen«, 12 Blätter, 1:600,000 (6. Aufl., Berl. 1876); die vom Generalpostamt herausgegebene »Post- und Eisenbahnkarte des Deutschen Reichs« (das. 1887, 20 Blätter); die amtliche »Übersichtskarte der Verwaltungsbezirke der königlich preußischen Eisenbahndirektionen« (das. 1901, 4 Blätter); die von der geologischen Landesanstalt herausgegebene »Geologische Karte von P.«, 1:25,000 (noch nicht abgeschlossen); »Übersichtskarte von den Waldungen Preußens« (amtlich, Berl. 1887, 8 Blätter, vervollständigt 1896); Böckh, Sprachkarte vom preußischen Staat[316] (das. 1864, 2 Blätter); v. Zylinicki, Die Hauptwerke der königlich preußischen Landesaufnahme (Bei hest zum »Militär-Wochenblatt«, 1896). Vgl. auch unsre Provinzkarten bei den einzelnen Provinzen.
(Hierzu die »Karte zur Geschichte Preußens«, mit Textblatt: Übersicht des Wachstums des Preußischen Staats)
Der Name Preußen ging von dem Herzogtum P., dem jetzigen Ostpreußen (s. d., Geschichte), als dasselbe 18. Jan. 1701 zum Königreich erhoben wurde, auf den vom damaligen Kurfürsten von Brandenburg besessenen Länderkomplex über. Der Titel »König« haftete von vornherein nur an dem Lande P., das nicht zum Deutschen Reiche gehörte, während der neue König in seinen übrigen Staaten Markgraf, bez. Herzog blieb. Da aber bereits der Kurfürst Friedrich Wilhelm (s. Friedrich 14) begonnen hatte, einen einheitlichen Staat aus den verschiedenen Ländern zu bilden, so war die Übertragung des Namens »Königreich Preuf;en« auf den ganzen Besitz der Kurfürsten von Brandenburg mehr als eine leere Form, denn dieser Länderkomplex war tatsächlich innerhalb Deutschlands etwas durchaus Neues. Tatsächlich beginnt deshalb die politische Bedeutung des Kurfürstentums Brandenburg (s. d., Bd. 3, S. 316) und damit die Geschichte des preußischen Staates mit dem Regierungsantritt Friedrich Wilhelms des Grof;en Kurfürsten (1640), der mit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges und der tatsächlichen Auflösung des Deutschen Reiches zusammenfällt. Nächst dem habsburgischen, dessen Schwergewicht zudem außei halb des Reiches lag, war der Besitz der brandenburgischen Hohenzollern in Deutschland 1640 an Flächeninhalt der größte. Er umfaßte außer Brandenburg Ostpreußen, Kleve, Mark und Ravensberg. wozu im Westfälischen Frieden noch Hinterpommern mit Kammin, Magdeburg, Halberstadt und Minden kamen (im ganzen 110,000 qkm mit 11/2 Mill. Einw.), und war über ganz Norddeutschland verteilt. Die Sicherung der Grenzen gegen äußere Gefahren erforderte unter diesen Umständen große Wachsamkeit und eine neue staatliche Organisation, der sich zunächst die großen Entfernungen und die bisherige Selbständigkeit der einzelnen Länder in den Weg stellten. Wenn es dennoch gelang, aus diesem Konglomerat von Ländern einen einheitlichen, vorzüglich organisierten und auch zu verhältnismäßiger materieller Blüte sich entwickelnden Staat zu schaffen und ihn trotz der Mißgunst aller Nachbarn und der offenen feindlichen Angriffe nicht nur zu erhalten, sondern ihn noch zu vergrößern, so ist dies dem staatsmännischen Geschick, der unermüdlichen Tätigkeit und der konsequenten Politik der hohenzollerischen Regenten zu danken. Zugleich bildeten sich nicht nur bei Offizieren und Beamten, sondern auch bei der Bevölkerung ein Staatsbewußtsein und ein Patriotismus heraus, die im übrigen Deutschland fehlten, aber, wie schon früh deutsche Patrioten erkannten, gerade P. befähigten, an die Spitze Deutschlands zu treten. Von P. ist tatsächlich die politische Wiedergeburt des deutschen Volkes und die Wiederherstellung seiner Einheit und Macht ausgegangen, wenn es auch im einzelnen an Rückschlägen nicht gefehlt hat.
Als der Kurfürst Friedrich Wilhelm (s. Friedrich 14) 1. Dez. 1640 nach dem Tode seines schwachen Vaters Georg Wilhelm die Regierung seiner Erblande antrat, befanden sich diese in der kläglichsten Verfassung. Die westlichen Lande waren ganz in fremdem Besitz, die Mark teils von den Schweden, teils von ganz unzuverlässigen eignen Truppen besetzt und auf das furchtbarste verwüstet, in P. verweigerten die Stände die Huldigung und suchten die Belehnung seitens der Krone Polen zu hintertreiben. Mit Klugheit und Zähigkeit überwand der junge Fürst alle Schwierigkeiten, erlangte die polnische Belehnung für Ostpreußen, machte sich in der Mark durch Errichtung eines kleinen, aber tüchtigen, zuverlässigen Heeres und einen Waffenstillstand mit Schweden wieder zum Herrn und sicherte sich durch die Vermählung mit einer oranischen Prinzessin und ein Bündnis mit den Generalstaaten seine westlichen Lande. Im Westfälischen Frieden erwarb er für das den Schweden zufallende Vorpommern wichtige Gebiete im mittlern Deutschland. Er war bemüht, die Wunden des furchtbaren Krieges zu heilen, den religiösen Hader durch die Duldung aller Glaubensmeinungen und die Aufrechthaltung des Friedens unter ihnen zu beseitigen und dadurch eine der notwendigen Voraussetzungen für die Entstehung eines Staates zu schaffen. Obwohl es dem Bürger- und Bauernstand an Kapital, Kenntnissen und Unternehmungsgeist mangelte, so daß manche Bestrebungen scheiterten, wurde doch der Ackerbau wieder belebt, Handel und Gewerbe, die völlig daniederlagen, durch Einrichtung der Post, durch den Bau von Kanälen sowie (1685) durch die Aufnahme der französischen Protestanten gefördert; ja selbst überseeische Kolonien wurden gegründet. Der Widerstand der Stände wurde nicht ohne Anwendung von Gewalt gebrochen und in dem Geheimen Rat, in dem die obersten Beamten der einzelnen Landesteile vereinigt waren, eine einheitliche Zentralbehörde geschaffen. Hier bildete sich der erste Kern des preußischen Beamtentums, dem die Hohenzollern die Idee des preußischen Staatswesens einflößten.
Vor allem mußte bei der damaligen Lage Deutschlands die Wehrhaftigkeit des jungen Staates erhalten werden. Der Kurfürst, selbst ein tüchtiger Soldat, schuf sich schnell ein vortreffliches Heer, dessen Führer sich durch kriegerische Tüchtigkeit und ritterliche Anhänglichkeit an den Kriegsherrn auszeichneten. Allerdings verschlang es bedeutende Summen; der Kurfürst konnte zu dessen Unterhaltung auf Kriegsfuß die Hilfsgelder reicherer Bundesgenossen nicht entbehren und dies beeinflußte die Unabhängigkeit seiner Politik. Im schwedisch polnischen Kriege (165560) erwarb er die Souveränität Preußens (1657), die ihn von dem Lehnsverbande mit Polen befreite. Das im ersten Koalitionskrieg gegen Frankreich (1672 bis 1679) durch die Schlacht bei Fehrbellin (28. Juni 1675) und die folgenden glücklichen Feldzüge den Schweden entrissene Vorpommern mußte er freilich im Frieden von St.-Germain (29. Juni 1679) wieder zurückgeben. Die Behauptung des Besitzstandes war schon ein Erfolg, der Kurfürst von Brandenburg war neben dem Kaiser der mächtigste und einflußreichste Fürst in Deutschland; Sachsen und das Haus Braunschweig-Lüneburg waren von Brandenburg überholt, das politisch in Norddeutschland die Vormacht darstellte.
Friedrich Wilhelms Sohn, Kurfürst Friedrich III. (s. Friedrich 56), von den besten Absichten für Erfüllung seiner Pflichten als Fürst beseelt, aber politisch kurzsichtig und zu Pracht und Verschwendung geneigt, täuschte sich über die wirkliche Kraft des jungen Staatswesens und gefährdete durch seine äußerlich glänzende Regierung das von seinem Vater begonnene Werk. Er hielt die Organisation der Staatsbehörden[317] für genug gefestigt, um, die innere Entwickelung ruhig ihren Gang gehen lassend, sich ganz den allgemeinen europäischen Dingen, der Erlangung einer der Bedeutung Brandenburgs entsprechenden äußern Würde und der Pflege höherer wissenschaftlicher und künstlerischer Interessen zu widmen. An dem zweiten Koalationskriege gegen Frankreich (168997) nahm er anfangs persönlich teil und ließ Truppen bei der verbündeten Armee bis zum Frieden von Ryswyk (1697), bei dem er nicht die geringste Entschädigung gewann, ja nicht einmal zu den Verhandlungen zugezogen wurde. In Ungarn kämpften brandenburgische Truppen gegen die Türken. Diese Opfer brachte er bereitwillig, um seinem Staat und seinem Haus einen höhern Rang zu verschaffen durch die Erhebung des souveränen Herzogtums P. zum Königreich. Die Zustimmung des Kaisers, die er durch den Kronvertrag vom 16. Nov. 1700 erlangte, erkaufte er mit der Verpflichtung, das Erbfolgerecht des österreichischen Hauses auf Spanien durch Stellung eines Hilfskorps zu unterstützen, und elf Jahre lang kämpften demgemäß die preußischen Truppen auf den Schlachtfeldern Belgiens und Süddeutschlands in größerer Stärke, als bedungen war, und ohne Subsidien zu empfangen, während dem König die für ihn wichtigere Beteiligung am Nordischen Krieg unmöglich gemacht wurde. Immerhin war die Annahme des preußischen Königstitels (als König hieß der Kurfürst fortan Friedrich I.), die am 18. Jan. 1701 in Königsberg stattfand und im Utrechter Frieden 1713 von den europäischen Mächten anerkannt wurde, ein Fortschritt in der Entwickelung des preußischen Staates; sie gab den Untertanen einen gemeinschaftlichen Namen und den Leitern den Antrieb, die wirkliche Macht mit dem hohen Rang in Übereinstimmung zu bringen. Vgl. Stettiner, Zur Geschichte des preußischen Königstitels und der Königsberger Krönung (Königsb. 1900).
Die Gründung der Universität Halle (1694), der Akademie der Künste (1699) und der der Wissenschaften (1700) in Berlin, die prachtvollen Schlüterschen Bauten daselbst zeigten, daß der neue Staat auch die geistigen Interessen pflegen wolle. Aber die Aufopferung Friedrichs für die gemeinschaftliche Sache Europas und sein Streben, den neuen Königshof zu einem Sitz künstlerischer Pracht zu erheben, drohten die Finanzen zu zerrütten; der vom Großen Kurfürsten gesammelte Staatsschatz war längst aufgezehrt, und selbst neue, drückende Steuern, der Verkauf von Domänen, die Vernichtung kostbarer Wälder vermochten die Kosten des Hofes und Heeres nicht zu decken. Friedrich, gutmütig und schwach, fiel dazu in die Hände fremder Abenteurer, die sich schamlos bereicherten, wie der berüchtigte Kolb von Wartenberg, und den Hof zum Schauplatz schmählicher Ränke und nichtsnutziger Günstlingsherrschaft machten, während man die alten Räte des Großen Kurfürsten, die in dessen Sinn die Regierung sparsam fortführen wollten, zurücksetzte oder, wie den verdienten Danckelmann, mit Undank belohnte. Eine nicht unwichtige Erwerbung an neuem Ländergebiet machte zwar auch der erste König: er kaufte von Sachsen die Erbvogtei über das Reichsstift Quedlinburg und die Reichsstadt Nordhausen sowie das Amt Petersberg und später die Grafschaft Tecklenburg, und aus der Erbschaft Wilhelms III. von Oranien fielen ihm 1702 Lingen, Mörs und Neuenburg zu. Obwohl das Volk den gutmütigen Fürsten, als er 25. Febr. 1713 starb, betrauerte, bedeutete sein Tod doch die Befreiung des Staates aus großer Gefahr,-.
Der Umschwung, den sein Sohn und Nachfolger, König Friedrich Wilhelm I. (s. Friedrich 57), herbeiführte, war schroff, aber für die Erhaltung des Staates notwendig und in seinen Folgen segensreich, wenn auch die Mitwelt fast nur die Härten des neuen Systems spürte. Selbst ohne feinere Bildung, verwendete der König die geringen Geldmittel des Staates nicht für künstlerische und wissenschaftliche Zwecke, die über die unmittelbare Notwendigkeit hinausgingen, auch hütete er sich, dessen Kräfte in zweifelhaften kriegerischen Unternehmungen zu vergeuden. Der Utrechter Friede, dem er 15. Mai 1713 beitrat, befreite ihn von der Pflicht der weitern Teilnahme am Spanischen Erbfolgekrieg und verschaffte ihm noch als Ersatz für Orange den Besitz von Obergeldern; nur notgedrungen nahm er noch am Nordischen Krieg teil, indem er Vorpommern erst zur Sicherung gegen Rußland besetzte, dann aber seine Ansprüche auf Entschädigung gegen Karl XII. von Schweden verteidigte; nachdem er 1715 Stralsund und Rügen erobert, behielt er 1720 im Frieden von Stockholm gegen Zahlung von 2 Mill. Tlr. Vorpommern bis zur Peene mit den Odermündungen (5000 qkm). Seitdem nahm er an keinem Kriege mehr teil; nur im Polnischen Erbfolgekrieg (173335) unterstützte er die kaiserliche Armee am Rhein mit einem Hilfskorps von 10,000 Mann.
Nachdem er mit einem Federstrich den ganzen Flitterland des prunksüchtigen väterlichen Hofes abgeschafft, in seiner Familie strengste Einfachheit und Sparsamkeit zum Gesetz gemacht und sich selbst für den Kriegs- und Finanzminister Preußens erklärt hatte, widmete er sich mit rücksichtsloser Energie und unermüdlicher Arbeitskraft der Reorganisation des Staates. Er erkannte sehr richtig, daß eine selbständige Politik neben den übrigen mit natürlichen Hilfsmitteln besser ausgestatteten europäischen Staaten für P. nur möglich sei, wenn es eine starke, vortreffliche und aus eignen Mitteln unterhaltene, nicht von fremden Hilfsgeldern abhängige Armee habe. Diese zu bilden, war daher vor allem seine Absicht. Den Sold, die Uniform, die Verpflegung, knapp, aber pünktlich, erhielten Soldaten und Offiziere fortan aus der königlichen Kasse, nicht, wie früher, vom Obersten, der das Regiment geworben hatte. Die Rekruten wurden zur Hälfte aus den Landeskindern ausgehoben, zur Hälfte angeworben; zur Regelung der Aushebung führte der König 1733 das Kantonsystem ein: das Land wurde in Bezirke eingeteilt, die den einzelnen Regimentern zur Rekrutierung dienten. Hierdurch wurde eine beträchtliche Vermehrung des Heeres möglich; 1720 waren es bereits 50,000 Mann, 1740: 83,000 Mann, darunter 18,000 Mann Reiterei. Die Kriegszucht war streng, der Dienst mühsam; durch unermüdliches Drillen aber wurde erreicht, daß die Ausbildung des preußischen Fußvolkes in allen Bewegungen, die im Gleichschritt stattfanden, und im Schießen, das durch den eisernen Ladestock wesentlich erleichtert wurde, alles bis dahin Geleistete übertraf. Für die Opfer und Entbehrungen, die der anstrengende Dienst den Offizieren, namentlich den niedern Chargen bei kärglicher Bezahlung auferlegte, entschädigte er sie dadurch, daß er ihren Stand zum ersten im Staat machte, in den mit der Zeit nur der Adel Aufnahme fand, und dem er selbst und sämtliche Prinzen anzugehören sich zur Ehre rechneten. Der König flößte den preußischen Offizieren hierdurch Korpsgeist und lebhaftes Gefühl für ihre Standesehre ein.[318]
Obwohl bei der Heeresverwaltung, mit Ausnahme des »Leibregiments der langen Kerle«, für das der König große Summen verschwendete, die höchste Sparsamkeit beobachtet wurde, so erforderte sie doch immer größere Einkünfte, und diese zu beschaffen und zu vermehren, war des Königs zweite Sorge. Für eine geregelte Finanzwirtschaft war die Ausstellung und Einhaltung eines jährlichen Staatshaushalts notwendig, die bei der bisherigen Verwaltungsorganisation, wonach die Regierungen der einzelnen Länder nur ihre Überschüsse von alljährlich wechselnder und daher unberechenbarer Höhe an die allgemeine Staatskasse ablieferten, nicht möglich war. Der König setzte daher 1723 das »Generaloberfinanz-, Kriegs- und Domänendirektorium«, gewöhnlich das »Generaldirektorium« (s. d.) genannt, ein, dessen Instruktion er selbst ausarbeitete. Es empfing alle öffentlichen Einkünfte und mußte die Ausstellung sämtlicher Staatsausgaben so einrichten, daß stets ein Überschuß blieb, nie duldete der König eine Abweichung von diesem Voranschlag. Durch Vereinfachung der Abgaben suchte er die Kosten ihrer Erhebung zu vermindern und zugleich die Lasten der Untertanen zu erleichtern. Die Erträge der Akzisen und Zölle wurden durch strenge Kontrolle erheblich gesteigert, ebenso die Domäneneinkünfte. Privilegien und Sonderrechte beachtete er nicht. Die jährlichen Einnahmen beliefen sich zuletzt auf 71/2 Mill. Tlr., und er hinterließ trotz des großen Aufwands für das Heer seinem Nachfolger einen baren Schatz von 9 Mill. Tlr.
Durch zweckmäßige Maßregeln bemühte sich der König um den Wohlstand des Landes und Erhöhung seiner Steuerkraft. Am segensreichsten waren seine Bestrebungen für den Ackerbau. In der Bewirtschaftung der Domänen ging er mit gutem Beispiel voran, indem er Sümpfe entwässerte (die Trockenlegung des Oderbruchs durch v. Harlen bereitete er 1736 wenigstens vor), neue Kulturen einführte, die alten höher entwickelte. Unermüdlich drang er darauf, daß verödete Hofstellen wieder mit Bauern besetzt, Dörfer und Städte neu aufgebaut wurden. In Ostpreußen, wo 1721: 60,000 Hufen wüst lagen, beförderte er die Einwanderung fremder Kolonisten mit großen Opfern: die Ansiedelung der 18,000 Salzburger in Litauen 1732 kostete über 5 Mill. Tlr.; 2000 Böhmen fanden in der Mark eine neue Heimat. 12 Städte, 332 Dörfer und 49 Domänengüter wurden in Litauen teils wiederhergestellt, teils neu angelegt. Weniger Erfolg hatte für Handel und Gewerbe sein Merkantilsystem; nur die Wollmanufaktur wurde durch Zwangsmaßregeln begründet. Zwar war der König durchaus Selbstherrscher, kümmerte sich um das Geringste und behielt sich in allem die Entscheidung vor. Gleichwohl wußte er den Wert eines pflichttreuen und unterrichteten Beamtentums wohl zu würdigen. Die damals allgemein übliche Anschauung, daß ein Amt eine berechtigte Gelegenheit sei, sich selbst zu bereichern, rottete er durch mit unter grausame Strafen aus; eifrige, unterrichtete Beamte wurden dagegen rasch befördert. Wie auf eine gewissenhafte Verwaltung, so sah er auf eine rasche und gerechte Justiz. Auf diese Weise gründete er unter den schwierigsten Verhältnissen ein Staatswesen, das, von einem energischen und intelligenten Willen einheitlich geleitet, mittels einer gut organisierten Verwaltungsmaschine die Kräfte des Landes hob und sie zugleich durch die Ausstellung eines großen und tüchtigen Heeres für die Machtentwickelung des Staates nutzbar machte, der sich auf Beamtentum und Heer stützte.
Friedrich Wilhelm I. machte von den durch ihn geschaffenen Machtmitteln für die äußere Stellung Preußens keinen Gebrauch. Da er ohne Kenntnis der auswärtigen Verhältnisse und von ingrimmigem Haß gegen die Franzosen und einem lebhaften Gefühl seiner Lehnspflicht gegenüber dem Kaiser beherrscht war, bewegte sich unter der Einwirkung seiner von Österreich beeinflußten Umgebung seine äußere Politik durchaus im Fahrwasser des Wiener Hofes, der das gutmütige Vertrauen des Königs ausbeutete. P. verpflichtete sich in den Verträgen von Wusterhausen (12. Okt. 1726) und von Berlin (23. Dez. 1728) zur Garantie der Pragmatischen Sanktion (s. d.) und unterstützte im Polnischen Erbfolgekrieg gegen sein Interesse den österreichischen Kandidaten August von Sachsen. Österreich lohnte ihm damit, daß es die jülich-bergische Erbschaft, die P. zukam und versprochen war, 1738 der Linie Pfalz-Sulzbach zusicherte. Jedoch hatte gerade dadurch König Friedrich II. (s. Friedrich 58), der nach König Friedrich Wilhelms Tode (31. Mai 1740) den Thron bestieg, vollkommen freie Hand erhalten und war auch befähigt, das Schwert, das sein Vater geschliffen, zum Ruhm und zum Vorteil seines Staates zu schwingen. Daß die Grundsätze der innern Verwaltung seines Vorgängers für P. die richtigen waren, hatte Friedrich eingesehen und behielt sie daher bei, indem er nur die Pflege der geistigen Interessen nicht versäumte, der religiösen Aufklärung und der Geistesfreiheit Bahn brach und deren Prinzipien auch dem Beamtentum einpflanzte. Auch er betrachtete sich als den obersten Verwaltungsbeamten oder Diener des Staates, fühlte sich für alles verantwortlich und behielt sich in allem die Entscheidung vor. Aber er wollte P. auch zu einer politischen Macht erheben, es zu einem wirklichen Königreich machen, was es mit 118,000 qkm und 21/2 Mill. Einw. nicht sein konnte. Er war daher entschlossen, alle seine Rechte und Ansprüche auf Gebietsvergrößerung zu wahren und die Zeitumstände klug zu benutzen. Berg wollte er sich keinesfalls entreißen lassen und traf alle Vorkehrungen, sich seinen Besitz zu sichern, als der Tod des letzten Habsburgers, Karls VI. (20. Okt. 1740), seine Blicke auf Schlesien lenkte, auf das sein Haus ein (freilich nicht unanfechtbares) altes Recht hatte. Um die Erbschaft der deutschen Habsburger mußte ein allgemeiner europäischer Krieg entbrennen; Friedrich beschloß, seine Militärmacht, die er auf 100,000 Mann erhöhte, zur Erwerbung Schlesiens zu verwenden. Nachdem seine Anerbietungen, gegen die Abtretung eines Teils von Schlesien die Thronfolge Maria Theresias zu verteidigen, schroff abgewiesen worden waren, begann er den Krieg. Der erste Schlesische Krieg (1740 bis 1742, s. Schlesische Kriege 1) zeigte der erstaunten Welt nicht bloß die Kriegstüchtigkeit der bisher oft verspotteten preußischen Armee, sondern verschaffte P. durch die Siege bei Mollwitz (10. April 1741) und Chotusitz (17. Mai 1742) in kurzer Zeit den Besitz von Schlesien und Glatz (im Berliner Frieden 28. Juli 1742). Aber bereits 1744 war Friedrich genötigt, um diese Erwerbung zu sichern, den zweiten Schlesischen Krieg (174445, s. Schlesische Kriege 2) zu beginnen, in dem er anfangs in nicht geringe Bedrängnis geriet, aus der ihn aber der überaus glückliche Feldzug von 1745 mit den Siegen zu Hohenfriedeberg (4. Juni), Soor (30. Sept.) und Kesselsdorf (15. Dez.) befreite. Im Frieden von Dresden (25. Dez. 1745) begnügte er sich mit der Behauptung von Schlesien.[319]
Das kühne Auftreten und das Glück des Königs erregten den Neid der alten Mächte und den Gedanken an eine gemeinsame Aktion, um ihn zu unterdrücken. Der König begann den Siebenjährigen Krieg (s. d.), um die gefürchtete europäische Koalition durch rasche Niederwerfung des Hauptfeindes Österreich im Keim zu ersticken. Da ihm dies aber weder 1756 noch Anfang 1757 gelang, bewirkte er gerade das Zustandekommen des großen, zu seiner Vernichtung gestifteten Bundes, gegen den er sich in langem verzweiflungsvollen Ringen nur eben behauptete. P. erhielt für die ungeheuern Opfer an Geld und Menschen, die es in diesem Kriege gebracht, im Hubertusburger Frieden (15. Febr. 1763) nicht die geringste Entschädigung, der Gewinn langer Friedensarbeit war wieder zerstört; nur das Staatsgebiet wurde erhalten, aber neuer Kriegsruhm erworben. Nicht bloß die Offiziere und Soldaten waren jetzt stolz darauf, an dem Ruhm dieser Kriege einigen Anteil zu haben, auch die übrigen Bewohner Preußens rühmten sich, Untertanen eines Königs und Glieder eines Volkes zu sein, das sich gegen fast ganz Europa mit Erfolg verteidigt hatte. Ja, das ganze deutsche Volk nahm an diesem nationalen Aufschwung teil, die Protestanten ganz Europas sahen in Friedrich den Vorkämpfer evangelischer Freiheit. Durch die Taten seines großen Königs und seines tapfern Heeres wurde P. eine europäische Großmacht.
Die Verschärfung des Gegensatzes zu Österreich beengte allerdings die Aktionsfreiheit beider deutschen Großmächte und zwang P. zur Anlehnung an Rußland. Vorübergehend bewirkte zwar die polnische Frage eine Annäherung zwischen P. und Österreich, um die Eroberungsgier Rußlands in Polen und der Türkei zu beschränken. Durch die erste polnische Teilung (1772) erwarb P. das 1466 von den Polen dem deutschen Ordensstaat entrissene Westpreußen zurück, das Ostpreußen mit dem Hauptland in Verbindung setzte, sowie den Netzedistrikt (35,500 qkm mit 900,000 Einw.). Schon der Bayrische Erbfolgekrieg (177879, s. d.) brachte die Nebenbuhlerschaft Preußens und Österreichs in Deutschland zum offenen Ausbruch, und indem sich Friedrich II. 1785 an die Spitze des deutschen Fürstenbundes stellte, um die Eroberungs- und Machterweiterungsgelüste Josephs II. im Reich zu vereiteln, zeichnete er der Politik seines Staates den Weg vor, um zur Führerschaft des deutschen Volkes vorzuschreiten. Der ungeheure Fortschritt Preußens in der Entwickelung seiner äußern Macht infolge seiner zielbewußten Politik seit 1740 war offenkundig: damals ein deutscher Territorialstaat, der den Druck des kaiserlichen Hofes empfindlich fühlte, ohne sich ihm entziehen zu können, war P. jetzt eine europäische Großmacht von fast 200,000 qkm und beinahe 6 Mill. Einw. mit einem Heer von 200,000 Mann, das als das beste der Welt galt, einem jährlichen Einkommen von 22 Mill. Tlr. und einem Staatsschatz von 55 Mill. Tlr., allgemein gefürchtet und gesucht, aber auch in gewissem Maße sich seiner höhern Aufgabe bewußt, Deutschland als Kern seiner politischen Neugestaltung zu dienen.
Auch im Innern erzielte die 46jährige Regierung des großen Königs trotz der Wunden des Siebenjährigen Krieges erhebliche Fortschritte. Unermüdlich war er darauf bedacht, die materielle Kultur zu heben durch Verbreitung nützlicher Kulturgewächse, Anpflanzung von Obstbäumen an den Kunststraßen und Entwässerung von Sümpfen und Mooren. Die Entwässerung des Oderbruchs durch Verlegung des Flußlaufs, Eindeichung und Bau eines Binnenkanalsystems, die 174763: 600,000 Tlr. Kosten verursachte, erschloß 225,000 Morgen kulturfähiges Land. Ganz ähnlich stand es mit dem Warthe- und Netzebruch seit 1765. 800 Ortschaften legte der König im ganzen neu an und zog zahlreiche Einwanderer aus allen Teilen Deutschlands in sein Land, die sich in wesentlich günstigerer Lage befanden, als die alt ansässigen Bauern und damit mittelbar zur Hebung des gesamten Bauernstandes beigetragen haben. Auch Industrie und Handel wurden bedeutend gefördert; der König selbst legte Fabriken an, um neue Industriezweige heimisch zu machen, veranlaßte und unterstützte die Anlage andrer; so wurden die Zuckersiederei, Papierfabrikation, Porzellanmanufaktur, Kattundruckerei, Baumwollspinnerei und -Weberei u. a. in P. eingeführt. Der Handel wurde durch Kanalbau erleichtert, wenn auch das Merkantilsystem angesichts der geographischen Lage Preußens sowie die hohen Akzisen, namentlich die Regie, die nach dem Siebenjährigen Krieg eingeführt wurden, den Verkehr lähmten. Der Wert der industriellen Produktion in P. betrug 1785: 301/2 Mill. Tlr. Auch in geistiger Beziehung erzielte Friedrich nur mittelbare Resultate trotz seiner rastlosen Fürsorge. Das Schulwesen konnte aus Rücksicht auf die Finanzen erst in seinen letzten Jahren wesentlich unterstützt werden, noch weniger die höhere wissenschaftliche und künstlerische Tätigkeit. Indes das persönliche Beispiel des Königs, Erlasse und mündliche Äußerungen trugen wesentlich dazu bei, das Volk geistig zu befreien und unter den höhern Klassen der Gesellschaft geistige Aufklärung zu verbreiten. Der Geist der Unabhängigkeit, des selbständigen Denkens wurde besonders dem Richterstand eingepflanzt, und die Rechtspflege erhielt durch das preußische Landrecht eine gesunde Grundlage.
Als Friedrich d. Gr. 17. Aug. 1786 starb, hatte der preußische Staat 73 Jahre lang (171386) unter Monarchen gestanden, die, mit einem genialen Verwaltungstalent begabt und unermüdlich tätig, die Regierung ganz in ihrer Hand vereinigt und sie nach ihrem unumschränkten Willen geleitet hatten. Unbedingter Gehorsam war die Pflicht jedes Staatsbürgers gewesen: er hatte die Befehle und Maßregeln der Regierung als Ausflüsse einer höhern Intelligenz anzusehen und sich ihnen völlig zu unterwerfen. Auch den höhern Beamten war nur eine durch feste Normen beschränkte Selbständigkeit im einzelnen gelassen worden. In P. selbst hatte man zuletzt diese Bevormundung der Regierung unangenehm empfunden; ja die Mißstimmung gegen die Regie war so groß, daß selbst Friedrich zuletzt unpopulär wurde. Der Staat konnte sich unter diesen Verhältnissen nur weiter entwickeln, wenn der Nachfolger Friedrichs ein Mann von ebensolcher geistiger Überlegenheit und Tatkraft war, wenn der Bürger- und Bauernstand aus den Fesseln des Zunftzwanges und der Erbuntertänigkeit befreit, das Volk zur Teilnahme an den öffentlichen Dingen herangezogen und dadurch seine Leistungsfähigkeit wie sein Interesse am Staate gesteigert wurde. Daß weder das eine noch das andre geschah, war die Ursache, daß der scheinbar so festgefugte, gesunde Staatsorganismus Friedrichs d. Gr. schon 20 Jahre nach seinem Tode zusammenbrach.
Friedrich Wilhelm II. (s. Friedrich 59), bei seinem Regierungsantritt bereits 42 Jahre alt, gutherzig und wohlwollend, aber charakterschwach, sinnlich und zu mystischen Schwärmereien geneigt, glaubte, im Besitz[320] eines großen Staatsschatzes und eines für unbesiegbar geltenden Heeres, alles wagen zu können. Er hob die verhaßte Regie auf, sorgte aber nicht für einen Ersatz des Ausfalls an Einkünften. Sein verschwenderischer Hof verschlang ungeheure Summen. An die Stelle der Selbstregierung seiner Vorgänger trat eine Kabinettsregierung, die den König von den Ministern abschloß und ihn dem Einfluß unwürdiger Günstlinge, wie Wöllner (s. d.), preisgab. Lähmend auf das geistige Leben wirkten das Religionsedikt vom 9. Juli 1788 und das Zensuredikt vom 19. Dez. Der Feldzug gegen die Niederlande (s. d., S. 645) 1787 wegen der Beleidigung der Prinzessin von Oranien, einer Schwester des Königs, kostete P. viele Millionen und steigerte den Dünkel der Offiziere. Das 1790 begonnene Unternehmen, während Rußland und Österreich in den türkischen Krieg verwickelt waren, P. an die Spitze der vereinigten Mächte Mitteleuropas zu stellen und ihm so eine schiedsrichterliche Herrschaft zu verschaffen, brachte nach den kostspieligsten Rüstungen der König selbst zum Scheitern, indem er aus unzeitiger und kurzsichtiger Großmut den Vertrag von Reichenbach (27. Juli 1790) abschloß, der Österreich von dem unheilvollen Türkenkrieg befreite; er zeigte dadurch der Welt, daß er die herrschende Stellung Preußens nicht behaupten könne. Der Fürstenbund löste sich infolgedessen auf.
Gewohnt, seinen persönlichen Gefühlen das Wohl des Staates zu opfern, warf sich der König nach Ausbruch der französischen Revolution zum Verteidiger des legitimen Königtums von Gottes Gnaden auf, um Ludwig XVI. aus der Hand des Pariser Pöbels zu befreien, schloß mit Österreich 1792 den Pillnitzer Vertrag und begleitete selbst die Armee auf dem Feldzug in die Champagne; trotz der militärischen Schwäche Frankreichs endete dieser mit der erfolglosen Kanonade von Valmy und dem verlustreichen Rückzug über den Rhein. 1793 schloß sich der König noch der ersten Koalition an und eroberte Mainz. Dann aber wendete er sein Augenmerk Polen zu, wo, unterstützt durch die schwankende Haltung Preußens, Rußland durch die Targowitzer Konföderation (14. Mai 1792) die neue Verfassung umstieß und durch Besetzung des ganzen Landes mit seinen Truppen dessen Einverleibung vorbereitete, und schloß, um dies zu verhindern, 23. Jan. 1793 einen zweiten Teilungsvertrag mit Rußland, in dem P. Danzig, Thorn und Großpolen (Südpreußen), 57,000 qkm mit 1,100,000 Einw., und damit eine vortreffliche Abrundung seiner Ostgrenze gewann. Da Österreich hierbei leer ausging, wuchs die Eifersucht zwischen beiden deutschen Mächten und lähmte ihre kriegerische Aktion gegen Frankreich. Daher beutete die preußische Armee ihre Siege bei Pirmasens (14. Sept. 1793) und Kaiserslautern (28.30. Nov.) nicht zu einem Einfall in Frankreich aus. Aber auch zum Rücktritt von der Koalition konnte sich Friedrich Wilhelm nicht entschließen, obwohl die Finanzen Preußens bereits völlig erschöpft waren, und schloß lieber den Haager Vertrag (19. April 1794) mit den Seemächten, durch den er ein Heer von 64,000 Mann an diese vermietete, denen auch die etwaigen Eroberungen gehören sollten. Dies Heer schlug die Franzosen zweimal bei Kaiserslautern (23. Mai und 18.20. Sept.), drang aber nicht in Feindesland ein, da P. gleichzeitig durch den polnischen Aufstand von 1794 im Osten in einen Krieg verwickelt wurde. Die preußische Armee unter dem König selbst eroberte Krakau, belagerte aber Warschau vergeblich. Indem es erst den Russen gelang, den Aufstand niederzuschlagen, fiel diesen die Entscheidung über die letzte Teilung zu, und diese wurde im Vertrag zwischen Rußland und Österreich (3. Jan. 1795) so geregelt, daß P. nur Masovien, Warschau und Bialystok (Neuostpreußen), 47,000 qkm mit 1 Mill. Einw., bekam; am 24. Okt. 1795 unterzeichnete es den dritten Teilungsvertrag. Schon vorher hatte sich P. durch den Frieden von Basel (5. April 1795) von dem Kriege gegen Frankreich und durch eine Demarkationslinie die Neutralität Norddeutschlands gesichert. Da 1791 auch Ansbach und Bayreuth mit P. vereinigt worden waren, so war das Staatsgebiet zwar auf 300,000 qkm mit 8,700,000 Einwohnern erweitert, aber das Ansehen Preußens war sehr gesunken, das Heer verwahrlost und die Organisation der Staatsverwaltung nicht der ungeheuern Vergrößerung des Gebietes entsprechend fortgeschritten. Die Finanzen befanden sich in völliger Verwirrung, und der Staat war mit 48 Mill. Talern Schulden belastet; die Bevölkerung stand der Regierung gleichgültig gegenüber, und die Gebildeten neigten größtenteils einem kosmopolitischen Humanismus zu. So hinterließ Friedrich Wilhelm II. P. bei seinem Tode (16. Nov. 1797).
Sein Nachfolger Friedrich Wilhelm III. (1797 bis 1840, s. Friedrich 60) besaß zwar die Tugenden eines Privatmannes, aber nicht die Eigenschaften eines Herrschers. Ihm fehlten die Einsicht in die Schwächen des Staatsorganismus sowie das Selbstvertrauen und die Energie zu einer gründlichen Änderung des Regierungssystems im Innern und zu einer kräftigen auswärtigen Politik. Er beseitigte zwar einige der schreiendsten Mißstände und setzte durch Sparsamkeit das Finanzwesen allmählich in bessern Stand, hob auch das Religionsedikt auf, aber am Heerwesen wurde trotz der Mahnungen verschiedener Offiziere nichts geändert, die auswärtige Politik blieb in den Händen von Haugwitz (s. d.), Lombard (s. d.) u. a., die Napoleon als den Bezwinger der Revolution begrüßten und die Politik der tatlosen Neutralität dem König als höchste Weisheit anpriesen. Dieser ging um so eher darauf ein, als diese Ratschläge seiner schüchternen Natur am meisten zusagten. Frankreich schmeichelte von Zeit zu Zeit den preußischen Staatslenkern und gewährte P zum Lohn für seine Fügsamkeit im Reichsdeputationshauptschluß (1803) eine beträchtliche Vergrößerung als Ersatz für die Abtretungen auf dem linken Rheinufer: die Stifter Paderborn und Hildesheim, den größten Teil von Münster, Erfurt und das Eichsfeld, die Reichsstädte Nordhausen, Mühlhausen, Goslar u. a., zusammen 9500 qkm mit 1/2 Mill. Einwohnern.
Selbst die Besetzung Hannovers durch französische Truppen (1803), die sich so inmitten der preußischen Staaten festsetzten, veranlaßte P. nicht zur Aufgabe seiner Neutralität. Als sich 1805 die dritte Koalition bildete, ermannte es sich nur zu einem Vermittelungsversuch, den überdies Haugwitz ungeschickt und leichtsinnig ins Werk setzte: er ließ sich bis nach Napoleons Sieg bei Austerlitz (2. Dez.) durch leere Verhandlungen hinhalten und schloß dann 15. Dez. den schimpflichen Vertrag von Schönbrunn, indem P. Ansbach, Kleve und Neuenburg abtrat und das dem befreundeten England gehörige Hannover annahm. Das Zaudern, diesen Vertrag zu bestätigen, hatte nur den noch schmählichern Allianzvertrag vom 15. Febr. 1806 zur Folge und raubte P. bei Napoleon den letzten Rest von Achtung. Dieser, von keinem andern Feind[321] bedroht, suchte jetzt den Krieg mit P., hetzte heimlich Hessen und Sachsen gegen die P. zugestandene Gründung eines norddeutschen Bundes auf und bot England Hannover, Rußland Preußisch-Polen als Preis eines Friedens an. So mußte dieses endlich unter den ungünstigsten Umständen zum Schwertgreifen (Preußisch-französischer Krieg). Das Heer war in einem bedenklichen Zustande: die höhern Offiziere zum größern Teil alt und unfähig, zudem über die Schäden im Heerwesen nicht unterrichtet; Verpflegung, Kleidung und Bewaffnung der Soldaten war höchst mangelhaft; die Kriegskunst war noch die Friedrichs d. Gr. Dazu fehlte es an Geld; zum erstenmal wurde in P. 4. Febr. 1806 Papiergeld, die Tresorscheine (s. d.), ausgegeben. Auf Bundesgenossen konnte P. nach der eignen frühern Haltung nicht rechnen, nur Sachsen stellte 20,000 Mann, Rußland versprach Hilfe.
Im September sammelte sich das preußische Heer, im ganzen 130,000 Mann, in Thüringen um Erfurt; am 7. Okt. wies Napoleon das preußische Ultimatum, das die Räumung Süddeutschlands forderte, zurück und drang mit überlegener Macht in das östliche Thüringen vor. Herzog Karl von Braunschweig, der, obwohl 71 Jahre alt, den Oberbefehl führte, ließ sein Heer in zwei Säulen nach Osten marschieren, um sich bei Halle mit der Reservearmee zu vereinigen. Aber noch ehe diese die Saale überschritten hatten, wurde die südliche Abteilung unter Prinz Hohenlohe, deren Vorhut unter Prinz Ludwig Ferdinand 10. Okt. bei Saalfeld vernichtet worden war, 14. Okt. bei Jena (s. d.) von Napoleon selbst angegriffen und löste sich, nach hartnäckigem Kampfe fliehend, völlig auf; die nördliche unter dem Herzog selbst erlitt an demselben Tage bei Auerstedt (s. d.) gegen Davout eine Niederlage. Die Heere gerieten auf der Flucht in Verwirrung und warfen sich zum Teil in die Festungen. Ein panischer Schrecken überfiel die erst so siegesgewissen Generale; sie gaben nicht nur die Armee, sondern auch den Staat verloren und überlieferten, jede fernere Gegenwehr für nutzlos haltend, den Franzosen die stärksten Festungen ohne Schwertstreich. Hohenlohe kapitulierte 28. Okt. mit 11,800 Mann bei Prenzlau. Der Gouverneur von Berlin, Graf Schulenburg, wies bei der Annäherung der Franzosen sogar Freiwillige für das Heer zurück und erklärte Ruhe für die erste Bürgerpflicht. Am 27. Okt. zog Napoleon in Berlin ein, wo ihm sieben Minister den Eid der Treue leisteten. Der König floh entmutigt nach Königsberg, seine einzige Hoffnung war die russische Hilfe. Diese kam, aber in ungenügender Stärke. Die Schlacht bei Eylau (7. und 8. Febr. 1807) blieb unentschieden. Während der nun folgenden Pause in den Kriegsoperationen eroberten die Franzosen 15. Mai Danzig und schlugen dann die Russen vollständig bei Preußisch-Friedland (14. Juni). Jetzt fiel Kaiser Alexander, von Napoleon durch glänzende Versprechungen gewonnen, von Friedrich Wilhelm ab, obwohl dieser aus Rücksicht auf ihn im Februar einen Separatfrieden abgelehnt hatte, und P. mußte 9. Juli 1807 den Frieden von Tilsit schließen, der ihm alles Gebiet links der Elbe sowie die Erwerbungen der zweiten und dritten polnischen Teilung entriß und ihm bis zur Bezahlung der unerschwinglichen Kriegskontributionen die Besetzung seines Gebietes sowie das Kontinentalsystem auferlegte. Von 314,000 qkm mit 9,750,000 Einw. behielt es bloß 158,000 qkm mit 4,940,000 Einw. Es schien als Großmacht für immer vernichtet und sein fernerer Bestand ganz von Napoleons Willen abhängig zu sein.
Der Sturz der Monarchie Friedrichs d. Gr. war so jäh und gewaltig, daß auch die Regierenden sich von der Notwendigkeit, das Regierungssystem zu ändern, überzeugten, und die Leiden und die Schmach, die Napoleon auf P. häufte, waren so übermäßig, daß nicht bloß die preußischen Patrioten, sondern auch die bisher gleichgültigsten Einwohner aufgerüttelt wurden, daß Bauern, Handwerker und Gewerbtreibende, die gebildeten Stände und der Adel in der Befreiung des nun erst geschätzten Vaterlandes vom fremden Joch und in der Wiederherstellung eines unabhängigen preußischen Staates die einzige Rettung erblickten. Das Heilmittel war furchtbar, um so gründlicher aber die Heilung. Der König, der früher alle Warnungen und besonders die Forderung, die Kabinettsregierung zu beseitigen, ärgerlich zurückgewiesen hatte, war jetzt unter dem Einfluß seiner edlen Gemahlin, der Königin Luise, bereit, das Staatswesen durch Reformen von Grund aus umzugestalten, den absolutistisch-feudalen Militärstaat in ein freies Gemeinwesen, eine durch die Selbstregierung der Gemeinden und Provinzen getragene Monarchie zu verwandeln. Behufs Durchführung dieser Ideen wurde der Minister vom Stein (s. d.) 4. Okt. 1807 an die Spitze der ganzen Zivilverwaltung gestellt. Die Kabinettsregierung wurde abgeschafft und Männer wie v. Schön (s. d.), v. Vincke (s. d.), Stägemann (s. d.), Niebuhr (s. d. 2), v. Klewitz u. a. in die höchsten Ämter berufen. Bereits 9. Okt. erschien das »Edikt über den erleichterten Besitz und den freien Gebrauch des Grundeigentums«, wodurch die freie Veräußerung des Grundbesitzes gestattet und die Erbuntertänigkeit des Bauernstandes aufgehoben wurde. Ein Erlaß des Königs vom 27. Juli 1808 verlieh allen landwirtschaftlichen, bisher gutsuntertänigen Arbeitern auf den Domänen in der Provinz P. ihre Grundstücke als volles freies Erbeigentum. Viele Domänen wurden verkauft, um die Finanzen des Staates aufzubessern, wodurch ebenfalls eine größere Zahl kleiner Hofbesitzer geschaffen wurde. Die Städte erhielten durch die Städteordnung vom 19. Nov. 1808 Selbstverwaltung, eine Gemeindeordnung ward in Aussicht gestellt, mancher Zunftzwang beseitigt, eine neue Verwaltungsorganisation 21. Nov. 1808 eingeführt. Gegen die Offiziere, denen die Schuld an der Niederlage von 1806 beigemessen wurde, ging der König mit unnachsichtlicher Strenge vor. Die Krönung des Gebäudes sollte eine Volksvertretung bilden. Eine am 25. Juli 1807 eingesetzte Militärorganisationskommission, aus Scharnhorst (s. d.), Gneisenau (s. d.), Grolman (s. d. 2) und Boyen (s. d.) bestehend, reinigte den Offizierstand von allen unwürdigen Elementen, erließ neue Kriegsartikel sowie ein neues Reglement über die Ergänzung des Offizierstandes und organisierte die Ausrüstung, das Exerzitium und die Rekrutierung des Heeres, das fortan nur aus Landeskindern bestehen sollte.
Zugleich trat in den gebildeten Kreisen ein wichtiger Meinungsumschwung ein. Deutscher und preußischer Patriotismus wurden nicht mehr als engherzige, beschränkte Ansichten verlacht; die edelsten Geister, wie Fichte und Schleiermacher, suchten die Liebe zum Vaterland zu erwecken. Das nationale Pathos der Schillerschen Dichtungen teilte sich immer weitern Kreisen des Volkes mit, die neue Berliner Universität sollte ein Mittelpunkt der nationalen geistigen Bestrebungen werden. Ein sittlich-wissenschaftlicher Verein, der »Tugendbund«, vereinigte in Königsberg die bedeutendsten[322] Männer zu gemeinschaftlichem patriotischen Streben. Die Führer der preußischen Reformpartei bereiteten alles auf eine baldige Erhebung vor, die Ereignisse in Spanien und die Rüstungen Österreichs ermutigten zu dem entscheidenden Schritt; nur der König zauderte. Der Verrat des Steinschen Briefes an Wittgenstein gab Napoleon den erwünschten Anlaß, vom König Steins Entlassung zu fordern und P. durch den demütigenden Vertrag vom 8. Sept. 1808 eine neue Kontribution von 140 Mill. Frank auszulegen und ihm zu verbieten, mehr als 42,000 Mann Soldaten zu halten. Nach Steins Entlassung (24. Nov.) bekam die Junkerpartei und die französisch gesinnten Friedensfreunde, ein Marwitz (s. d.), Köckeritz, Kalckreuth (s. d. 1) u. a., die Oberhand am Hof; P. nahm aus Rücksicht auf Rußland an der glorreichen Erhebung Österreichs 1809 keinen Anteil; das Ministerium Altenstein führte die Verwaltung ohne Plan und Ziel, der Tugendbund wurde aufgelöst, und mit der Rückkehr des Königs nach Berlin inmitten französischer Besatzungen schien die geduldige Unterwerfung unter das verhängte Schicksal ausgesprochen zu sein. Erst als Altenstein mit den Finanzen nicht fertig werden konnte und sogar den Verkauf eines Teils von Schlesien empfahl, wurde er entlassen (6. Juni 1810) und Hardenberg (s. d. 3) als Staatskanzler mit der obersten Leitung sämtlicher Staatsangelegenheiten betraut, die er im Geiste Steins fortführte. Die Aufhebung aller Steuerbefreiungen (27. Okt. 1810), die Einführung der Gewerbefreiheit, die Einziehung aller Klöster und geistlichen Stifter folgten rasch auseinander; am 14. Sept. 1811 wurde das Edikt über die Regelung der gutsherrlichen und bäuerlichen Verhältnisse erlassen, durch das die Bauern, die nun Fron- und Handdienste ablösen konnten, überall freie Verfügung über ihr Grundeigentum erhielten, 11. März 1812 die Juden in staatlichen Rechten und Pflichten den Christen fast gleichgestellt. Eine konstitutionelle Verfassung indes konnte auch Hardenberg nicht durchsetzen; denn selbst bei den Notabeln, die er 1811 mehrere Male versammelte, um sie über die Reformen aufzuklären, fand er kein Verständnis für seine Pläne. Die Handelssperre, die ungeheuern Kriegslasten und die Finanznot des Staates lähmten allerdings vielfach die wohltätigen Wirkungen der Stein-Hardenbergschen Reformen. Um so mehr wuchs der Haß gegen die Fremdherrschaft, die Sehnsucht nach Befreiung. Aus dieser Stimmung gingen die außerordentlichen, bewunderungswürdigen Leistungen aller Schichten des preußischen Volkes im Deutschen Befreiungskriege (s. d., Bd. 4) hervor, der die Schmach von 1806 glänzend tilgte.
Die Opfer, die der seit 1806 durch den unglücklichen Krieg und die folgende französische Aussaugung erschöpfte Staat in dem neuen Krieg an Menschen (140,000) und an Geld brachte, waren ungeheuer. Der Lohn, der ihm auf dem Wiener Kongreß zuteil wurde, entsprach diesen Opfern nicht: P. wurde nicht in dem Umfang von 1806 wiederhergestellt; statt 314,000 qkm zählte es 1815 nur 277,000 qkm. Die Erwerbungen der dritten polnischen Teilung trat es an Rußland, Ansbach und Bayreuth an Bayern, Ostfriesland, Hildesheim und Goslar an Hannover ab. Von Sachsen erhielt es bloß die Hälfte. Wertvoll waren der Gewinn Neuvorpommerns und die Abrundung Westfalens, während die neuerworbene Rheinprovinz aus so heterogenen und Deutschland so lange entfremdeten Gebieten bestand, daß ihre Verschmelzung mit den übrigen Teilen des Staates Schwierigkeiten bereitete. Der neue Staat war überdies in zwei ungleiche Hälften zerteilt, mit Absicht das England gehörige Hannover dazwischen geschoben und diesem Mittelstaate die Mündungen der Elbe und Weser gegeben worden. Die Eifersucht der verbündeten Mächte bewirkte, daß P. die ihm gebührende Stellung in Deutschland nicht erhielt und auf allen Seiten von unbequemen Nachbarn beengt wurde: im S. von Österreich, im O. von Rußland, im W. von Frankreich und dem neugeschaffenen Königreich der Niederlande. Die Lage zwang P. zum Zusammengehen mit dem übrigen Deutschland und damit zu einer wirklich deutschen Politik.
Nicht weniger schwierig war nach dem Kriege die Lage Preußens im Innern. Die alten und neuen Gebietsteile wurden durch Verordnung vom 20. April 1814 in zehn, später in acht Provinzen, jede Provinz in Regierungsbezirke, diese in landrätliche Kreise eingeteilt, von denen nur die größern Städte ausgenommen waren. An der Spitze eines Bezirks stand eine kollegialisch organisierte Regierung, diese unter dem Oberpräsidenten der Provinz, die Oberpräsidenten unter dem Ministerium, dessen Oberleitung der Staatskanzler hatte. Am 20. März 1817 wurde ein Staatsrat aus den königlichen Prinzen, den höchsten Staatsdienern und einigen aus besonderm Vertrauen des Königs berufenen Männern gebildet, der über die obersten Grundsätze der Verwaltung und über neue Gesetze zu beraten hatte. Die neue Verwaltung sollte einmal die neuen Provinzen auf preußische Weise einrichten und dann die zerrütteten Finanzen ordnen. Das erstere griff das preußische Beamtentum mit unermüdlicher Tatkraft und Energie an, stieß dabei aber bei der Bevölkerung, namentlich der rheinischen, vielfach auf hartnäckiges Mißtrauen, zumal sowohl die neuen Steuern als namentlich die allgemeine Wehrpflicht und die Landwehrorganisation, die ein Gesetz vom 3. Sept. 1814 einführte, unbequem und die Bewohner der ehemaligen geistlichen Territorien eine starke, aber auch fürsorgliche Regierung nicht gewohnt waren. Dennoch wurde die Einordnung der neuen Gebiete in das preußische Staatswesen rasch erreicht. Ebenso wurden die Finanzen bald in Ordnung gebracht. Obwohl die Schuldenlast des Staates 200 Mill. Tlr. betrug, P. nur 40 Mill. aus der französischen Kriegsentschädigung erhielt, davon noch für neue Erwerbungen, wie Schwedisch-Pommern, erhebliche Summen bezahlen, Kriegsentschädigungen leisten, die zerstörten Festungen wiederherstellen, Kriegsvorräte und -Ausrüstung ergänzen und dabei die Steuerkraft des erschöpften Landes schonen mußte: so waren doch bereits 1820 die Finanzen des Staates geregelt. Der König trat die Krondomänen dem Staat ab, indem er sich bloß eine Rente von 21/2 Mill. Tlr. (den sogen. Kronsideikommißfonds) vorbehielt. Das Budget ward 30. Mai 1820 auf ein Maximum von 50,363,150 Tlr. jährlich festgesetzt, zur Verzinsung und Tilgung der noch 180 Mill. Tlr. betragenden Schulden jährlich 10 Mill. bestimmt und verordnet, daß ohne Bewilligung und Garantie der künftigen Reichsstände keine neue Anleihe aufgenommen werden dürfe. In allen Zweigen der Verwaltung, auch im Heerwesen, wurde die genaueste Sparsamkeit zur strengsten Pflicht gemacht. Das Steuerwesen wurde 1818 einer gründlichen Reform unterzogen: die Torakzise wurde nur für Salz, Tabak, Bier und Branntwein beibehalten und statt der aufgehobenen Akzise in 126 größern Städten die Mahl- und Schlachtsteuer, von der den[323] Städten ein Drittel als Anteil zufiel, in den kleinern Städten und auf dem flachen Lande die Klassensteuer eingeführt. Das Grenzzollsystem erhielt 26. Mai 1818 Gesetzeskraft, und durch Vereinbarungen mit den benachbarten deutschen Staaten wurde das Zollgebiet abgerundet und erweitert, woraus der für die deutsche Politik Preußens so wichtige Deutsche Zollverein (1. Jan. 1834) hervorging.
Eine eifrige und erfolgreiche Tätigkeit widmete das zum großen Teil vom Geiste der Kantschen Philosophie erfüllte Beamtentum der geistigen Entwickelung des Volkes, dem öffentlichen Unterricht. 1817 erstand ein besonderes Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten, und Altenstein bewährte sich als aufgeklärter und einsichtsvoller Unterrichtsminister. Die Universitäten wurden um Bonn vermehrt und neu organisiert, das höhere Schulwesen durch strenge Prüfungsvorschriften wesentlich gehoben, 40 Gymnasien neu errichtet, und das Volksschulwesen erhielt durch Einführung der allgemeinen Schulpflicht eine feste Grundlage. Durch diese stille Arbeit errang die preußische Regierung unter Friedrich Wilhelm III. von 181440 große und dauernde Erfolge. Wenn sie nicht die verdiente Anerkennung fanden, wenn sich trotzdem die Volksstimmung in den neuen Provinzen ablehnend verhielt, aber auch in Altpreußen sich Unzufriedenheit und Mißmut regten, so lag das an dem Verhalten der Regierung in der Verfassungsfrage, in der auswärtigen Politik und in den kirchlichen Angelegenheiten.
Als Friedrich Wilhelm III. das preußische Volk zum zweitenmal zum Kampf gegen Napoleon ausrief, erließ er vom Wiener Kongreß aus auf Steins und Hardenbergs Rat 22. Mai 1815 eine Verordnung, in der er ihm als Pfand seines Vertrauens eine Repräsentativverfassung versprach. Eine Kommission begann 1. Sept. die Bearbeitung einer Verfassungsurkunde; auch setzte die preußische Diplomatie die Aufnahme des Artikels 13 in die deutsche Bundesakte durch, der allen deutschen Bundesstaaten ständische Verfassungen verhieß. Aber selbst die Anhänger der Verfassung, wie Stein, Humboldt, Gneisenau u. a., waren sich über die Grundzüge einer solchen nicht einig und hatte eine Menge Gegner. Manche fürchteten in aufrichtiger Fürsorge für das Wohl des Staates von der Sondersucht und den fremdartigen politischen Anschauungen der Abgeordneten mis den neuen Provinzen die bedenklichsten Folgen für die Einheit Preußens; andre, wie Wittgenstein, Knesebeck, Bülow, waren, in Standesinteressen befangen, grundsätzlich jeder Neuerung feind.
Friedrich Wilhelm III. beugte sich diesen Einwirkungen um so lieber, als er selbst dem konstitutionellen Wesen, hinsichtlich dessen Gestalt sich die Vertreter der liberalen Forderungen nicht im mindesten klar waren, abhold, seine absolute Gewalt zwar durch selbst gegebene Gesetze, aber nicht durch eine öffentliche Versammlung beschränkt wissen wollte. Er hatte allerdings sein Wort verpfändet, sich aber zu keinem Termin verpflichtet, und das ihm lästige Drängen Hardenbergs trieb ihn erst recht in die Arme der Reaktionäre, die im Januar 1816 die Unterdrückung von Görres' »Rheinischem Merkur« und die Aufhebung des Tugendbundes durchsetzten, während Kundgebungen der politisch fortschrittlich gesinnten Jugend, wie das Wartburgfest 1817, und Ausschreitungen, wie die Ermordung Kotzebues (s. Sand) und Lönings Attentat auf Ibell (s. d.) 1819, gegen politische Zugeständnisse sprachen. Die Demagogenverfolgung (s. Demagog) wurde nun im Verein mit Österreich ins Werk gesetzt, Männer wie Jahn, Arndt und Welcker verhaftet, Gneisenau und Schleiermacher von Spionen umgeben, jede Äußerung einer konstitutionellen Gesinnung als Majestätsverbrechen mit Strafe bedroht und die Karlsbader Beschlüsse (s. d.) 18. Okt. 1819 verkündet. Boyen, Grolman, Humboldt und Beyme nahmen ihren Abschied; die Gemeindeordnung, die bereits vollendet war, wurde zurückgenommen; von einer konstitutionellen Verfassung war keine Rede mehr; statt ihrer wurden durch Gesetz vom 5. Juni 1823 Provinzialstände eingeführt. Kleinliche Polizeimaßregeln machten die Regierung verhaßt; die Masse des Volkes, besonders in den östlichen Provinzen, wurde zwar von diesen Vorgängen wenig berührt, da sie durch die Sorge für ihren materiellen Wohlstand in Anspruch genommen war, aber um so mehr waren die gebildeten Stände verletzt und erbittert. Die Anerkennung und Liebe, die sich P. durch seine Opfer und Taten bei der Befreiung des deutschen Volkes allgemein erworben hatte, verloren sich infolge des Verhaltens der Regierung.
In seiner auswärtigen Politik hatte sich Friedrich Wilhelm III. durch die Heilige Allianz (26. Sept. 1815) ganz an Rußland und Österreich gebunden. P. beteiligte sich auf den Kongressen von Aachen, Troppau, Laibach und Verona an allen Maßregeln zur Unterdrückung jeder freiern Bewegung in Europa, ohne jedoch eine maßgebende Rolle zu spielen. Die Erschöpfung des Landes gebot zwar eine friedfertige Politik, aber die völlige Unselbständigkeit, die P. zur Schau trug (denn von dem verständigen und erfolgreichen Eingreifen Preußens in die orientalische Krisis 182829 und der beschwichtigenden Rolle, die es in der belgischen Frage 183132 spielte, erfuhr das Publikum nichts), die Nachgiebigkeit gegenüber Rußland und Metternich verstimmte alle, die Preußens Großmachtstellung hatten erkämpfen helfen.
Auch die kirchlichen Verhältnisse erforderten dringend eine Neuordnung, und der König hatte ursprünglich die besten Absichten. Die Einführung der Union bei der dritten Säkularfeier der Reformation 1817, wodurch die lutherische und die reformierte Kirche in P. als »evangelische Kirche« vereinigt wurden, sollte den konfessionellen Frieden befördern. 1821 wurden die Namen Protestanten und Protestantismus in öffentlichen Schriften verboten, 1824 den evangelischen Gemeinden eine vom König selbst aus gearbeitete Agende aufgedrungen und Widerstand dagegen mit Gewalt unterdrückt. Die Protestanten hießen fortan »Altlutheraner« und verloren 1834 das Recht, eine anerkannte Religionsgesellschaft zu bilden; der Anschluß an die Union galt als Untertanenpflicht. Weil die Mehrheit der evangelischen Bevölkerung dieses Verfahren mißbilligte, fand auch das Einschreiten der Regierung gegen die Widerspenstigkeit des katholischen Klerus keine Anerkennung, als sie wegen der Weigerung, gemischte Ehen, deren Kinder nicht katholisch erzogen würden, einsegnen zu lassen, 1837 den Erzbischof von Köln, Droste zu Vischering (s. d.), und 1839 den Erzbischof Dunin (s. d.) von Posen auf die Festung bringen ließ; dies erschien als ungerechtfertigte Willkür. Seit der Julirevolution und der neuen Demagogenverfolgung wuchs der allgemeine Mißmut; in der Literatur wurde trotz der Zensur die Opposition schärfer, und als der seiner Privattugenden wegen beliebte König 7. Juni 1840 starb und sein[324] Sohn Friedrich Wilhelm IV. ihm folgte, erwartete man allgemein von diesem eine baldige und völlige Änderung des Regierungssystems.
Der neue König stand bereits im 45. Lebensjahr, war aber von großer Geistesfrische, vielseitig gebildet und besaß die Gabe schwungvoller Rede. Mit den Besten der Nation in dem Ziel, dem preußischen Volke die politische Freiheit, dem deutschen die ersehnte Einheit zu geben, einig, ernannte er Boyen zum Kriegsminister, setzte Arndt in sein Amt wieder ein, befreite Jahn sowie die Erzbischöfe von Köln und Posen und erließ eine allgemeine Amnestie (10. Aug. 1840); 1845 erhielten auch die Lutheraner das Recht, selbständige Kirchengemeinden zu gründen. Aber des Königs politisches Ideal war ein Staat, der sich auf die neuen Berufsstände stützen und durch Vereinigung der Provinziallandtage eine Repräsentativverfassung erlangen sollte. Dafür fehlte den Liberalen jedes Verständnis, und die Aufrichtigkeit der entsprechenden königlichen Äußerungen wurde allgemein bezweifelt. In der deutschen Frage träumte der König von der Möglichkeit, Österreich würde sich mit dem ehrwürdigen ererbten Kaisernamen begnügen und P. die eigentliche Leitung Deutschlands überlassen. Das entschiedene Verlangen einer Verfassung, das in Flugschriften wie der Schöns: »Woher und Wohin?« und Jacobys »Vier Fragen« ausgesprochen ward, und dem sich mehrere Provinziallandtage anschlossen, wies er als verfrüht zurück. Streng kirchlich gesinnt, berief er den strenggläubigen Eichhorn (s. d. 2) an die Spitze des Unterrichtsministeriums. Die Mission in China, die Errichtung eines evangelischen Bistums in Jerusalem, endlich das Schicksal Neuenburgs, das durch den Sonderbundskrieg berührt wurde, nahmen ihn in Anspruch, und mit Ausnahme der Pietisten und Ultramontanen waren bald alle Schichten der Bevölkerung von der neuen Regierung enttäuscht.
Unbekümmert um die öffentliche Meinung berief der König seiner eignen Idee getreu, trotz Rußlands und Österreichs Abmahnungen durch Patent vom 3. Febr. 1847 den Vereinigten Landtag, der das Petitionsrecht erhielt, einen Beirat bei der Gesetzgebung darstellte und Steuern und Anleihen bewilligen sollte. Die Zusammensetzung der zwei Kurien (Herren- und Ständekurie) war allerdings rein ständisch, wie die der Provinziallandtage, und gab dem Adel nicht bloß in der ersten, sondern auch in der zweiten Kurie das Übergewicht, In des die Hauptsache war, daß endlich eine Instanz geschaffen wurde, welche die öffentlichen Angelegenheiten frei besprechen konnte. Eine gesetzliche Entwickelung des Vereinigten Landtags zu einer wirklichen Volksvertretung wäre wohl möglich gewesen, wenn der König und die Freunde einer konstitutionellen Verfassung einander entgegengekommen wären. Der König aber enttäuschte die öffentliche Meinung durch die Rede, mit der er 11. April 1847 den Vereinigten Landtag eröffnete, und worin er erklärte, er werde nicht dulden, daß sich zwischen ihn und das Land ein beschriebenes Blatt Papier ein dränge. Demgegenüber forderte die Ständekurie den Zusammentritt des Landtags künftig aller zwei Jahre und genauere Feststellung des Bewilligungsrechts für Anleihen und Steuern. Doch diese Forderungen blieben im Landtagsabschied, der nach Schluß der Sitzungen (26. Juni) 24. Juli 1847 veröffentlicht wurde, unberücksichtigt. Die vereinigten Ausschüsse des Landtags waren noch 17. Jan. bis 6. März 1848 zur Beratung eines neuen Strafgesetzbuches versammelt.
Die allgemeine Mißstimmung steigerte noch die durch Mißernten (1847) verursachte materielle Not, besonders in Oberschlesien, und infolge der Pariser Februarrevolution 1848 kam sie zum Ausbruch. In Adressen und Deputationen wurden dem König die Forderungen des Volkes vorgetragen; in Berlin schürten Sendlinge der großen Umsturzpartei in Paris, deutsche Flüchtlinge, Franzosen u. Polen, die Volksbewegung, und stürmische Volksversammlungen fanden statt; wiederholt kam es zu blutigen Zusammenstößen mit dem Militär. Um den Sturm zu beschwichtigen, berief der König (13. März) den Landtag auf 27. April, als aber die Aufregung, namentlich seit dem Sturz Metternichs in Wien, dennoch stieg, wurde 18. März der Landtag schon zum 2. April berufen und die Verwandlung Deutschlands in einen Bundesstaat mit Parlament, Flotte etc. sowie im Innern wichtige Reformen verheißen. Sofort stürmte eine große Volksmenge nach dem Schloß und empfing den Monarchen, der sich auf dem Balkon zeigte und seine Zusagen mündlich wiederholte, mit Jubel. Da fielen an einem Portal des Schlosses, wo das Volk dicht an die Truppen herandrängte, aus deren Mitte aus Versehen zwei Schüsse. Mit dem Rufe: »Verrat! Rache! Zu den Waffen!« stob der Volkshause auseinander, und es verbreitete sich mit Blitzesschnelle in der Stadt das Gerücht von einem Blutbad unter friedlichen Bürgern. Schnell waren in den Straßen gegen 200 von den Agitatoren schon vorbereitete Barrikaden errichtet und von zahlreichen, obschon schlecht bewaffneten Kämpfern besetzt (Märzrevolution). Nach erbittertem Kampfe hatten die Truppen am Morgen des 19. März den Sieg errungen. Aber statt nun den Aufruhr völlig zu überwältigen und die angekündigte deutschnationale und liberale Politik durchzuführen, ließ der König, körperlich und geistig erschöpft, die Truppen Berlin räumen und vertraute sich dem Schutze der Berliner Bürgerwehr an. Doch seine unzeitgemäße Proklamation an seine »lieben Berliner« und sein feierlicher Umritt durch die Stadt (21. März) verschafften ihm die Popularität ebensowenig wieder wie die Ernennung eines neuen Ministeriums Arnim-Boitzenburg (s. Arnim 6), eine Amnestie (20. März) und die Berufung einer Nationalversammlung zur Beratung einer Verfassung (22. März). Eine feierliche Bestattung der gefallenen Soldaten (3 Offiziere und 17 Mann) wurde nicht geduldet, dagegen der König gezwungen, den Leichenzug der 187 Barrikadenkämpfer (Märzgefallene, s. d.) vom Schloßbalkon entblößten Hauptes zu begrüßen (22. März). Der Prinz von P. (Kaiser Wilhelm I.) mußte nach England fliehen, sein Palais wurde zum Nationaleigentum erklärt. Überall verlor das Volk das Vertrauen zu der Monarchie, und ermutigt durch die Freilassung der 1847 wegen einer Verschwörung verurteilten Landsleute, begannen die Polen in der Provinz Posen einen Aufstand.
Nachdem 29. März das liberale Ministerium Ludolf Camphausen (s. d.) ernannt war und der Vereinigte Landtag das Wahlgesetz für die Konstituierende Nationalversammlung genehmigt hatte (2.10. April), fanden die Wahlen statt; sie waren indirekt, aber fast ohne Zensus. Fast nur Liberale und Radikale und, weil die bedeutendsten Männer sich dem Frankfurter Parlament widmeten, meist Männer ohne Erfahrung und Gewicht wurden gewählt. Die Versammlung, 22. Mai vom König eröffnet, verkannte[325] ihre Aufgabe, dem Staat eine konstitutionelle Verfassung zu geben, ließ sich vielmehr von der radikalen Presse und dem Berliner Pöbel beeinflussen und lehnte den vorgelegten Verfassungsentwurf ab. Statt nun selbst einen Entwurf einzubringen, mischte sich die Versammlung in die Staatsverwaltung und beschloß 7. Sept. sogar, daß das Ministerium verpflichtet sei, ihre Beschlüsse unbedingt auszuführen. Gegenüber den immer dreister auftretenden Demagogen waren die Ministerien Hansemann (25. Juni) und Pfuel (21. Sept.) außerstande, die Autorität der Behörden aufrecht zu erhalten. Da beauftragte der König, ermutigt durch das Wiedererwachen monarchischer Gesinnung im Volke, 1. Nov. den Grafen Brandenburg (s. d., S. 318), ein neues Ministerium (das Ministerium der »rettenden Tat«) zu bilden, und verlegte, als die Nationalversammlung dagegen protestierte, 8. Nov. dieselbe nach Brandenburg. Die Mehrheit tagte in Berlin weiter; doch wurden die Sitzungen im Schauspielhaus 10. Nov., nachdem General v. Wrangel mit 15,000 Mann in Berlin eingezogen war, geschlossen. 227 Mitglieder beschlossen 15. Nov. die Steuerverweigerung und erließen einen Protest, fanden aber beim Volk damit keinen Anklang. Die Versammlung trat 27. Nov. in Brandenburg wieder zusammen, wurde 1. Dez. durch den Austritt der Opposition beschlußunfähig und 5. Dez. aufgelöst; der König oktroyierte eine sehr freisinnige Verfassung und ein Wahlgesetz für die zwei Kammern, die 26. Febr. 1849 zur Revision der Verfassung zusammentraten.
Inzwischen hatte P. auch in der deutschen Frage gehandelt. Es hatte Truppen nach Schleswig-Holstein zur Befreiung der Elbherzogtümer von Dänemark geschickt, den dänischen Krieg aber durch den Waffenstillstand von Malmö unterbrochen, weil er durch die Blockade der deutschen Häfen den Handel lahmlegte. Den Beschlüssen des Frankfurter Parlaments hatte sich P. zwar meist gefügt, aber nichts getan, um die Leitung der deutschen Angelegenheiten in die Hand zu nehmen. Am 28. März 1849 vom deutschen Parlament zum Kaiser erwählt, konnte Friedrich Wilhelm IV. ganz unmöglich diese Krone annehmen, da eine Anerkennung der Reichsverfassung gleichbedeutend gewesen wäre mit einem Verzicht auf den preußischen Staat, und lehnte folgerichtig 3. April das Angebot ab. Die Zweite Kammer, welche die Reichsverfassung 21. April für rechtsgültig erklärte, wurde 27. April aufgelöst, und die Erhebungen zugunsten der Reichsverfassung in Dresden, am Rhein, in der Pfalz und in Baden wurden durch preußische Truppen unterdrückt. Friedrich Wilhelm hoffte vielmehr die preußische Hegemonie über das nicht österreichische Deutschland durch freie Verständigung mit den Fürsten, eine Union, zu erreichen: er schloß 26. Mai mit Sachsen und Hannover das Dreikönigsbündnis, dem die meisten Kleinstaaten beitraten. Ehe aber die Organisation der Union festgestellt war, hatte Österreich die Revolution in Ungarn besiegt und mischte sich wieder in die deutschen Angelegenheiten ein. Nun fielen Sachsen und Hannover von P. ab und schlossen im Februar 1850 mit Bayern und Württemberg das Vierkönigsbündnis, das sich im Verein mit Österreich die Wiederherstellung des Bundestags zum Ziel setzte. Zwar tagte vom 20. März bis 29. April 1850 ein Unionsparlament in Erfurt, wurde aber vertagt, ohne etwas geschaffen zu haben. Schritt für Schritt wich P. zurück; die Union zerfiel (der einzige Erwerb Preußens aus dieser Zeit war die Abtretung der hohenzollerischen Fürstentümer durch ihr Fürstenhaus 7. Dez. 1850), während 10. Mai 1850 der deutsche Bundestag wiedererstand; am 2. Juli wurde mit Dänemark der Berliner Friede geschlossen, der die schleswig-holsteinischen Herzogtümer preisgab, und endlich gab P. auch in der kurhessischen Frage nach, weil das Heer, wie sich bei der am 6. Nov. befohlenen allgemeinen Mobilmachung herausstellte, für einen Entscheidungskampf mit Österreich nicht stark genug war. Auf den Warschauer Konferenzen (15. Okt.) und in Olmütz (29. Nov.) verzichtete P. auf seine Unionspolitik und erkannte den restituierten Bundestag an (s. Deutschland, S. 823825). Mißmutig und verzweifelnd an seinem deutschen Beruf, wandten sich die Anhänger Preußens in Deutschland von ihm ab.
Nach der Auflösung der Zweiten Kammer (27. April 1849) wurde das noch bestehende Dreiklassenwahlgesetz erlassen. Bei den Wahlen beteiligte sich die Demokratie aus prinzipiellen Gründen und aus Pessimismus überhaupt nicht, und die am 7. Aug. 1849 zusammentretenden, wesentlich aus konservativen Abgeordneten bestehenden Kammern revidierten dem Wunsch des Königs gemäß die Verfassung vom 5. Dez. 1848, beseitigten einige bedenkliche Bestimmungen, wie die Beeidigung des Heeres auf die Verfassung, und genehmigten eine erbliche Pairskammer, den Staatsgerichtshof, die Auflösung der Bürgerwehr, Verminderung der Preßfreiheit, Beschränkung des Steuerbeiwilligungsrechts auf neue Steuern u. a. Die am 31. Jan. 1850 verkündete Verfassungsurkunde beschwor der König am 6. Febr.
Unter dem Ministerium Manteuffel (s. d. 2; seit 6. Nov. 1850) erlangte die christlich-konservative oder Kreuzzeitungspartei, die den kleinen Adel der östlichen Provinzen hinter sich hatte und in den Kammern die Mehrheit besaß, immer größern Einfluß. Sie wünschte eine ständische Organisation der Monarchie und erreichte auch 1851 die Wiederherstellung der gutsherrlichen Polizeiverwaltung, die Berufung der alten Provinzialstände und 12. Okt. 1854 die Errichtung des Herrenhauses als Erster Kammer des Landtags, während die Zweite Kammer fortan Abgeordnetenhaus hieß. In der evangelischen Kirche, an deren Spitze der Oberkirchenrat trat, ward die orthodoxe Richtung unterstützt, während man dem katholischen Klerus freie Hand ließ. Die liberale Partei wurde durch politische und Preßprozesse eingeschüchtert, die Beamten und Richter durch neue Disziplinargesetze von der Regierung abhängiger gemacht. Das 1855 gewählte Abgeordnetenhaus, die sogen. Landratskammer, genehmigte alle auf Verstärkung der monarchischen Gewalt gerichteten Anträge; nur gegen neue Steuern herrschte Abneigung. Gleichzeitig gedieh der Staat materiell trefflich: Eisenbahnen, Post und Telegraphie entwickelten sich überraschend schnell, und standhaft wehrte sich P. auch nach Olmütz gegen das Verlangen Österreichs, in den Zollverein aufgenommen zu werden. P. erreichte es, daß der Zollverein, 1852 durch Hannover und Oldenburg vergrößert und abgerundet, unter preußischer Führung und mit den bisherigen wirtschaftlichen Grundsätzen bestehen blieb. Der Wohlstand des Landes hob sich sichtlich. Auch die geistigen Interessen wurden nicht vernachlässigt: die Universitäten und höhern Schulen wurden von der pietistischen Reaktion weniger berührt als die Volksschule, in der die Stiehlschen Regulative (1854) maßgebend wurden.
Für die Stärkung der äußern Macht Preußens geschah wenig, wenn auch 1853 von Oldenburg der[326] Jadebusen zur Anlage eines Kriegshafens an der Nordsee erworben und der Grund zu einer Kriegsflotte gelegt wurde. Der König war durchaus nicht kriegerisch und blieb während des Krimkriegs neutral, während die öffentliche Meinung Anschluß an die Westmächte forderte, die Kreuzzeitungspartei auf seiten Rußlands stand. Wegen seiner Haltung erst nachträglich zum Pariser Friedenskongreß (1856) zugezogen, erwarb sich P. durch seine Neutralität die Freundschaft Rußlands. Dagegen drohte wegen des Neuenburger Putsches (im September 1856; s. Neuenburg, S. 546) die Gefahr eines Krieges mit der Schweiz; nur durch französische Vermittelung befreite sich P. Dies schädigte sein Ansehen noch mehr. Die österreichische und süddeutsche Presse überschüttete P. mit Hohn und Spott und behandelte es wie einen Mittelstaat. Die öffentliche Meinung empfand diese Geringschätzung bitter und sehnte sich nach einer Anderung der preußischen Politik.
Friedrich Wilhelm IV. erkrankte 1857 an einem Gehirnleiden und übertrug 23. Okt., selbst kinderlos, die oberste Leitung der Staatsgeschäfte seinem ältesten Bruder, dem Prinzen Wilhelm von P., als Stellvertreter; als solcher änderte der Prinz in dem Gang der Regierung nichts. Als sich die Krankheit des Königs als unheilbar erwies, wurde der Prinz durch Kabinettsorder vom 7. Okt. 1858 zum Regenten ernannt, übernahm 9. Okt. die volle Regierungsgewalt und berief den Landtag, der die Regentschaft bestätigte. An Stelle des am 6. Nov. entlassenen Ministeriums Manteuffel wurde ein neues unter dem Vorsitz des Fürsten Karl Anton von Hohenzollern-Sigmaringen gebildet, dessen bedeutendste Mitglieder die Führer der Altliberalen, R. v. Auerswald (s. d. 3), Patow (s. d.), Bethmann-Hollweg (s. d. 1) und Graf Schwerin (s. d. 3), waren. Völlig mit der Vergangenheit brechen wollte der Prinz-Regent nicht; nur die bessernde Hand wollte er anlegen, sich gesetzlich und konsequent zeigen. Vor religiöser Heuchelei warnend, wollte er in Deutschland moralische Eroberungen machen, vor allem aber Preußens Heermacht stärken. Darauf lag der Schwerpunkt seines Programms, das eine Heeresreform als eine unerläßliche Vorbedingung für eine nationale Politik und eine den liberalen Wünschen entsprechende innere Verwaltung ansah. Diesen innern Zusammenhang verkennend, versprachen sich die Liberalen sofort die Erfüllung aller ihrer Wünsche und hofften auf den Beginn einer neuen Ära. Bei den Wahlen für das Abgeordnetenhaus (im November 1858) beteiligte sich auch die Demokratie; die Altliberalen oder Gothaer unter Führung Vinckes (s. d. 2) erhielten die Mehrheit. Presse und Vereine durften sich freier bewegen; ein Grundsteuer- und ein Zivilehegesetz legte das Ministerium vor.
Als 1859 der Krieg in Italien ausbrach, trug zwar P. Bedenken, Frankreich sofort den Krieg zu erklären, machte aber mobil, um bei etwaiger Verletzung deutschen Bundesgebiets sofort einzuschreiten, beanspruchte aber nur die Führung des Krieges am Rhein. Österreich schloß, um dies zu verhindern, den Frieden von Villafranca (11. Juli), während die öffentliche Meinung Preußens Haltung würdigte und sich im Deutschen Nationalverein (s. d.) die Anhänger der preußischen Hegemonie sammelten. Der Verlauf der Mobilmachung 1859 hatte den Prinz-Regenten überzeugt, daß die Heeresreform nicht mehr aufgeschoben werden dürfe, und 1860 wurde dem Landtag der vom Prinzen und dem Kriegsminister v. Roon ausgearbeitete Plan einer Heeresreorganisation vorgelegt. Seine Grundgedanken waren: Verwirklichung der allgemeinen Wehrpflicht, Wiederherstellung der dreijährigen Dienstzeit, Erhöhung der Reservepflicht von zwei auf vier Jahre und entsprechende Verkürzung der Landwehrpflicht; erhebliche Vermehrung der Kadres, um eine größere Anzahl Rekruten ausbilden und die Feldarmee nur aus Linienregimentern zusammensetzen zu können, daher auch Vermehrung der Offiziere und Unteroffiziere und der unter den Fahnen stehenden Truppen. Die Mehrkosten sollten 9 Mill. Tlr. betragen, die Ausgaben für das Heer mithin auf 32,800,000 Tlr. steigen, etwa ein Viertel der gesamten Jahreseinnahme (130 Mill. Tlr.).
Der Reformplan stieß auf vielfache Opposition: die Kosten erschienen zu beträchtlich, man glaubte die Landwehr zurückgesetzt und mißbilligte die Verlängerung der Dienstzeit. Die lange Friedenszeit hatte das Gefühl für die Notwendigkeit eines starken Heeres vermindert, und man traute der Regierung nicht zu, daß sie auch wirklich von der Waffe energisch und erfolgreich Gebrauch für Preußens Machtstellung und Deutschlands Einigung machen werde. In unseligem Mißtrauen vermutete man einen geheimen Plan der Reaktion hinter der Heeresreform verborgen; die Vinckesche Partei, die weder den Mut hatte, die Vorlage abzulehnen, noch sie anzunehmen, genehmigte die Reorganisation als Provisorium und bewilligte vorläufig die Kosten bis 30. Juni 1861. Das Ministerium ging darauf ein, war aber entschlossen, die Reorganisation zu einer definitiven zu machen. Hieraus entstand der verderbliche Verfassungskonflikt, der sich immer mehr verschärfte, da das Mißtrauen gegen die Absichten der Regierung, von den Demokraten geschürt, immer wuchs; die wiederholte Ablehnung der Grundsteuer und der Zivilehe durch das Herrenhaus trug dazu wesentlich bei. Die feierliche Krönung, die Wilhelm I. nach seiner Thronbesteigung (2. Jan. 1861) am 18. Okt. 1861 in Königsberg veranstaltete, und bei der er die Heiligkeit und Unantastbarkeit der Krone und die beratende Stimme des Landtags betonte, verstimmte sehr, und die im Sommer 1861 gegründete Deutsche Fortschrittspartei (s. Fortschrittspartei) errang bei den Wahlen (6. Dez. 1861) die Majorität. Vergebens legte die Regierung dem neuen Landtag ein Ministerverantwortlichkeitsgesetz und eine Kreisordnung neben dem Heeresgesetz vor; in die Kommission zur Prüfung des letztern wurden fast nur Gegner gewählt, und nach Annahme des Hagenschen Antrags (s. Hagen 8), daß die Regierung das Budget der Ausgaben in größerer Spezialisierung vorlegen und dies sofort auf das Budget von 1862 Anwendung finden solle (6. März), bat das Ministerium um seine Entlassung.
Der König löste 11. März 1862 das Abgeordnetenhaus auf und berief ein neues Ministerium unter dem Vorsitz des Prinzen Adolf von Hohenlohe-Ingelfingen (s. Hohenlohe 4). Er tat selbst alles mögliche, um das Volk für sein »eigenstes Werk« zu gewinnen: er verzichtete auf den 1859 bewilligten 25proz. Zuschlag zu der Einkommen-, Klassen-, Schlacht- und Mahlsteuer vom 1. Juli 1862 ab, verringerte die Mehrkosten für das Heer nach Möglichkeit, setzte durch Androhung mit bewaffneter Intervention die Wiederherstellung der Verfassung von 1831 in Kurhessen durch, schloß mit Koburg-Gotha, Altenburg und Waldeck Militärkonventionen, erkannte (21. Juli 1862) das Königreich Italien an und schloß 2. Aug. mit Frankreich einen[327] freihändlerischen Handelsvertrag. Dennoch unterlag die Regierung bei den Wahlen (6. Mai); die Mehrheit des neuen Abgeordnetenhauses schied die Reorganisationskosten aus dem Ordinarium des Budgets aus und strich sie mit 308 gegen 11 Stimmen als Extraordinarium (23. Sept.). Jetzt wurde Bismarck (s. d.) an die Spitze des Ministeriums und der auswärtigen Angelegenheiten gestellt. Dieser erklärte 30. Sept. in der Budgetkommission seine Absicht, die deutsche Frage durch Blut und Eisen zu lösen, weswegen die Heeresreform notwendig sei, stieß aber damit auf Unglauben und Hohn, da er als offener Vertreter des absolutistischen Systems galt, gegen das die Rechte des Volkes rücksichtslos verteidigt werden müßten. Als das Herrenhaus 11. Okt. nicht das vom Abgeordnetenhaus beschlossene, sondern das von der Regierung vorgelegte Budget mit den Reorganisationskosten genehmigte, erklärte das Abgeordnetenhaus 13. Okt. diesen Beschluß für verfassungswidrig und deshalb für null und nichtig und lehnte auch in den folgenden Jahren das Heeresgesetz und die Reorganisationskosten ab. Die Regierung bestritt dem Abgeordnetenhaus das Recht, das Budget allein festzustellen, und erklärte sich für befugt, wenn durch mangelnde Übereinstimmung der beiden Häuser des Landtags kein gesetzliches Budget zustande komme, die Staatsverwaltung auch ohne solches fortzuführen.
Vermittelungsversuche, die gegen das Zugeständnis der zweijährigen Dienstzeit die Vermehrung der Regimenter bewilligen wollten, scheiterten. Verschärft wurde der Konflikt durch den Streit über die Disziplinargewalt des Präsidenten des Abgeordnetenhauses gegenüber den Vertretern der Regierung (1863), ferner durch Maßregelungen von liberalen Beamten, für die der Nationalfonds gesammelt wurde, durch die Preßordonnanz vom 1. Juni 1863, durch das Urteil des Obertribunals (im Februar 1866), daß Abgeordnete wegen ihrer Reden im Landtage gerichtlich verfolgt werden könnten, worin das Haus eine Verfassungsverletzung erblickte. Bei dieser verbitterten Stimmung wurde Bismarcks auswärtige Politik nicht gewürdigt. Sein Verhalten während des Aufstandes in Russisch-Polen (1863) tadelte 28. Febr. 1863 eine Resolution des Abgeordnetenhauses scharf; das Programm seiner deutschen Politik, das er aus Anlaß des Frankfurter Fürstentages 1863 in einer Denkschrift entwickelte, wurde für bloße Spiegelfechterei erklärt und auch der schleswig-holsteinischen Politik Preußens entschiedener Widerstand geleistet. Das Abgeordnetenhaus forderte 18. Dez. 1863 die Lossagung vom Londoner Vertrag und die Anerkennung des Prinzen von Augustenburg als Herzog, verweigerte nach der Ablehnung dieses Verlangens die Anleihe von 12 Mill. und erklärte 22. Jan. 1864, daß es der bundeswidrigen und antinationalen Politik der Regierung, welche die Herzogtümer nur an Dänemark wieder ausliefern und in Deutschland einen Bürgerkrieg entzünden wolle, entgegentreten würde. Selbst als der dänische Krieg eine ganz andre Wendung nahm und nach der Erstürmung der Düppeler Schanzen (18. April) und der Eroberung Alsens (29. Juni) durch preußische Truppen die Befreiung der Herzogtümer bewirkte, als Bismarck den Widerstand der Mittelstaaten gegen den französischen Handelsvertrag überwand, lehnte das Abgeordnetenhaus 17. Juni 1865 das Militärgesetz, die Reorganisationskosten, den Flottenerweiterungsplan und die Kosten des dänischen Krieges (22 Mill. Tlr.) ab; ja Schulze-Delitzsch verstieg sich zu der Äußerung, man müsse P. den Großmachtskitzel austreiben. Auch die Erwerbung Lauenburgs (s. d.) wurde für verfassungswidrig erklärt. Die Regierung schloß die Sitzungen des Landtags stets nach der Ablehnung ihres Budgets, verschaffte sich die nötigen Gelder durch den Verkauf ihrer Aktien der Köln-Mindener Eisenbahn und regierte ohne gesetzliches Budget. Die Haltung des Abgeordnetenhauses erschwerte der Regierung die Vertretung der preußischen Interessen sehr, und selbst als sich 1866 die Lage immer düsterer gestaltete und ein Krieg in Sicht schien, erklärten sich in P., namentlich in den westlichen Provinzen, viele Vereine und städtische Korporationen entschieden gegen einen Krieg mit Österreich. Um so weniger durften der König und Bismarck zurückweichen, sie mußten den Kampf aufnehmen und mit Aufbietung aller Kräfte den Sieg sichern (s. Preußisch-deutscher Krieg).
Das Abgeordnetenhaus war 9. Mai 1866 aufgelöst worden, aber trotz der fortschrittsparteilichen Wahlagitation begann nach der königlichen Proklamation vom 18. Juni, die Ursache und Bedeutung des Krieges darlegte, und nach den ersten Kriegsnachrichten der preußische Patriotismus zu erwachen und die Stimmung im Volke umzuschlagen: die Fortschrittspartei verlor bei den Wahlen (3. Juli, am Tage von Königgrätz) fast 100 Sitze. Der unerwartet glückliche Verlauf des Krieges machte den Umschlag bald vollständig. Die Armeereorganisation hatte sich glänzend bewährt, mit dem durch sie geschaffenen Heer hatte sich P. zur herrschenden Macht in Deutschland erhoben und wichtige Gebiete zwischen den bisherigen zwei Teilen des Staates erworben. Großmütig das formelle Recht des Landtags anerkennend, legte die Regierung 14. Aug. dem Landtag ein Gesetz vor, das Indemnität für die ohne gesetz liche Grundlage geleisteten Staatsausgaben verlangte. Ein Teil der Fortschrittspartei (Waldeck, Hoverbeck, Virchow u. a.) verweigerte diese ohne die Garantie der Rechte des Abgeordnetenhauses, aber die gemäßigten Mitglieder (Forckenbeck, Twesten, Lasker u. a.) gründeten die »nationalliberale Partei«, und die Indemnitätsvorlage wurde 3. Sept. mit 230 gegen 75 Stimmen angenommen, 25. Sept. der Regierung ein nachträglicher Kriegskredit von 60 Mill. Tlr. und eine Dotation von 1,5 Mill. Tlr. für Bismarck und die verdientesten Generale bewilligt und 7. Sept. die Vereinigung von Hannover, Kurhessen, Nassau und Frankfurt a. M., 20. Dez. die Schleswig-Holsteins mit P. genehmigt; die Zahl der Abgeordneten wurde um 80 vermehrt. Der Etat für 1867 wurde den Anträgen der Regierung entsprechend im Plenum erledigt.
In dem durch die Verständigung der norddeutschen Staaten mit P. errichteten Norddeutschen Bunde (s. d.), dessen Verfassung der preußische Landtag trotz des Widerspruchs der Fortschrittspartei genehmigte, erhielt die preußische Krone das Präsidium und wurde P. der leitende Staat; der preußische Ministerpräsident war Kanzler des Bundes. Die auswärtigen Angelegenheiten, Handel, Zölle, Post, Telegraphie, Heer- und Marinewesen u. a. gingen fortan auf den Bund über, und P. war nur in den innern Angelegenheiten noch souverän. Der Großstaat P. dankte zugunsten Deutschlands ab, wenn auch sein fester Organismus die Hauptstütze des größern Gemeinwesens blieb. Preußens Geschichte ist daher seit 1867 eine vorzugsweise[328] innere und läuft der Geschichte Deutschlands (s. d., S. 826 ff.) parallel. Zunächst galt es, die neuen Gebietsteile, die in drei Provinzen, Schleswig-Holstein mit Lauenburg, Hannover und Hessen-Nassau, organisiert wurden, mit dem preußischen Staatskörper zu verschmelzen; die Regierung erhielt dazu auf ein Jahr die Diktatur. Schon 1867 wurden jedoch Vertrauensmänner aus den annektierten Ländern bei den neuen Einrichtungen zu Rate gezogen und viele Eigentümlichkeiten bestehen gelassen. Auch der König griff wiederholt vermittelnd und versöhnend ein; schon Ende 1867 ward der Hannoveraner Leonhardt (s. d.) Justizminister. Bei den Wahlen für den Landtag 7. Nov. 1867 wählten die neuen Provinzen zum erstenmal mit, und 26 Mitglieder des Herrenhauses wurden aus ihnen berufen. Mit den depossedierten Fürsten von Hannover, Nassau und Hessen wurden Verträge über ihre Abfindung abgeschlossen und ihnen ansehnliche Geldsummen zugestanden, ohne daß König Georg und der Kurfürst auf ihre Throne verzichteten. Die Verträge genehmigte der Landtag im Februar 1868, weil Bismarck sein Verbleiben im Amt von ihrer Annahme abhängig machte, aber da die Fürsten von Hannover und Hessen ihre Agitationen gegen P. fortsetzten, belegte die Regierung das ihnen abgetretene Vermögen schon im März wieder mit Beschlag. Mit Zustimmung des Landtags wurden die Einkünfte daraus zur Bekämpfung dieser Agitationen verwendet (s. Welfenfonds).
Zur Deckung des Defizits im Staatshaushalt (5,200,000 Tlr.) wurde 1869 wieder der Zuschlag von 25 Proz. zur Einkommen-, Klassen-, Schlacht- und Mahlsteuer verlangt, aber beide Häuser des Landtags waren dagegen. Camphausen, der an Stelle v. d. Heydts Finanzminister wurde, beseitigte das Defizit durch Verwandlung der Staatsschuld in eine konsolidierte Rentenschuld u. erleichterte dadurch den Staatsschuldentilgungsfonds um 3,5 Mill. Tlr.; auch besserten sich die Finanzen bald. Weitere Reformen drängte der Ausbruch des deutsch-französischen Krieges zurück. in dem sich die vorzügliche Organisation des preußischen Staats- und Heerwesens bewährte: P. streckte aus seinem Staatsschatz den süddeutschen Staaten die ersten Mobilmachungskosten vor, bildete aus Reserve und Landwehr immer neue Truppenkörper und ergänzte die ungeheuern Verluste seiner Korps, besonders vor Metz. Das preußische Volk leuchtete ganz Deutschland durch patriotische Opferwilligkeit voran, und die preußischen Heerführer rechtfertigten durch ihre Siege das in sie gesetzte Vertrauen. Die Umwandlung des Norddeutschen Bundes in das Deutsche Reich (18. Jan. 1871) vermehrte durch den Zutritt der süddeutschen Staaten die Zahl der außerpreußischen Stimmen im Bundesrat, dagegen ward P. in gewissen Fällen ein Veto eingeräumt. P. wurde jetzt die Hausmacht des neuen deutschen Kaisertums, trat aber den ganzen Militärfiskus mit seinen Gebäuden, Grundstücken, Kriegsmaterial etc. sowie die Flotte an das Reich ab.
Das vom vatikanischen Konzil gebilligte Unfehlbarkeitsdogma verursachte Differenzen zwischen dem römischen Klerus und der preußischen Regierung, da diese das Verlangen der Bischöfe, gegen Lehrer, die das Dogma nicht anerkannten, einzuschreiten, ablehnte und die vom Bischof von Ermeland über einen antiinfallibilistischen Religionslehrer, Wollmann in Braunsberg, verhängte Suspension für ungültig erklärte. Gleichzeitig forderten die Ultramontanen im ersten Reichstag eine Kundgebung für Wiederherstellung des Kirchenstaates sowie Aufnahme der Artikel über die Freiheit der Kirche in die Reichsverfassung. Die Ablehnung dieses Verlangens durch Bismarck veranlaßte die Ultramontanen zu drohenden Äußerungen, und als Gegenmaßregel wurde 8. Juli 1871 die katholische Abteilung des Kultusministeriums, die seit ihrer Begründung (1841) die Staatsgesetze gern den Interessen der römischen Kurie untergeordnet hatte, aufgehoben und 22. Jan. 1872 Falk (s. d. 2) zum Kultusminister ernannt. Das Schulaufsichts gesetz von 1872 unterwarf alle Schulen der Aussicht des Staates, schloß die Mitglieder geistlicher Orden vom öffentlichen Lehramt aus, beschränkte den polnischen Unterricht und setzte in den katholischen Provinzen weltliche Schulinspektoren ein. Durch Reichsgesetz wurden die Jesuiten ausgewiesen und 1873 die ersten organischen Gesetze, die sogen. Maigesetze (s. d.), erlassen. 1874 wurde die Einführung der Zivilehe und der Zivilstandsregister sowie ein Gesetz über die Verwaltung erledigter Bistümer beschlossen. Gleichzeitig erhielt die evangelische Landeskirche in den östlichen Provinzen eine Synodalverfassung.
Die Bischöfe protestierten auf wiederholten Versammlungen in Fulda gegen die einseitig vom Staate erlassenen Kirchengesetze und erklärten, sie nicht befolgen zu können. Die ultramontanen Parteiführer nahmen den »Kulturkampf« mit Energie auf, und das katholische Volk wurde gegen die Regierung, die ihm den Glauben rauben wolle, aufgehetzt, während die Presse die den Staatsgesetzen gehorsamen Geistlichen terrorisierte. Aber auch die Regierung ging energisch vor: der Erzbischof Ledochowski (s. d.) von Posen wurde 1873 wegen Widerstandes gegen die Staatsgesetze verhaftet und die meisten andern Bischöfe abgesetzt. Als auch Papst Pius IX. sich einmischte und 7. Aug. 1873 einen anmaßenden Brief an Kaiser Wilhelm richtete (den dieser 3. Sept. würdevoll beantwortete), ja sogar 5. Febr. 1875 in einer Enzyklika an die preußischen Bischöfe die preußischen Kirchengesetze für ungültig und den Gehorsam gegen sie als ungerechtfertigt erklärte, verfügte 22. April das Gesetz die Einstellung der Leistungen aus Staatsmitteln für die römisch katholischen Bistümer und Geistlichen (das sogen. Sperr- oder Brotkorbgesetz); Artikel 15,16 und 18 der preußischen Verfassung, die über die Freiheit der Kirche handelten, wurden aufgehoben und durch weitere Maigesetze die Orden ausgewiesen sowie die Vermögensverwaltung in den katholischen Kirchengemeinden einer zu wählenden Vertretung übertragen; das letzte Gesetz wurde von den Bischöfen anerkannt. Die Bildung altkatholischer Gemeinden wurde gefördert und ihnen ein Anteil am katholischen Kirchenvermögen eingeräumt; auch der altkatholische Bischof Reinkens erhielt 1873 eine staatliche Dotation. Obwohl die katholische Kirche durch die Maigesetze empfindlich litt, zahlreiche Pfarrstellen unbesetzt blieben, die Einbehaltung der Staatsleistungen (2,700,000 Mk. jährlich) die Gläubigen zu großen Opfern nötigte und der Nachwuchs an jungen Priestern ausblieb, da die Kandidaten das vorgeschriebene Staatsexamen (Kulturexamen) nicht machen durften, verstand sich der Klerus doch nicht zum Gehorsam. Bei allen Neuwahlen behauptete die ultramontane Partei des Zentrums unter des Welfen Windthorst (s. d.) Führung ihren Besitzstand und rächte sich durch die heftigste Opposition im Reichstag und Landtag.
Durch den Kampf mit der ultramontanen Partei war die Regierung genötigt, sich auf die das Abgeordnetenhaus[329] beherrschenden Liberalen zu stützen, zumal die Strengkonservativen den ersten Kirchengesetzen ebenfalls Widerstand geleistet hatten. Einen schon früher ausgesprochenen Wunsch der Liberalen nach einer Verwaltungsreform erfüllend, legte die Regierung 1872 dem Landtag eine neue Kreisordnung für die östlichen Provinzen (Preußen, Pommern, Schlesien, Brandenburg und Sachsen) vor, welche die gutsherrliche Polizei und das Virilstimmrecht abschaffte und eine Selbstverwaltung der Kreise einführte. Es folgten 1875 eine Provinzialordnung für die fünf östlichen Provinzen, die Dotierung derselben und die Einsetzung von Verwaltungsgerichten, 1876 das Kompetenzgesetz, das Gesetz über die ausschließliche Geltung der deutschen Sprache als staatlicher Geschäftssprache und die Teilung der Provinz P. in Ost- und Westpreußen. Doch geriet die Verwaltungsreform ins Stocken, als Bismarck 1877 gegen die von Eulenburg versprochene und auch ausgearbeitete neue Städteordnung und gegen die Ausdehnung der Kreis- und Provinzialordnung auf die westlichen Provinzen Einspruch erhob. Dazu kam, daß 1878 und 1879 wegen der neuen Wirtschaftspolitik und des Sozialistengesetzes ein Bruch zwischen Bismarck und den Nationalliberalen erfolgte. Die gemäßigt liberalen Minister Camphausen (s. d. 2), Achenbach (s. d. 3), dann auch Friedenthal (s. d.) und Falk schieden aus und wurden durch konservative, wie Puttkamer (s. d. 1) und Goßler (s. d. 1), ersetzt. Bei den Wahlen von 1879 schwand auch die liberale Mehrheit und die Regierung hatte nur noch die Möglichkeit, sich auf eine konservativ-nationalliberale oder auf eine konservativ-ultramontane Majorität zu stützen. Das wichtige Gesetz über die Erwerbung von vier großen Privateisenbahnen, das der Chef des neugebildeten Ministeriums für die öffentlichen Arbeiten, Maybach (s. d.), 1879 dem neuen Landtag vorlegte, wurde mit Hilfe der Nationalliberalen durchgebracht; weitere Gesetze über den Ankauf fast aller noch vorhandenen Privatbahnen und den Bau neuer Staatsbahnen folgten, wodurch das jetzt vorhandene Staatsbahnnetz in P. geschaffen wurde.
Da es jedoch Bismarck hauptsächlich darauf ankam, seine Steuerpläne, besonders das Tabakmonopol, im Reichstag durchzubringen, und ihm dies nur mit Hilfe des Zentrums möglich schien, so wollte er den Kulturkampf beendigen und im Notfall die Maigesetzgebung preisgeben, zumal da sowohl die Konservativen als auch die Fortschrittspartei sich vom Kulturkampf losgesagt hatten und selbst die Nationalliberalen für eine Revision der Maigesetze waren. Eine Verständigung mit der Kurie erschien nicht aussichtslos, da der neue Papst, Leo XIII., eine friedliche Vereinbarung wünschte und bereits Verhandlungen mit Bismarck angeknüpft hatte. Es wurde daher wieder ein preußischer Gesandter (v. Schlözer) beim päpstlichen Stuhl ernannt, 1880, 1882 und 1883 drei Kirchengesetznovellen eingebracht und genehmigt, wodurch das Sperrgesetz für die meisten Bistümer aufgehoben, die durch Tod erledigten neu besetzt, die abgesetzten Bischöfe von Limburg und Münster begnadigt wurden. Zwei neue kirchliche Gesetze von 1886 und 1887 beseitigten den übrigen von der Kirche nicht gebilligten Teil der Maigesetzgebung, wogegen der Papst die Anzeigepflicht und das staatliche Einspruchsrecht anerkannte; auch gab er seine Zustimmung, daß die Erzbischöfe Melchers und Ledochowski, die P. nicht wieder zuzulassen erklärte, abdankten, worauf in Köln und Posen neue Bischöfe eingesetzt wurden. Der Friede mit der Kurie war so hergestellt; das Zentrum wurde aber weder gesprengt noch geschwächt, sondern nur zu einer maßvollern Haltung veranlaßt.
Die Finanzen Preußens hatten nach den Jahren wirtschaftlichen Aufschwunges 187174 wiederholt Defizits im Budget ausgewiesen, besserten sich aber nun infolge der Erhöhungen der Reichseinnahmen durch die Zölle und der Verminderung der Matrikularbeiträge und gestatteten 1881 einen Steuererlaß von 14 Mill. Mk. 1883 wurden deshalb die zwei untersten Stufen der Klassensteuer ganz abgeschafft. Der Mehrertrag der 1885 vom Reichstag beschlossenen landwirtschaftlichen Zölle wurde den Kommunalverbänden zugewiesen (lex Huene). Die Staatseisenbahnen lieferten immer steigende Erträge. Die Verwaltungsreform wurde allmählich auf alle Provinzen, 1888 auch auf Posen, ausgedehnt. Für die teilweise polnischen Provinzen, wo das Deutschtum durch den deutschfeindlichen Einfluß der katholischen Geistlichkeit und massenhafte Einwanderung aus Polen gefährdet erschien, wurde 1886 die Gründung deutscher Ansiedelungen auf bisher polnischem Grundbesitz beschlossen und 100 Mill. dazu bewilligt. Viele von Rußland Eingewanderte wurden ausgewiesen, der deutsche Unterricht durch besondere Gesetze in Posen, Westpreußen und Oberschlesien gefördert. 1886 wurde der Bau des Rhein-Emskanals genehmigt und der preußische Präzipualbeitrag zu den Kosten des Nordostseekanals bewilligt. 1888 wurden erhebliche Summen für die Regulierung der östlichen Ströme und für die Unterstützung der durch Überschwemmung geschädigten Landesteile aufgewendet; auch minderte das Volksschullastengesetz vom Juni 1888 die Gemeindelasten. Die Legislaturperiode wurde 1888 von drei auf fünf Jahre verlängert.
Wilhelm I. starb 9. März 1888; der Kronprinz Friedrich Wilhelm bestieg als Friedrich III. (s. Friedrich 5) den Thron, konnte aber seine Regierungsgrundsätze, die er in einem Erlaß an Bismarck kundgab, nicht durchführen; nur Puttkamer wurde entlassen. Als Friedrich III. schon 15. Juni seinen Leiden erlag, folgte ihm sein ältester Sohn als Wilhelm II. und leistete, die Fortführung der Regierung im Sinne seiner Vorfahren gelobend, 27. Juni vor dem Landtag den Eid auf die Verfassung.
An Stelle Puttkamers wurde der Reichsstaatssekretär des Innern, von Bötticher (s. d. 2), Vizepräsident des Staatsministeriums, Herrfurth (s. d.) Minister des Innern; Bennigsen (s. d. 3) wurde Oberpräsident von Hannover. Diese und andre Regierungsakte des neuen Herrschers zeigten, daß er den Grundsätzen seines Großvaters folgen wolle, und die Wahlen für das Abgeordnetenhaus im November 1888 ergaben eine bedeutende regierungsfreundliche Mehrheit. Die Überschüsse der Eisenbahnverwaltung stellten reichliche Mittel zur Verfügung.
Als der Reichskanzler und Ministerpräsident Fürst Bismarck 20. März 1890 zurücktrat, wurde der General v. Caprivi (s. d.) Ministerpräsident; kurz zuvor war v. Berlepsch (s. d. 3) als Handelsminister in das Ministerium getreten. Im Juni wurden der Finanzminister v. Scholz (s. d.) durch Miquel (s. d. 3), im Herbst der Kriegsminister v. Verdy (s. d.) durch General v. Kaltenborn-Stachau (s. d.) und der Landwirtschaftsminister v. Lucius (s. d.) durch v. Heyden (s. d. 6) ersetzt. Der Landtag brachte 1890 im wesentlichen nur den Staatshaushaltsetat zustande, aber das Sperrgeldergesetz, das die auf Grund des Gesetzes[330] vom 22. April 1875 (Brotkorbgesetz) einbehaltenen staatlichen Zahlungen an die katholische Kirche (im ganzen 16 Mill. Mk.) zurückerstatten sollte, scheiterte an dem Verhalten des Zentrums: während die Regierung die Verteilung der 31/2 proz. Rente jener 16 Mill. (560,000 Mk.) an die katholischen Diözesen nach einem zu vereinbarenden Plan vorschlug, verlangte das Zentrum die bedingungslose Auszahlung der Gelder, obwohl die Kurie mit dem Vorschlag der Regierung zufrieden war. Unter diesen Umständen wurde die Vorlage vom Landtag abgelehnt. Die Landtagssession 189091 brachte die lang ersehnte, von Miquel erdachte Reform der direkten Steuern, die eine gleichmäßigere Veranlagung der direkten Steuern und eine Entlastung der kleinern Einkommen sowie die Überweisung der Grund- und Gebäudesteuer an die Kommunalverbände einführte. Nur die Erbschaftssteuer wurde abgelehnt und später durch eine Vermögenssteuer (Ergänzungssteuer) ersetzt. Vollständig in Kraft trat die Steuerreform, namentlich die Überweisung der Grund- und Gebäudesteuer sowie der Gewerbesteuer an die Kommunalverbände, die ein Kommunalsteuergesetz 1893 regelte, erst am 1. April 1895.
Die neue, von Herrfurth vertretene Landgemeindeordnung wurde gegen den Widerspruch der Konservativen durchgebracht, da die Regierung die Unterstützung des Zentrums durch weitere Zugeständnisse erkaufte und im Januar 1891 ein neues Sperrgeldergesetz einbrachte, das die angesammelten Gelder bedingungslos der katholischen Kirche ausliefern wollte. Selbst die Konservativen stimmten der Vorlage nur unter der Bedingung zu, daß bei der Verwendung der Gelder wenigstens eine staatliche Kontrolle stattfand. Dafür rächten sich die Ultramontanen, indem sie die Annahme eines Volksschulgesetzes, das die äußern Verhältnisse der Schule regeln, mit bedeutender Beihilfe des Staates den unentgeltlichen Unterricht einführen und das Einkommen der Lehrer erhöhen sollte, verzögerten. Der Unterrichtsminister v. Goßler nahm deshalb 12. März 1891 seine Entlassung und wurde durch den Grafen von Zedlitz und Trützschler (s. d.) ersetzt. Dieser zog das Volksschulgesetz zurück und bekundete seine abweichende Anschauung über die den Ultramontanen und Polen gegenüber zu befolgende Regierungspolitik schon im Sommer 1891 dadurch, daß er in der Provinz Posen wieder polnischen Privatunterricht in den Volksschulen zuließ und der Ernennung eines polnischen Erzbischofs von Posen, v. Stablewski, zustimmte. Dem am 14. Jan. 1892 eröffneten Landtage wurde nun ein neuer Volksschulgesetzentwurf vorgelegt, der den kirchlichen Behörden eine Macht über die Volksschule einräumte, die mit den bisherigen Anschauungen über die Rechte des Staates in P. unvereinbar war. Die Linke bis zu den Freikonservativen erklärte sich, durch die öffentliche Meinung lebhaft unterstützt, auf das entschiedenste gegen den Entwurf. Die konservativ-ultramontane Mehrheit lehnte bei der Kommissionsberatung nicht nur jeden Vorschlag zur Verständigung mit den gemäßigten Parteien ab, sondern wollte auch die Simultanschulen beseitigen und in die Organisation des städtischen Volksschulwesens eingreifen. Der Kaiser erklärte darauf in einem Kronrat 17. März 1892, daß er das Volksschulgesetz nur im Einvernehmen mit den gemäßigten Parteien zustande gebracht zu sehen wünsche; Zedlitz trat zurück, und auch Caprivi legte sein Amt als preußischer Ministerpräsident nieder, während er Reichskanzler blieb. Ministerpräsident wurde Graf Eulenburg (s. d. 3), der im Sommer auch Herrfurth als Minister des Innern ablöste. Der Volksschulgesetzentwurf wurde zurückgezogen.
Schon der Staatshaushaltsplan 1892/93 hatte eine erhebliche Verminderung der Überschüsse aufgewiesen, teils wegen der verringerten Herauszahlungen des Reiches, teils weil die Eisenbahneinkünfte durch die allzu fiskalische Eisenbahnpolitik Maybachs zurückgegangen waren. Nach dessen Rücktritt übernahm 1891 Thielen (s. d.) das Eisenbahnministerium unter schwierigen Verhältnissen, indem die Einnahmen infolge wirtschaftlicher Verhältnisse sanken, frühere Versäumnisse aber zu großen Ausgaben zwangen. Der Etat für 1893/94 wies wieder einen Fehlbetrag von 42 Mill Mk. auf. Bei Schluß der Tagung und zugleich der ersten fünfjährigen Legislaturperiode dankte der Kaiser 5. Juli 1893 dem Landtag persönlich für die Mitarbeit an dem großen Werke der Steuerreform. Die Wahlen im November 1893 ergaben eine Verschiebung nach rechts, indem die Konservativen 23 Mandate gewannen, die Freisinnigen, die sich wie im Reichstage in zwei Fraktionen gespaltet hatten, 11 verloren. Der Fehlbetrag im Etat für 1894/95 war noch höher als im Vorjahr. Die verstärkte konservative Partei galt nunmehr um so weniger als Stütze der Regierung, als der durch die Caprivische Zollpolitik gereizte »Bund der Landwirte« (s. d.), durch konservative Abgeordnete vertreten, sich auch im Landtag bemerkbar machte. Mehrere Regierungsvorlagen, z. B. die des Dortmund-Rheinkanals, wurden abgelehnt, während ein Gesetzentwurf, der die evangelische Generalsynode von der Staatsgewalt unabhängiger machte, Annahme fand, ebenso ein Gesetz über Einführung von Landwirtschaftskammern. Die Regierung besaß im Abgeordnetenhaus keine zuverlässige Mehrheit und ließ es deshalb auch an Entschlossenheit fehlen. Dies änderte sich auch nicht, als 26. Okt. 1894 gleichzeitig mit Caprivi der Ministerpräsident Graf Eulenburg seine Entlassung erhielt und der bisherige Statthalter von Elsaß-Lothringen, Fürst Chlodwig v. Hohenlohe-Schillingsfürst (s. Hohenlohe 6), Reichskanzler und preußischer Ministerpräsident wurde, so daß beide Ämter wieder in einer Hand vereinigt waren. Minister des Innern wurde v. Köller (s. d. 2) und nach dem Rücktritt des Landwirtschaftsministers v. Heyden und des Justizministers v. Schelling der bisherige Landesdirektor von Hannover, Freiherr v. Hammerstein-Loxten (s. d. 1), und der Oberlandesgerichtspräsident in Celle, Schönstedt (s. d., bis 1905), ihre Nachfolger. Hatte der Landtag von 1895 (15. Jan. bis 10. Juli) nur Vorlagen von geringerer Bedeutung erledigt, so wurden 1896 (15. Jan. bis 20. Juni) wichtige Gesetzentwürfe, wie der über die Lehrerbesoldung, die Anstellung und die Alterszulagen der Richter, die Errichtung von Handwerkerkammern, abgelehnt. Minister v. Köller war schon im Herbst 1895 durch v. d. Recke (s. d.) ersetzt worden, an Stelle des Handelsministers Freiherrn von Berlepsch trat im Juni 1896 Brefeld (s. d., bis 1901). Der Staatshaushalt gestaltete sich 1895 und 1896 günstiger als vorher, da namentlich die Eisenbahnen größere Erträge lieferten; ein Fehlbetrag war nicht mehr zu verzeichnen. Ergebnisreicher als die vorhergehenden Sitzungsperioden des Landtags war die von 1896/97, die 20. Nov. begann und 24. Juli endigte. Noch vor Schluß des Jahres 1896 wurde das Gesetz über die Umwandlung der 4proz. konsolidierten Staatsanleihe (3,5 Milliarden Mk.) in eine 31/2 proz. angenommen, Eine dauernde Gesundung der Finanzen[331] führte gleichzeitig der Beschluß herbei, jährlich wenigstens 3/5 Proz. der Staatsschuld zu tilgen und einen unter Verwaltung des Finanzministers stehenden Ausgleichsfonds von 80 Mill. Mk. zu gründen. Die Besserung der Finanzlage gestattete eine wesentliche Gehaltsaufbesserung der Beamten, wobei nur die höhern Lehrer ausgeschlossen blieben, während die Bezüge der Richter denen der Regierungsbeamten gleichgestellt wurden. Das im Vorjahre verworfene Gesetz über das Diensteinkommen der Volksschullehrer fand, nachdem die Großstädte etwas günstiger gestellt worden waren als im vorjährigen Entwurf, Annahme. Abgelehnt wurde dagegen schließlich der mehrfach veränderte Entwurf eines Vereinsgesetzes, welches das bestehende Verbot der Verbindung politischer Vereine untereinander aufheben, die Minderjährigen ausschließen und im übrigen durch Beschränkung des Vereins- und Versammlungsrechts als Mittel zur Bekämpfung der Sozialdemokratie dienen sollte; gerade der letztere Gesichtspunkt veranlaßte die Mittelparteien zu einer ablehnenden Haltung, da sie sich einen Erfolg davon nicht versprachen. Noch vor Schluß der Tagung wurde 1. Juli 1897 an Stelle v. Böttichers Miquel Vizepräsident des Staatsministeriums, aber seine an die Parteien gerichtete Aufforderung zur »Sammlung«, um durch eine entschiedene Mehrheitspartei die Haltung der Regierung zu festigen, hatte keinen Erfolg. Wirtschaftlich schloß das Rechnungsjahr 1897/98 mit einem Überschuß von 84,36 Mill. Mk. ab. Die letzte Tagung der 18. Legislaturperiode (189398) begann 11. Jan. und endete 18. Mai 1898. Den Präsidenten des Abgeordnetenhauses Georg v. Köller (s. d., seit 1879) löste bei Beginn v. Kröcher (s. d.) ab. Zur Ansiedelung deutscher Bauern in den östlichen Landesteilen wurden 100 Mill. Mk. bewilligt und für die Beseitigung der 1897 durch Hochwasser namentlich in Schlesien verursachten Schäden Mittel bereit gestellt.
Die Neuwahlen für die 19. Legislaturperiode (1898 bis 1903) im Oktober 1898 brachten eine Verminderung der Nationalliberalen von 90 auf 74; im übrigen wurden 147 Konservative, 57 Freikonservative, 99 Zentrumskandidaten, 34 Freisinnige (beider Richtungen), 14 Polen und 8 Wilde gewählt. Die erste Tagung (16. Jan. bis 29. Aug. 1899) war zugleich die erste in dem neuen Parlamentsgebäude. Die dauernd günstige Finanzlage (das Wirtschaftsjahr 1898/99 hatte 87,66 Mill. Mk. Überschuß ergeben) schien der Regierung geeignet, endlich den vom Abgeordnetenhaus schon 1885 geforderten Gesetzentwurf über den Bau eines Mittellandkanals vom Rhein zur Elbe vorzulegen, aber die konservative Partei bekämpfte die Vorlage entschieden, da ihre Verwirklichung angeblich mit den Interessen der Landwirtschaft unvereinbar sei. Die zur Beratung des Entwurfs eingesetzte Kommission beschloß 16. Mai dessen Ablehnung, aber auf Betreiben des Zentrums verwies das Haus die Vorlage an die Kommission zurück, um über etwaige dem Osten zu gewährende Entschädigungen (Eisenbahnen, Flußregulierungen) zu beraten. Trotz aller Versuche der Regierung, die Konservativen zur Umkehr zu bewegen, wurde 19. Aug. die ganze Vorlage abgelehnt. In dem darauf abgehaltenen Kronrate wurde beschlossen, die politischen Beamten, die am 17. Aug. noch verwarnt worden waren und trotzdem gegen den Kanal gestimmt hatten, mit Wartegeld zur Disposition zu stellen (diese Maßregel betraf 2 Regierungspräsidenten und 20 Landräte, die »Kanalrebellen« genannt wurden, aber bald wieder Anstellung und Beförderung fanden), aber von der Auflösung des Abgeordnetenhauses abzusehen. Wie die Kanalvorlage, so wurde auch die über die Reform des Gemeindewahlrechts, die das Zentrum begünstigte, abgelehnt. Aber letztere kehrte in der Tagung von 1900 (9. Jan. bis 18. Juni) wieder und wurde gleich dem Warenhaussteuergesetz angenommen. Die von der Regierung innerhalb des Etats geforderten weltlichen Kreisschulinspektorstellen wurden abgelehnt, dagegen 115 Mill. Mk. zur Erweiterung des Eisenbahnnetzes und Förderung der Kleinbahnen bewilligt. Das Rechnungsjahr 1899/1900 ergab noch einen Überschuß von 71,4 Mill. Mk., aber 1901 war ein Fehlbetrag von 37,5 Mill. zu verzeichnen, bis sich dann 1902: 15,6 Mill., 1903: 63,5 Mill. und 1904 rund 50 Mill. Überschüsse einstellten. Den Kultusminister Bosse (s. d., seit 1892) löste im September 1899 der bisherige Oberpräsident von Westfalen, Studt (s. d.), ab. Am 17. Okt. 1900 trat Fürst Hohenlohe als Ministerpräsident zurück und wurde durch Graf Bülow (s. d. 12, seit 1905 Fürst) ersetzt. Der Landtag, der 8. Jan. 1901 zusammentrat und 3. Mai geschlossen wurde, hatte wiederum über eine Kanalvorlage zu beraten, in der gemäß der Zentrumsforderung von 1899 als Gegengewicht zum Rhein-Elbekanal zugunsten des Ostens ein Schiffahrtsweg Berlin-Stettin, Verbesserungen am Laufe der Warthe und untern Oder, überhaupt Schutz- und Meliorationsmaßnahmen vorgesehen waren. Aber ohne daß die Regierung die höchstwahrscheinlich gewordene Ablehnung der Vorlage abwartete, schloß sie den Landtag. Unmittelbar danach ging eine Veränderung in den Ministerien vor sich: der Finanzminister v. Miquel (seit 1890), der Handelsminister Brefeld (seit 1896) und der Landwirtschaftsminister Ernst Freiherr von Hammerstein-Loxten (seit 1894) traten zurück; Finanzminister wurde der bisherige Minister des Innern v. Rheinbaben (s. d.), Handelsminister der bisherige nationalliberale Abgeordnete Möller (s. d. 4, bis 1905), Landwirtschaftsminister der bisherige Staatssekretär des Reichspostamts v. Podbielski (s. d. 2, bis 1906), während Hans Freiherr von Hammerstein-Loxten (s. d. 2, gest. 20. März 1905) das Ministerium des Innern übernahm und der Minister der öffentlichen Arbeiten Karl v. Thielen (seit 1891) trotz seines Mißerfolgs hinsichtlich des Kanals im Amte verblieb; er wurde erst im Juni 1902 durch Generalmajor a. D. Budde (s. d. 2, gest. 28. April 1906) ersetzt. Der Kriegsminister v. Goßler (s. d. 2, seit 1896) erhielt 1903 in Generalleutnant v. Einem (s. d.) einen Nachfolger. Der Landtag von 1902, der vom 8. Jan. bis 18. Juni versammelt war, hatte sich vor allem mit der »Polenvorlage« zu beschäftigen, da die Regierung zur Stärkung des Deutschtums in den Ostmarken 350 Mill. Mk. verlangte, um in Westpreußen und Posen Güter zur Verwandlung in Domänen oder Grundstücke zur Anlage von Forsten anzukaufen, und sie auch bewilligt erhielt. Der Gesetzentwurf über die Befähigung für den höhern Verwaltungsdienst wurde in der Kommission begraben, aber das Fleischbeschaugesetz fand Zustimmung. 1903 hatte der Landtag, der vom 13. Jan. bis 1. Mai tagte, größere Vorlagen nicht zu erledigen. Zum ersten Vizepräsidenten wurde an Stelle von v. Heereman Zuydwyk (s. d.) der Abgeordnete Porsch (s. d.) gewählt. Die Ausfüllung und Verwendung des 1897 geschaffenen, zur Verfügung des Finanzministers stehenden Dispositionsfonds wurde anderweit geregelt, 5 Mill. zur Förderung des Baues von Kleinbahnen bewilligt[332] und sechs Privatbahnen angekauft, so daß sich jetzt von sämtlichen Hauptbahnlinien nur noch die Bahn Breslau-Warschau in Privatbesitz befindet. Die Abkürzung der Landestrauer auf vier Tage fand Billigung. Zu den seit 1895 bereits aufgewandten 32 Mill. zur Verbesserung der Wohnungsverhältnisse der Arbeiter in staatlichen Betrieben wurden weitere 12 Mill. bereit gestellt. Die in den Ostmarken tätigen mittlern und untern Beamten erhielten die sogen. »Ostmarkenzulage« bewilligt, und zur Stärkung des Deutschtums im Osten wurde der Bau eines königlichen Residenzschlosses in Posen grundsätzlich beschlossen; die erste Baurate von 1 Mill. ward 1904 bewilligt, die Gesamtkosten sind auf 5,350,000 Mk. festgesetzt. Im Oktober 1903 wurde in Posen die neuerrichtete Akademie eröffnet, die einen geistigen Mittelpunkt für alle Bestrebungen zugunsten des Deutschtums in den Ostmarken darstellen soll. Bezüglich der Vorbereitung für den höhern Verwaltungsdienst ward auch diesmal eine Einigung nicht erzielt. Im Juli 1903 verursachte Hochwasser namentlich in Brandenburg und Schlesien große Überschwemmungen; in letzterer Provinz wurde der Schaden auf 21,5 Mill. Mk. berechnet.
Die Ende Oktober und Anfang November 1903 abgehaltenen Wahlen für die 20. Legislaturperiode (190308) brachten eine wesentliche Änderung in der Zusammensetzung des Abgeordnetenhauses nicht: es wurden 147 Konservative, 60 Freikonservative, 97 Zentrumskandidaten, 78 Nationalliberale, 33 Freisinnige beider Richtungen, 13 Polen und 5 Wilde gewählt. Die erste Tagung nahm ihren Anfang 16. Jan. 1904, aber 4. Juli erfolgte statt des Sessionsschlusses nur die Vertagung, und. schon 25. Okt. wurden die Verhandlungen wieder aufgenommen, die erst 1. Juli 1905 durch den Schluß der Session ihr Ende fanden. Das Grundkapital der Seehandlung (s. d.), nunmehr »Königliche Seehandlung (Preußische Staatsbank«) genannt, wurde von 34 auf 100 Mill. Mk. erhöht. Den wesentlichsten Beratungsgegenstand bildeten die erst nach Ostern 1904 vorgelegten »Wasserwirtschaftlichen Vorlagen«, zu denen die Regierung die 1901 unerledigt gebliebene Kanalvorlage erweitert hatte, und deren Dringlichkeit die Vertagung des Landtags veranlaßte. Es handelte sich um fünf getrennte Vorlagen, die außer Herstellung und Ausbau von Wasserstraßen (der Mittellandkanal wurde auf die Strecke Rhein-Hannover beschränkt) die Verbesserung der Vorflut an Oder, Havel und Spree, Maßnahmen gegen die Hochwassergefahr an der Havel, Regelung der Hochwasser-, Deich- und Vorflutverhältnisse an der obern und mittlern Oder und die Freihaltung des Überschwemmungsgebietes der Wasserläufe betrafen. Außer Betracht ließen die Vorlagen nur den masurischen Kanal und die Kanalisierung von Saar, Mosel und Lahn. Die Kosten waren auf 280,5 Mill. berechnet, wovon ein Drittel von den Interessenten (Provinzen) aufgebracht werden sollte; letztern waren auch die Unterhaltungskosten zugedacht, soweit sie nicht durch Schiffahrtsabgaben aufgebracht werden würden. Die zur Beratung sämtlicher Vorlagen im Mai 1904 eingesetzte Kommission ließ das Ergebnis ihrer Beratungen 3. Jan. 1905 durch am Zehnhoff mitteilen, und die Vorlagen wurden ohne wesentliche Änderungen zum Gesetz erhoben, nachdem noch seitens des Abgeordnetenhauses eine Vorlage über Kanalisierung der Saar, Mosel und Lahn verlangt worden war, und zwar so früh, daß der Betrieb auf den drei Flußkanälen gleichzeitig mit dem auf dem Kanal vom Rhein zur Weser eröffnet werden kann. Entsprechend einer Anregung des Landtags von 1903 legte die Regierung 1904 einen Gesetzentwurf vor, der die gegen den Vertrieb von Losen auswärtiger Lotterien gerichteten Strafbestimmungen verschärfte, und im Anschluß daran wurde mit den beiden Mecklenburg und Lübeck vereinbart, daß die bisherigen Staatslotterien von Mecklenburg-Schwerin und Lübeck aufgehoben werden sollten; die drei Staaten erhielten Entschädigungen von 400,000 Mk. (Mecklenburg-Schwerin), 67,000 Mk. (Mecklenburg-Strelitz) und 200,000 Mk. (Lübeck) jährlich und gestatteten dafür vom 1. Juli 1905 ab ausschließlich den Vertrieb preußischer Lose in ihrem Gebiet. 1906 hat auch die »Mitteldeutsche Staatslotterie« (s. Lotterie, S. 733) ihren Betrieb eingestellt, und zwar gegen eine Jahresrente (bis 19 lu) von höchstens 1,630,000 Mk.; Reuß j. L. läßt (bis 1915) gegen eine Jahresrente von 65,000 Mk. ausschließlich preußische Lose zu. Auch mit Oldenburg wurde 1906 ein Lotterievertrag geschlossen. Zur Erweiterung des Bremerhavener Hafengebietes wurden 597 Hektar preußischen Gebietes an Bremen abgetreten; Lübeck gegenüber fand ein Gebietsaustausch von 22 Hektar statt, damit künftig die Landesgrenze mit der des Grundeigentums der Verwaltung des Elbe-Travekanals zusammenfällt. Die viel erörterte Frage einer deutschen Eisenbahngemeinschaft oder wenigstens einer deutschen Eisenbahnbetriebsmittelgemeinschaft wurde seitens der seit 1897 bestehenden preußisch-hessischen Eisenbahngemeinschaft, deren Reinüberschuß im Jahre 1902/03: 352 Mill. betrug, gefördert, und durch Verhandlungen mit den übrigen Staaten (Bayern, Sachsen, Württemberg, Baden, Mecklenburg, Oldenburg) sind die Bedingungen, unter denen ein Abschluß erfolgen kann, so weit geklärt, daß nur die Entschließungen der betreffenden Staaten noch ausstehen. Die Frage einer Tarifreform dagegen ist bis nach dem Abschluß der Gemeinschaft, welchen Umfang diese auch haben möge, vertagt worden. Behufs Beteiligung des preußischen Staates an der Kohlenbergwerksgesellschaft »Hibernia« wurden 1905: 69,5 Mill. Mk. bewilligt, nachdem über die Gründe, die für und wider diese Maßnahme sprachen, und über die Art des Aufkaufs der Aktien viel hin und her geredet worden war. Aus Anlaß des großen Ausstandes unter den Arbeitern im Ruhrkohlenrevier (im Januar 1905) wurde 26. Mai eine Änderung des Bergarbeitergesetzes beschlossen und dadurch das »Nullen« (s. d.) untersagt, die Stellung von Vertrauensmännern seitens der Arbeiter zur Begutachtung unreiner Förderung gestattet, die Höhe der Geldstrafen beschränkt, dem Oberbergamt ein Gesundheitsbeirat mit zwei Arbeitervertretern zur Seite gestellt sowie für jedes Bergwerk die Bildung eines ständigen Arbeiterausschusses mit bestimmten Befugnissen ungeordnet. Die Vorlage jedoch, die den Bergwerksbesitzer bei nachgewiesener Rentabilität der Zeche zur Fortsetzung des Betriebs zwingen wollte, zog die Regierung schließlich zurück. Am 1. April 1905 trat das neugegründete »Landesgewerbeamt« in Tätigkeit, dem namentlich die Förderung des gewerblichen Unterrichtswesens obliegt. Mit 1. Okt. 1905 wurde in Ostpreußen eine neue Regierung errichtet, und zwar mit dem Sitze in Allenstein, so daß die Provinz nunmehr aus den Regierungsbezirken Königsberg, Gumbinnen und Allenstein besteht. An Stelle des verstorbenen Ministers des Innern Freiherrn v. Hammerstein-Loxten (s. d. 2, seit 1901) trat im März 1905 der bisherige Oberpräsident der Provinz Brandenburg, Theobald v. Bethmann-Hollweg (s. d. 2); an Stelle des im Oktober 1905 zurücktretenden[333] Handelsministers v. Möller (seit 1901) wurde der bisherige Oberpräsident von Westpreußen, Delbrück (s. d. 5), ernannt. Ehe noch 5. Dez. der Landtag wieder zusammentrat, erhielt der Justizminister Schönstedt (seit 1894) in dem bisherigen Oberlandesgerichtspräsidenten von Breslau, Beseler, der verstorbene Budde im Mai 1906 in Breitenbach einen Nachfolger. Podbielskis Nachfolger als Landwirtschaftsminister wurde im November 1906 Bernd v. Arnim-Kriewen.
Die Hauptaufgabe des Landtags, der bis 7. Juli 1906 versammelt blieb, bildete die Verabschiedung des endlich eingebrachten Volksschulgesetzes; dadurch wurden vor allem die Unterhaltungspflicht der Schulen und die den Gemeinden dafür zu gewährenden Staatsunterstützungen gesetzlich festgelegt, der konfessionelle Charakter der Volksschule als Regel bestimmt, zugleich aber die Aufrechterhaltung der bestehenden Simultanschulen und unter gewissen Voraussetzungen die Gründung neuer gewährleistet. Ferner wurde das Gesetz über die Zusammensetzung des Abgeordnetenhauses dahin geändert, daß sich durch Teilung der übermäßig großen Wahlbezirke die Zahl der Abgeordneten um 10 (auf 443) vermehrte, und das Wahlverfahren vereinfacht, der Wohnungsgeldzuschuß für die Unterbeamten erhöht, das Gesetz über die Knappschaftskassen neu gestaltet, den zwischen P., Bayern, Baden und Hessen abgeschlossenen Staatsverträgen, betreffend die Mainkanalisierung, die Zustimmung erteilt und das Kalisalzwerk Hercynia für 30 Mill. Mk. für den Staat erworben.
[Gesamtdarstellungen.] v. Ranke, Zwölf Bücher preußischer Geschichte (bis 1745; 2. Aufl., Leipz. 1878, 5 Bde.); Droysen, Geschichte der preußischen Politik (bis 1756; Berl. u. Leipz. 185585, 5 Abtlgn. in 14 Bdn.); v. Cosel, Geschichte des preußischen Staats und Volkes (Bresl. 186976, 8 Bde.); Prutz, Preußische Geschichte (Stuttg. 190002, 4 Bde.); die Handbücher von F. Voigt (3. Aufl., Berl. 1878), L. Hahn (24. Aufl., das. 1895), Pierson (9. Aufl., das. 1906, 2 Bde.), Berner (illustriert, 2. Aufl., Bonn 1896) und Evers (Berl. 1892); Lavisse, Études sur l'histoire de Prusse (2. Aufl., Par. 1885); K. Kletke, Quellenkunde der Geschichte des preußischen Staats (Berl. 185861, 2 Bde.); Zurbonsen, Quellenbuch zur brandenburg-preußischen Geschichte (das. 1889); »Zeitschrift für preußische Geschichte und Landeskunde« (das. 186483); »Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte« (Leipz. 1888 ff.). Karten: Brecher, Historische Wandkarte von P. (4. Aufl., Berl. 1894, 9 Blätter); Schade, Atlas zur Geschichte des preußischen Staates (2. Aufl., Glogau 1881, 12 Blätter); Übersichtskarten von Kiepert, Fix, Freudenfeldt, Brecher u. a.
[Spezielles.] Lancizolle, Geschichte der Bildung des preußischen Staats (Berl. 1828); Riedel, Geschichte des preußischen Königshauses (das. 1861, 2 Bde.); Fix, Territorialgeschichte des preußischen Staats (3. Aufl., das. 1884; zwei Beihefte 1886 u. 1888); A. Waddington, L'acquisition de la couronne royale de Prusse par les Hohenzollern (Par. 1888); Beheim-Schwarzbach, Hohenzollernsche Kolonisationen (Leipz. 1874); Sommerlad, Die soziale Wirksamkeit der Hohenzollern (das. 1899); »Urkundliche Beiträge und Forschungen zur Geschichte des preußischen Heeres« (Berl. 1901 ff.); v. Schrötter, Die brandenburgisch-preußische Heeresverfassung unter dem Großen Kurfürsten (Leipz. 1892); Bräuner, Geschichte der preußischen Landwehr (Berl. 1863); Isaacsohn, Geschichte des preußischen Beamtentums (Bd. 13, bis zu Friedrich d. Gr. reichend, das. 187484); Schmollers Arbeiten über die Wirtschafts- und Verwaltungsgeschichte Preußens (im »Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft«); Stephan, Geschichte der preußischen Post (Berl. 1859); Stölzel, Brandenburg-Preußens Rechtsverwaltung und Rechtsverfassung (das. 1888, 2 Bde.); Schück, Brandenburg-Preußens Kolonialpolitik 16471721 (Leipz. 1889, 2 Bde.); Mamroth, Geschichte der preußischen Staatsbesteuerung im 19. Jahrhundert (Bd. 1: 180616, das. 1890); Zimmermann, Geschichte der preußisch-deutschen Handelspolitik (Oldenb. 1892); Riedel, Der brandenburgisch-preußische Staatshaushalt in den beiden letzten Jahrhunderten (Berl. 1866); Bornhak, Preußische Staats- und Rechtsgeschichte (das. 1903). Von Wichtigkeit sind die »Publikationen aus den königlich-preußischen Staatsarchiven« (Leipz. 18789., bisher 79 Bde.), darunter: Lehmann, P. und die katholische Kirche seit 1640 (187894, 7 Bde.), Stadelmann, Preußens Könige in ihrer Tätigkeit für die Landeskultur (188087, 4 Bde., bis 1807 reichend), Bailleu, P. und Frankreich von 17951807 (188187, 2 Bde.); vgl. ferner Schuster und Wagner, Die Jugend und Erziehung der Kurfürsten von Brandenburg und Könige von P. (in den Monumenta Germaniae Paedagogica, Bd. 34 ff., Berl. 1906 ff.) u. a.
[Einzelne Perioden.] Die unter »Ostpreußen«, S. 232, angegebenen Werke über die ältere Geschichte des Herzogtums P.; »Acta borussica, Denkmäler der preußischen Staatsverwaltung im 18. Jahrhundert« (Berl. 1892 ff., bisher 8 Bde.); Manso, Geschichte des preußischen Staats 17631815 (3. Ausg., Leipz. 1839, 3 Bde.); Philippson, Geschichte des preußischen Staatswesens vom Tode Friedrichs d. Gr. bis zu den Freiheitskriegen (das. 188082, 2 Bde., nur bis 1797); Reimann, Neuere Geschichte des preußischen Staats, 17631815 (Gotha 188288, Bd. 1 u. 2, nur bis 1786); Förster, Neuere und neueste preußische Geschichte (5. Aufl., Berl. 186670, 5 Bde.); W. A. Schmidt, Geschichte der preußisch-deutschen Unionsbestrebungen (das. 1851) und Preußens deutsche Politik (3. Aufl., Leipz. 1867); v. Treitschke, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert (Bd. 15, bis 1848 reichend, das. 187994); »Die innere Politik der preußischen Regierung 18621866« (das. 1866, anonym); L. Hahn, Zwei Jahre preußisch-deutscher Politik 18661867 (das. 1868); Wiermann, Geschichte des Kulturkampfes (2. Aufl., das. 1886); Oncken, Das Zeitalter des Kaisers Wilhelm (Berl. 189091, 2 Bde.). Die Berichte über die Verhandlungen des preußischen Landtags gab 18811902 das Zentralbureau der Nationalliberalen Partei heraus; seit 1904 erscheinen solche selbständig. Im besondern ist die Literatur unter den einzelnen Regenten und hervorragenden Personen zu vergleichen.
Als Verfasser von Denkwürdigkeiten, die als Quelle für die entsprechende Periode in Betracht kommen, oder wegen andrer Veröffentlichungen (besonders Briefen) aus ihrem Nachlaß sind folgende namentlich zu nennen. Für das 17. und 18. Jahrhundert: Chr. Wilh. v. Dohm, Friedrich und Christoph v. Dohna, Prinz Ferdinand von Braunschweig, H. A. Freiherr de la Motte-Fouqué, Friedrich d. Gr., J. E. Graf v. Görtz, Gotskowski, F. W. v. Grumbkow, Prinz Heinrich von Preußen, Feldmarschall Graf v. Kalckreuth, Großherzog Karl August von Sachsen- [334] Weimar, Freiherr v. Pöllnitz. Für das Zeitalter der Befreiungskriege: Graf Christ. Günter v. Bernstorff, Fürst Blücher, Leopold v. Boyen, v. Clausewitz, Wilh. Dorow, Ernst Freiherr v. Gagern, Fürst von Hardenberg, Graf W. Henckel v. Donnersmarck, K. W. v. Grolman, Chr. v. Massenbach, General von der Marwitz, Generalfeldmarschall v. Müffling, Scharnhorst, H. Th. v. Schön, F. A. v. Stägemann, Freiherr vom Stein. Für das Zeitalter 181566: Gustav v. Diest, Robert Dohme, Arnold Duckwitz, Herzog Ernst II. von Sachsen-Koburg-Gotha, Ernsthausen, Graf F. A. v. Eulenburg, E. F. v. Fransecky, Karl v. François, Prinz Georg von Preußen, Leopold und Ernst Ludwig v. Gerlach, General Julius v. Hartmann, Fürst Chlodwig von Hohenlohe, Prinz Kraft von Hohenlohe-Ingelfingen, Bischof v. Ketteler, Robert v. Keudell, Generalfeldmarschall Edwin v. Manteuffel, General v. Natzmer, General v. Radowitz, Graf v. Usedom. Für das Zeitalter Wilhelms I.: Heinrich Abeken, Theodor v. Bernhardi, Fürst Bismarck, Graf L. v. Blumenthal, Rudolf Friedenthal, General Freiherr v. Loë, Minister v. Mittnacht, Joh. v. Miquel, Graf v. Moltke, J. v. Örtzen, Graf A. v. Roon, A. v. Stosch, Freiherr v. Stumm, Christoph v. Tiedemann, General Verdy du Vernois.
Brockhaus-1809: Das Königreich Preußen · Das Königreich Preußen
Brockhaus-1911: Preußen [3] · Preußen [2] · Preußen
DamenConvLex-1834: Friedrich II., König von Preußen · Luise, Auguste Wilhelmine Amalia, Königin von Preußen · Elisabeth Ludovika, Kronprinzessin von Preußen · Auguste Friederike Christine, Prinzessin v. Preußen · Elisabeth Christine, Königin von Preußen
Meyers-1905: Prinz von Preußen · Preußen [2] · Preußen [1]
Pierer-1857: Preußen [2] · Preußen [3] · Preußen [1] · Alt-Preußen · Ost-Preußen
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